Zwei Herren im Anzug

Deutschland 2018 · 139 min. · FSK: ab 12
Regie: Josef Bierbichler
Drehbuch:
Kamera: Tom Fährmann
Darsteller: Josef Bierbichler, Martina Gedeck, Simon Donatz, Irm Hermann, Sarah Camp u.a.
Im Kleinen das Große perfekt erzählt

Geteiltes Leben, zerteilte Wahrnehmung

»Allmäh­lich kam Bewegung in des Seewirts Hirn. Sein Denken ordnete sich. Im Kopf wurde es langsam hell. Aus jahre­langem dumpfen Grübeln über Gedanken, die kamen und wieder entglitten, kaum dass er sich ihrer ange­nommen hatte, schien jetzt plötzlich ein Entkommen möglich. [...] Und der Seewirt begriff, dass Kunst Leben ist. Und Leben Geschichte. Und Geschichte Mensch­heits­ge­schichte.« – Josef Bier­bichler, Mittel­reich

Viel­leicht war es wirklich das Beste, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Denn sieht man sich die karge Außen­ar­chi­tektur mit ihren frugalen Innereien in Anna-Sophie Mahlers Insze­nie­rung von Josef Bier­bich­lers »Mittel­reich« an oder das farblich durchaus ambi­tio­nierte Gedan­ken­spiel des Remixes von Anta Helena Recke kann man Bier­bich­lers Entschei­dung verstehen, bei dem mehrfach an ihn heran­ge­tra­genen Wunsch einer Verfil­mung seines Romans, es lieber selbst zu machen. Also Drehbuch, Regie und auch den Haupt­dar­steller mit seiner eigenen Person zu besetzen. Und wie es für diese auto­bio­gra­fisch ange­färbte Drei-Gene­ra­tionen-Geschichte einer Wirts- und Bauern­fa­milie am Starn­berger See passender gar nicht sein könnte: den eigenen Sohn Simon Donatz als Sohn und Alter Ego in Jugend­jahren im Film gleich mit ins Boot zu holen.

Diese Besetzung ist umso wichtiger, als Bier­bichler über sie auch seinen Film struk­tu­riert. Denn anders als sein Roman, der in einer wuchtigen Sprache und prallen Bildern chro­no­lo­gisch die Verän­de­rungen eines ober­baye­ri­schen Soziotops seit dem 1. Weltkrieg erzählt, und dabei immer wieder auch über das Familiäre hinaus­blickt, führt Bier­bichler in seiner filmi­schen Umsetzung eine »familiäre« Rahmen­er­zäh­lung ein, die es so im Roman nicht gibt: 1984, nach dem Tod der Mutter Theres (Martina Gedeck) erinnern sich der Seewirt Pankraz und sein von ihm entfrem­deter Sohn Semi ihrer beider Leben, zuerst stockend und brummelig aus Pankraz' Perspek­tive, doch mit der Geburt und einset­zenden Erin­ne­rungen von Semi wird der »Erin­ne­rungs-Monolog« zunehmend zu einem »Erin­ne­rungs-Diskurs«, durch den deutlich wird, dass ein geteiltes Leben nicht unbedingt mit geteilter Wahr­neh­mung und Wahrheit gleich­zu­setzen ist.

Durch diesen »Scheu­klappen«-Kunst­griff reduziert Bier­bichler die Fülle seines Romans auf kino­kom­pa­tible 139 Minuten und recht­fer­tigt damit auch die Titelän­de­rung in Zwei Herren im Anzug – zwar wird aus dem ethno­gra­fi­schen Reichtum der lite­ra­ri­schen Vorlage üppig geschöpft, gelingt es Bier­bichler auch im Film, den Facet­ten­reichtum von fami­liären, gene­ra­ti­ons­über­grei­fenden Trau­ma­ti­sie­rungen gnadenlos aufzu­zeigen, den Schatten verlo­rener Träume und scheinbar auswegsloser Posi­tio­nie­rungen in der NS-Zeit nach­zu­jagen, den Sehn­suchtsort »Bayern« wunder­voll zu dekon­stru­ieren und den Fluch der Kirche und eines stupiden Glaubens in bester Achtern­busch-Manier zu demas­kieren. Doch im gleichen Atemzug möchte man als Zuschauer einfach noch mehr: Mehr von diesem großar­tigen Ensemble sehen, das nicht nur durch die »Inten­dan­ten­gast­spiele« von Johan Simons und Thomas Oster­meier immer wieder über­rascht. Möchte man mehr als dieses dann und wann auffla­ckernde Coitus-Inter­ruptus-Gefühl, möchte man einfach noch mehr Details dieser Geschichte sehen, die immer wieder im Kleinen das Große so perfekt erzählt. Denn mal ganz ehrlich: eine ganze TV-Serie lang Bier­bichler dabei zuzusehen, wie er mit seinem Bier­wärmer sein kaltes Bier zu richtiger Tempe­ratur rührt und muffige Vergan­gen­heits­blasen zum Platzen bringt und damit irgendwie auch die Gegenwart ins Wanken gerät, wäre sicher die beste aller Welten gewesen.

