Argentinien/BR/E/F/NL 2017 · 114 min. · FSK: ab 12 Regie: Lucrecia Martel Drehbuch: Lucrecia Martel Kamera: Rui Poças Darsteller: Daniel Giménez Cacho, Lola Dueñas, Matheus Nachtergaele, Juan Minujín, Nahuel Cano u.a. |
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Subtil sinnliche Verschiebungen und Verrückungen der Wahrnehmung |
Eben noch feierte Zama unter Anwesenheit der Regisseurin Lucrecia Martel die deutsche Premiere beim Münchner Filmfest und bildete dort auch den Anlass für eine Werkschau der bisherigen Lang- und Kurzfilme der argentinischen Regisseurin. Nun, eine Woche später, startet Zama dank des enthusiastischen Engagements des kleinen Grandfilm-Verleihs in deutschen Kinos.
Fast zehn Jahre hatte es gedauert, ehe Lucrecia Martel nach dem Abschluss ihrer Salta-Trilogie (die Filme La Ciénaga – Morast, La niña santa – Das heilige Mädchen und La Mujer sin Cabeza spielten alle in der nordwestargentinischen Heimat-Region der Regisseurin) ihren vierten Langfilm fertigstellen konnte.
Zama stellt einen zweifachen Schritt in die Vergangenheit dar: Es handelt sich um die Verfilmung eines Romans mit gleichem Titel aus dem Jahr 1956, eines Romans des lange Zeit als Geheimtipp gehandelten argentinischen Autors Antonio di Benedetti (1922-1986).
Der Roman wiederum spielt im späten 18. Jahrhundert, in einem Teil des spanischen Kolonialreichs, dem Vizekönigtum Río de la Plata, dem Gebiet, aus dem die heutigen Staaten Bolivien, Paraguay, Uruguay und Argentinien hervorgegangen sind.
Lucrecia Martel faszinierte an diesem Roman, der in einer spröden und gedrängten, geradezu klirrenden Prosa verfasst ist, die darin entworfene Situation eines Verwaltungsbeamten der spanischen Krone: tief im Inneren des Kontinents, im heutigen Paraguay, einem Gebiet, in dem die koloniale Kontrolle auszufransen beginnt, harrt Don Diego de Zama, der den Ruf eines brillanten Rechtsgelehrten genießt, auf einem Posten aus, der als Zwischenstation gedacht war.
Das vergebliche Warten auf Versetzung, die ihn wieder zu Frau und Kind bringen soll, lässt jedoch langsam die Erkenntnis reifen, dass er sich nun in einer Stagnationsphase seiner Karriere befindet, die ihm einst vielversprechende Aussichten verheißen hat.
So steht Zama zu Beginn des Films am Ufer eines mächtig dahinströmenden Flusses und blickt auf das Wasser, als wären es die Weiten des Meeres, die ihm noch ungeahnte Perspektiven eröffnen könnten.
Eine trügerische Wahrnehmung, die von einer unmerklich verschobenen Sehweise zeugt und die Methode hat im Kino Lucrecia Martels. Zamas Situation zersetzt sich im Verlaufe des Films in intensive, sinnlich erfahrbare Einzelmomente, die sich nicht mehr zum kontinuierlichen Ganzen einer gelingenden Biografie fügen wollen. Es sind zermürbende Episoden, in die sein Leben zerfällt: ein ehrenrühriger Streit mit einem anderen Beamten, vergebliche Mühen um eine standesgemäße Liebesaffäre, ausbleibende Besoldung, der uneheliche Sohn mit einer indigenen Frau, die immer ärmlicher werdenden Behausungen, in die er umziehen muss. Mit jeder Einstellung scheint Zama immer weiter abzurutschen in eine zwielichtige Derangiertheit.
