Deutschland 2009 · 95 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Dreher Drehbuch: Michael Dreher Kamera: Ian Blumers Darsteller: Nikolai Kinski, Katharina Schüttler, Morjana Alaoui, Sean Gullette, Judith Engel u.a. |
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Kalkül und Leidenschaft |
Ganz am Anfang ist alles schon vorbei. Ein toter Junge liegt auf einer Steinterrasse in seinem Blut, die Musik kreischt und schreit dazu, während die Kamera unseren Blick suggestiv den Sturz vom Dach nachempfinden lässt. Erst am Ende werden wir erfahren, was genau geschah, aber dieses Bild hallt nach im Unterbewusstsein, taucht den ganzen Film in eine bedrohliche Atmosphäre, in eine Stimmung aus Unklarheit und Gefahr.
Dies ist ein Psychothriller, also etwas, das es gar nicht geben dürfte in Deutschland. Jedenfalls wenn man den »Experten« der Branche glaubt, die erklären, dass das Genrekino längst tot sei bei uns, dass also Thriller- Horror- und Kriminalfilme, die sich einer vertrauten Form des Erzählens, einer festen Tradition aus Ritualen und Gewohnheiten bedienen, auch Versatzstücken manchmal, nicht mehr möglich seien in einer Landschaft der Autorenfilmer, in der jeder Film seine Sprache neu begründet. Dabei wurde es ursprünglich hier erfunden, schon von Fritz Lang und dann später zum Beispiel von Meistern wie Melville und Rosi auf höchste Ebenen geführt – und auf der Berlinale wird man in der kommenden Woche entdecken, dass das Genrekino zurückkehrt, dass der alte vermeintlich starre Gegensatz zwischen Autorenfilm und Genrekino längst überwunden wird.
Auch Michel Drehers Film ist ein Beispiel dafür. Ein Vexierspiel, das sich einschreibt in die Seelenkino-Landschaften von Polanski und Roeg: Traum und Trauma liegen eng zusammen in dieser Geschichte, die von einem jungen Mann erzählt, der sich schuldig fühlt, verantwortlich für den Tod des kleinen Jungen, der wohl noch leben würde, hätten sie sich nie getroffen.
Zu Beginn des Films geht es um Faszination. Für die fremde Ferne, fürs Abenteuer, für die Chance, sich zu verlieren: »Ship me somewhere east of Suez«, dichtete einst Kipling und beschrieb die Abenteuerlust junger Männer, ihre Sehnsucht nach dem moralisch gefährlichen Leben, einen Durst, der schon vor über hundert Jahren nur noch im Orient zu stillen war. Der Deutschamerikaner Daniel kommt nach Marokko, in die Hafenstadt Tanger. Gelblich ist das Licht, in das Ian Blumers Kamera die
Bilder taucht, und immer wieder schweift der Blick hinaus aufs offene Meer. Man spürt den Wind, man sieht das Europa, das den Einheimischen eine ferne Hoffnung ist, ein gelobtes Land, in das sie wollen, für Daniel aber ein enger, bedrückender Raum, den er flieht. Für Europäer ist Tanger, so scheint es, einer der immer wenigeren Orte, in denen sie noch das Gefühl ausleben dürfen, die Herren der Welt zu sein, so wie früher in ihren Kolonien. Der Film lässt einen diese sündige Freiheit spüren,
die es für Daniel bedeutet, plötzlich reich zu sein, vom armen Studenten zum neokolonialen Herrenmensch zu mutieren, der in einer großen Villa wohnt und alle Frauen haben kann, und dort für einige Zeit ein Leben jenseits bürgerlicher Erwartungen führt – um sich dann eines Tages im Strudel der Ereignisse zu verlieren.
Und Nikolai Kinski ist ein Darsteller, der all dies in sich birgt: Den boshaften Dandy, das labile Bürschchen und ein unschuldiges Kind. Manchmal zeigt die Kamera
sein Gesicht einfach nur in Großaufnahme, ein Blick, der auch von der Sehnsucht nach einem anderen Kino erzählt.
Vom prekären Dasein der Europäer im Marokko von heute, von der Überlagerung von Ausbeutung und Gefühl, haben zuletzt schon andere Filme erzählt: Der Münchner Filmhochschulabsolvent Dreher selbst in seinen vielfach preisgekrönten Kurzfilmen Liveschaltung und Fair Trade, in Irene von Albertis Tangerine, vor allem aber der Franzose André Téchiné in Loin und Temps qui changent. Wie dort, wie in Renoirs The River, ringelt sich auch hier ein paarmal eine schwarze Schlange höchst symbolisch durch den Garten, und auch diesmal kommt es zum mehrfachen Sündenfall: Daniel hat falsche Freunde, er verliebt sich in die einheimische Imane (Morjana Alaoui), »welcome to my world« sagt sie zu ihm, und Kalkül und Leidenschaft sind immer schwerer auseinander zu halten.
Das alles wird im Rückblick erzählt, als Imanes Sohn schon tot ist. Denn das zweite Leben des Daniel Shore findet in einem kalten, tristen, verstaubten, bösen Deutschland statt – ist das später? Oder überhaupt nur geträumt? Mit dieser Frage spielen Regisseur und Film, und zumindest die Gestalten, mit denen diese grauen Innenräume bevölkert sind, wirken so vertraut, verfremdet, dass man an ein Märchen von Kafka denken muss, oder Polanskis Ekel und Mieter. Statt der erhofften Sicherheit kommt es im Deutschland für Daniel zum surrealen Déjà-vu. Die Auflösung, was genau geschah in Marokko, und ob Daniel nun verrückt wird oder nicht, ist für Regisseur wie Zuschauer weniger wichtig, als die Atmosphären in die das alles getaucht ist, die Haltung, mit der diese Geschichte über Bosheit und Unschuld erzählt wird.
Die Zwei Leben Des Daniel Shore ist ein mutiger Film. Eine in starken Bildern und im Hin und Her zwischen Gestern und Heute erzählte Schuld-und-Sühne-Geschichte; ein suchender Film, der mit Offenheiten spielt, nicht auf alles eine Antwort geben möchte; ein Werk, das – formal anregend wie filmisch spannend –, das große Talent seines Regisseurs belegt, auch wenn ihm, vor allem zum Schluss, trotzdem nicht alles gelingt. Aber das, was ihm gelingt, ist spannend genug.