Und denkt man weiter, jetzt selbst mit dem Bier­wärmer am Werk und immer gran­te­liger daher­kom­mend, denkt man daran, was Bier­bichler an reichen Details alles wegge­lassen hat, beginnt sich der Wurm im Kopf erst recht zu drehen und die runde Zufrie­den­heit mehr und mehr anzu­knab­bern. Man halte sich nur die im Buch so derb-salopp abge­han­delte Flücht­lings­pro­ble­matik der Nach­kriegs­zeit vor Augen, die ein wunder­voll ironi­scher Kommentar zur gegen­wär­tigen Flücht­lings­pro­ble­matik gewesen wäre. Oder die in den 1970er Jahren staatlich veran­lasste Enteig­nung von Seegrund­s­tü­cken durch den baye­ri­schen Staat, um der neu entstan­denen städ­ti­schen »Frei­zeit­ge­sell­schaft« ihr Recht zu gewähr­leisten, sich am Ufer des Starn­berger Sees zu erholen – was für eine treffende Anregung für die heutige Politik wäre das gewesen: endlich wieder einmal auf den Primat der Politik zu fokus­sieren und es der in deutschen Innen­s­tädten nach erschwing­li­chem Wohnraum suchenden Bevöl­ke­rung wieder einmal Recht zu machen!

Nichts davon oder so gut wie nichts im Film – statt­dessen der etwas aufge­setzt wirkende »grie­chi­sche Chor« der zwei Herren im Anzug, ein paar über­flüs­sige Sequenzen magischer Realismus und eine Rahmen­er­zäh­lung, die außer thea­tra­li­scher Redu­zie­rung – und natürlich dem Bier­wärmer – nicht viel zu bieten hat, es sei denn, man liebt die Kürze und ist auch heute noch ein Fan des inzwi­schen legen­dären Plas­tikops, den eigent­li­chen Anfängen des bebil­derten, seriellen Erzählens. Dabei muss Länge ja nicht gleich mit dämo­ni­sierter Seri­en­kultur für verschmähte Klein­bild­schirme gleich­ge­setzt werden, darf es Länge ja auch im Kino geben, so wie etwa das ebenfalls gene­ra­ti­ons­über­grei­fende filmische Groß­pro­jekt von Edgar Reitz, sein viel­leicht über­langer, aber nie zu langer letzten Heimat-Film, die Chronik einer Sehnsucht.

Geschichte als Travestie

Ein Leichen­schmaus am Ufer des Starn­berger Sees, im fern zurück­lie­genden, in der Erin­ne­rung idyl­li­schen, tatsäch­lich aber gar nicht so lustigen Jahr 1984. Die beiden titel­ge­benden Herren im Anzug sind Vater (Josef Bier­bichler) und Sohn (Simon Donatz). Oder sie könnten es sein. Denn viel­leicht handelt es sich bei den Titel­fi­guren auch um ganz andere.

Anläss­lich des Begräb­nisses der Mutter reden sie endlich mitein­ander, allein im Wirtshaus. Alte, seit langem offene Rech­nungen werden hervor­ge­holt und beglichen, und der Vater tut das, was viele Väter der Bundes­re­pu­blik nie taten oder viel zu spät. Er erzählt. Und diese Erzählung ist der Film – ein Histo­ri­en­drama irgendwie, aber ganz nahe, äußerst gegen­wärtig.

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»Mittel­reich«, so hieß vor sieben Jahren das Roman­debüt des Schau­spie­lers und baye­ri­schen Gastwirts Josef Bier­bichler. Es handelt sich um die fast 400 Seiten umfas­sende Chronik einer bäuer­li­chen Gast­wirts­fa­milie, und es war ein erstaun­li­ches Buch: Souverän, in eigen­wil­liger, aber nie aufrei­zend origi­neller Sprache. Im Buch ging es vor allem um den sozialen Wandel eines Milieus und um die Urba­ni­sie­rung der Provinz, als um 1900 die Städter plötzlich am Woche­n­ende »raus zum See« fahren und Reichtum in die kleinen Seege­meinden bringen. Und man kann nur mutmaßen, wieviel persön­lich Erlebtes, wieviel Berichte der Eltern und Groß­el­tern und Dörfler in dieses Buch einge­flossen sind, das ein ganzes Jahr­hun­dert einer Gemeinde am Starn­berger See umspannt, dort, wo Bier­bichler aufge­wachsen ist, und bis heute lebt. Seine Wirt­schaft in Ambach am Starn­berger See ist seit Gene­ra­tionen in Fami­li­en­be­sitz und Schau­platz dieser Fami­li­en­saga aus dem bäuerlich-katho­li­schen Milieu Bayerns.