Überhaupt ist das Verschobene und das Derangierte eines der Hauptmerkmale, mit dem Martel das Genre des period picture versieht: Vieles von den genregemäßen Ausstattungs- und Kostümfilmelementen wirkt auf eine symptomatische Weise deplatziert und irgendwie ramponiert. Das trifft auch auf die süffisante, fast sarkastische Ironie zu, mit der Martel immer wieder die easy-listening-artige Musik der Indios Tabajaras einsetzt, eines in den fünfziger und sechziger Jahren in den USA erfolgreichen brasilianischen Gitarristenduos.
Besonders raffiniert arbeitet Martel die subtilen sinnlichen Verschiebungen und Verrückungen der Wahrnehmung, die Zama heimsuchen, auf der Tonebene heraus, die von Guido Berenblum gestaltet wird. Hier stößt das Hören oft in Dimensionen des Halluzinierens vor.
Das gilt vor allem für den infernalischen Trip, zu dem Zama im letzten Drittel des Films aufbricht. Aus Trotz schließt er sich einem militärischen Kommando der spanischen Krone an, das in der Wildnis des Gran Chaco den marodierenden Banditen Vicuña Porto aufspüren und zur Strecke bringen möchte. Dass die Truppe selbst irgendwann versprengten Marodeuren gleicht, ist eine weitere der Grenzverwischungen, mit denen Martel in Zonen der Ununterscheidbarkeit vordringt, ebenso die Begegnungen mit Indigenen, bei denen sich kriegerische Scharmützel und rituelle Festlichkeiten nicht mehr auseinanderhalten lassen. Inmitten großartiger Landschaftstableaus endet Zama in einem Zustand weit geöffneter Pforten der Wahrnehmung, in der delirierende Halluzination und grausame Wirklichkeit zutiefst verstörend verschwimmen.
Das Wasser ist trübe und fließt zäh, am Ufer sammelt sich brauner Schlick aus Holz und Pflanzenresten, mitunter treibt eine Tierleiche vorbei. Man hört Grillen zirpen und spielende Kinder. Hier steht Zama, trotz der Tropenhitze in korrekter Uniform, und wartet. Auf das Boot, das einmal pro Woche neue Nachrichten bringt, manchmal Geld und immer die Hoffnung auf den erlösenden Brief. Schon das allererste Bild des Films zeigt ihn in die Ferne blickend, wo sich der Fluss im Diffusen verliert. Dann sieht er eine Gruppe Mulattinnen. Nackt, sie baden im Fluss. Er lauscht ihnen heimlich, als sie ihn bemerken, hört er sie lachen und bemüht sich, wie ertappt, den Ort schnell zu verlassen. Als ihm eine der Frauen nachläuft, schlägt er sie.
Mit dieser ersten Szene setzt Lucrecia Martel bereits wesentliche Konstanten ihres neuen Films: Das Warten, die Hitze und die Feuchtigkeit, die man hier tatsächlich auf der Leinwand sehen und mit allen Sinnen erfahren kann, und das Verhältnis zwischen den Rassen, den weißen Kolonialherren, den schwarzen Sklaven und den indianischen Ureinwohnern, das von Anziehung und Abstoßung geprägt ist, von Abgrenzung dem Anderen, Fremden gegenüber und der Versuchung zur (nicht nur erotischen) Grenzüberschreitung. Gerade dieses Verhältnis spielt hier eine bedeutende Rolle, aber auf eine sehr dezente Art, weder grell noch folkloristisch.
Zama, die Hauptfigur, ist ein Mann mittleren Alters und hoher Kolonialbeamter des spanischen Königs in einer Provinzstadt des Weltreichs um 1790. Er ist hochgeachtet: »El Doctor Don Diego de Zama. El enérgico. El executivo. El pacificador de indios. El que hizo justicia sin emplear la espada. Ni sorpresas ni riesgos. Zama el corregidor, un corregidor de espíritu justiciero. Un hombre de derecho. Un juez. Un hombre sin miedo.«
»Doctor Don Diego de Zama. Der Energische. Der
Anführer. Der Befrieder der Indianer. Der, der Gerechtigkeit übt, ohne das Schwert einzusetzen. Weder Überraschungen, noch Risiken. Der Korrektor. Ein Korrektor im Geist der Gerechtigkeit. Ein Mann des Rechts. Ein Richter. Ein Mann ohne Furcht.« So klingen die Lobeshymnen vor Gericht. Aber Zama selbst hasst diesen Ort und verachtet die, die ihn preisen.