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Zwei Herren im Anzug ist nun wieder fast ein Debüt, wenn man übersieht, dass Bier­bichler schon einmal, vor 31 Jahren einen Film gedreht hat: Triumph der Gerechten, der heute vergessen ist.
Die Erin­ne­rungs­tour des Vaters geht zwar los mit einem Nahtod­er­lebnis des Acht­jäh­rigen am Tag der Maria Himmel­fahrt im August 1914, seinem persön­li­chen Augus­t­er­lebnis. Der Großvater ist prägnant in seiner stör­ri­schen Weisheit, seinem allen Heraus­for­de­rungen gewach­senen voraus­schau­enden Prag­ma­tismus. Und wenn der im Krieg narrisch gewordene Bruder und Hoferbe dem Jesus in der Kirche den Kopf wegschießt, ist das ein toller Moment des Films.
Dieser Film aber konzen­triert sich in seinem Rückblick auf die Wirt­schafts­wun­der­jahre. Und das ist gut so. »Konrad hieß der neue Adolf«, wie der Erzähler mal behauptet, »und die neue Mark begann nach und nach ein glän­zendes Fett anzu­setzen.« Vor allem das schöne neue Bayern, das vom Armenhaus des Landes zur prospe­rie­renden Idylle wuchs. Der Film zeigt, wie neue Traktoren kommen, Fernseher, Touristen und Besat­zungs­sol­daten, wie die Menschen alle bösen Erin­ne­rungen verdrängen, und sich lieber beim Fasching die Birne zudröhnen. Er zeigt aber auch, wie Flücht­linge kommen, also ehemalige Lager­häft­linge, Kriegs­ge­fan­gene, Ausge­bombte, Heimat­lose, und Vertrie­bene, und das Teilen noch etwas (fast) ganz Selbst­ver­s­tänd­li­ches ist. Man mag sie viel­leicht nicht, aber man rückt zusammen und arran­giert sich.
Die alten Nazis sind noch da, die Priester in der Klos­ter­schule miss­brau­chen, wie schon seit Gene­ra­tionen – es ist ein unan­ge­nehmes, hemmungs­loses, verzwei­felt-lustigstes, radikales, erschre­ckend wahr­haf­tiges Bild.

Pankraz, der Erzähler, hat die Wirt­schaft nur wider Willen über­nommen, er wollte eigent­lich Opern­sänger werden. Er übersteht die Nazi-Zeit, heiratet Theres (Martina Gedeck), wird Vater, fühlt aber zum Sohn eine uner­klär­liche, erschre­ckende Distanz, und muss erleben, wie sein unge­liebter Sohn die neuen Zeiten verkör­pert. Denn der Vater ist »kaputt«. Er hat im Krieg etwas Schreck­li­ches getan, das ihn verfolgt und belastet. Er kann die Schuld­ge­fühle nicht abschüt­teln, aber auch nicht konkre­ti­sieren. Viel­leicht mate­ria­li­sieren sie sich in zwei Männern, die Pankraz während seiner Erzählung immer wieder vor Augen stehen. Sie sind viel­leicht zwei, die er einst ermordete, ermorden musste, wie er es wohl formu­lieren würde. Viel­leicht sind sie auch die Wieder­gänger der schlimmen deutschen Geschichte. Zwei, weil einer dafür nicht reicht. Wieder­gänger, die nicht sterben können und uns erinnern müssen, an jene Vergan­gen­heit, die nicht vergehen will. Sie haben manchmal SA-Uniform und Clown­s­kostüm an, und manchmal zwei Anzüge. Viel­leicht sind sie es, die den Titel geben. Aber wenn das so ist – auf die hätte man gut verzichten können. Das ist der eine, der einzige Schwach­punkt dieses viel zu kurzen Films.

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Das ist die Story. Entschei­dend aber hier ist die Form: Epigonal, gebildet, rau und roh, ein barock über­bor­dender Zita­ten­was­ser­fall – mit Leni Riefen­stahl-Refe­renzen, Wagner-Musik, Bierkampf-Rhetorik, Achtern­busch-Baju­wa­rentum.
Dies ist kein Heimat­film, auch wenn er manchmal den Eindruck erweckt. Dafür ist dies zu sehr ein Film der Brüche. Obwohl er genau weiß, was er tut, und ästhe­tisch höchst konse­quent ist, inter­es­siert sich Josef Bier­bichler für formale Strenge überhaupt nicht. Er will keine Poesie und von der Sanftheit des deutschen Kunst­kinos, seiner politisch-korrekten Schläue will er nichts wissen, weil er alles von ihr weiß. Im feinen Salon des deutschen Gegen­warts­kinos benimmt sich dieser Regisseur daneben, haut den Kunst­fuzzis ins Kontor, und fängt eine kleine Wirts­haus­schlä­gerei an – ein derber Dick­schädel, aber immer sensibel, und fein­sinnig, wo Feinsinn ange­bracht ist.

Und es gibt Momente, wie eine Faschings­feier, die voll­kommen entgleist und zu einem großar­tigen Masken­ball verkommt, bei dem, wie zuletzt bei den Masken­bällen Veit Harlans und Gerhart Polts, alle ihre Masken fallen­lassen. Catrin Striebeck als Hitler – das ist es, von solchen abgrün­digen Augen­bli­cken hat der deutsche Film noch lange nicht genug. Und hier hat der Seehofer Horst auch sein Heimat­mu­seum. Das wahre…