Zama wartet. Auf das nächste Schiff, auf eine Botschaft, von der er doch nicht weiß, ob es überhaupt kommen wird und wann. Seit Jahren wartet er auf seine längst versprochene Versetzung. Er ist wütend, frustriert. Seine Familie hat er seit Jahren nicht gesehen. Seine einzigen Gesprächspartner sind die geschmacklosen Kleinbürger der Provinzstadt, aus der einmal, in ferner Zukunft, Paraguays Hauptstadt Asunción werden wird (und dass die Stadt nach Aufbruch und Himmelfahrt benannt, ist
vielleicht auch nicht zufällig gewählt), und sein Sekretär, der heimlich schriftstellerische Ambitionen pflegt – zu einer Zeit, als das Schreiben von Büchern ohne Genehmigung verboten war. Der breite Fluss vor der Stadt ist wie eine Aufforderung zur Reise, aber auch wie das Ende jeder Sehnsucht, eine träge, zähe Grenze, deren Leere wie eine Bestätigung wirkt für die Leere von Zamas Dasein.
Dieser Zustand erinnert an Motive von Kafka und Beckett. Tatsächlich geht Zama auf eine Romanvorlage des bei uns vollkommen unbekannten Antonio Di Benedetto zurück. Das Buch wurde vor 50 Jahren einmal ins Deutsche übersetzt und ist längst vergriffen.
Die Regisseurin inszeniert die Geschichte aber nicht in erster Linie als existentialistische Parabel. Sondern sie malt sie in allen Farben prachtvoller Dekadenz aus: Die durch das Klima und zu häufigen Gebrauch zerschlissenen Stoffe der spätbarocken Kleidung, die schmutzig gewordenen Perücken, die Nachlässigkeit allen Verhaltens, aller sozialen Ordnung an diesem Ort des Stillstands, der dem Zustand des seit Jahrhunderten sachte darniedersinkenden spanischen Imperiums
entspricht. Die Gerichtshöfe, die Sklavenmärkte, die Bordelle, die Empfänge. Korruption und Willkür allerorten.
Irgendwann aber beendet Zama seinen Wartezustand und bricht auf: In den Dschungel, um eine »Mission« anzuführen, bei der der notorische Verbrecher Vicuña Porto gefangen werden soll. Und da wandelt sich dieser Film noch ein weiteres Mal komplett.
Die Hauptfigur Zama ist einer, der nirgendwo hingehört, der zwischen allen steht: Ein Kreole, also ein in Lateinamerika geborener Weißer – kein Europäer, kein Indianer. Aus dieser Schicht erwuchs wenige Jahre später die Gruppe von Progressiven und Revolutionären, die sich gegen das spanische Kolonialreich erhob und es im Handstreich hinwegfegte – so wie Zama mit einem Reisigbündel ständig den Staub an seinen Stiefeln. Einstweilen hat er keinen Platz.
Zama ist der vierte Spielfilm von Martel, die 2001 mit La Ciénaga – Morast auf der Berlinale debütierte und sich seitdem für ihre Filme (La niña santa – Das heilige Mädchen, La Mujer sin Cabeza) immer viel Zeit lässt, oder lassen muss. Zama ist ihr erster historischer Film – eine Kolonialgeschichte und argentinische Version von Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes, oder auch von Coppolas Apocalypse Now. Wie dort, so ist auch hier immer ein Schuss Absurdismus präsent.
Dies ist ein Film des Atmosphärischen. Martel zeigt in bestechend inszenierten, poetischen Bildern die utopisch-spirituelle Seite des Welteroberungsdrangs: Wie der Zustand des Wartens, Nichtstuns, der Langeweile zu Aufbrüchen führt, die in sich genauso sinnlos sind, die Delirium und Gewalt vereinen, aber wenigstens
Bewegung bringen.