Mit dem Welles-Experten sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Sie arbeiten an der Neuedition von "Mr.Arkadin"
- wie kommen Sie zu Orson Welles?
BERTEMES:
Das ist mein erstes Projekt. Ich bin jetzt seit zwei Jahren
an der Cinémathèque Municipale du Luxembourg.
Seit ich anfing, schwebte der Mythos im Raum. Das Material
lag seit 1980 da. Aber es klang, als sei es abgeschlossen,
daher hat man sich vorher nicht darauf gestürzt. Die
Welles-Konferenz war jetzt ein Anlaß, diesem Mythos
auf den Grund zu gehen.
Was war genau der Mythos?
Der Mythos war: Es gibt da Material, das einzigartig ist.
Es gab mehrere Überlegungen, ob man die bestehende Fassung
verbessern, überarbeiten kann? Aber es kam nie zu einem
Punkt. Bis jetzt ist noch nicht klar, wohin das führt,
aber nach dieser Konferenz haben wir eine Vorstellung davon,
was möglich ist. Wir wissen, dass es einen Versuch wert
ist, systematisch an das Material heranzugehen. Anfangen muß
man denke ich damit, eine systematische, synoptische, komparatistische
Zusammenführung all dieser Puzzleelemente vorzunehmen
und da kommen auch immer neue Puzzleelemente dazu.
Deswegen ist es spannend. Es ist jedem jetzt auch erst klargeworden,
dass es eine zweite spanische Fassung gibt. Bislang war immer
nur von einer spanischen Fassung die Rede.
Das wußten Sie auch nicht? Obwohl Sie solange daran
sitzen?
Das wußte keiner. Die ist jetzt durch die Münchner
Kollegen wieder aufgetan worden. Selbst ein spanischer Kollege
wußte das nicht. Da sieht man, wie sich die Materiallage
bewegt. Und dadurch, dass wir unser Material jetzt auch bewußt
in einen Verbund integrieren, kann man besser arbeiten.
Das ist auch ein Punkt. Es kann hier nicht darum gehen, etwas
alleine zu leisten. Manche haben sich sogar die Frage gestellt:
Soll man nicht sogar ein Orson-Welles-Studienzentrum aufbauen
ob physisch oder als loser Verbund.
Wie ist der Stand Ihrer Arbeit?
Es gibt verschiedene Schnittfassungen, das Material ist
in besserem Zustand, als in allen Fassungen, die wir kennen.
Es wäre heute zu überlegen, ob man vielleicht sogar
eine kritische Ausgabe - auf DVD oder CD-Rom - herstellt,
in der man bewußt mit Texthierarchien arbeiten kann.
MR.ARKADIN ist genau ein Beispiel dafür, dass dieser
klassische Werkbegriff eines Filmwerks nicht mehr greift,
dass er zumindest nicht mehr rekonstruierbar ist. Weil Welles
die Kontrolle verloren hat. So dass man einen solchen polyvalenten
oder polymorphen Werkbegriff auf diese Weise in den Griff
kriegen könnte. Indem Hierarchien, Apparatmaterial (das
wären dann unsere Rushes), Varianten integriert wären.
Man könnte verschiedene Lektüren anbieten, eine
Lesefassung, aber gleichzeitig kritisch-komparatistische Lektüren.
Das ist eine Überlegung, darüber muß man weiter
nachdenken.
Eine andere Überlegung ist: Bekommen wir vielleicht sogar
eine längere Fassung hin?
Ist das das Ziel: die möglichst längste Fassung
herzustellen?
Die möglichst längste Fassung ist auch kein ganz
unproblematischer Begriff. Weil es in der Tat so ist, dass
eigentlich die Zielperspektive heißt: Die Originalfassung.
Die, die er im Kopf hatte?
Genau: die originäre Werkidee von Orson Welles zu rekonstruieren.
Da ihm aber das Werk aus der Hand gerissen worden ist, da
es verstümmelt worden ist, und die textlichen Spuren
nur noch Indizien sind - sozusagen ein Indizienprozeß
muß da geführt werden - wird es glaube ich nicht
mehr möglich sein, die definitive einzige Fassung zu
rekonstruieren. Insofern denke ich, dass in so einer kritische
Vorstellung von Edition, sozusagen mit Film-Philologie das
Ganze besser in den Griff zu bekommen ist.
Wo stehen Sie denn in so einer Diskussion, wie wir das heute
Nachmittag hatten: wenn es darum geht, einen Film zu rekonstruieren,
stehen sich zwei Positionen gegenüber: Die einen sagen,
man darf nur das zeigen, wo klar ist, dass es der Regisseur
so autorisiert hat. Die anderen sagen: Man darf einen Film
auch so nachbearbeiten, auf dem heutigen Stand der Möglichkeiten,
dass man damit einen fürs normale Publikum rekonstruierbaren
Film herstellt? Das sind natürlich Extreme.
Also konkret bei der Diskussion um THE DEEP heute Nachmittag
glaube ich, wär ich schon skeptisch, wenn man versuchte,
das Fragmentarische des Werks zurechtzustoppeln oder zu kaschieren,
oder das Simulacrum eines Werks zu erstellen, das in der Tat
so nicht bestanden hat. Das Einzige, was man machen kann,
wäre das zu ergänzen. Mit welchen Mitteln, das muß
man dann sehen.
Wenn etwas Neues dazugesteuert würde, müßte
man es deutlich markieren.
Ihre Fassung von MR.ARKADIN, wie definitiv ist die?
Definitiv ist sie nicht [LACHT], aber es ist die bestmögliche
Fassung. Sie ist gegenüber anderen komplexer, besonders
was die Flashbacks betrifft.
Was reizt sie speziell an MR.ARKADIN? Ist es, dass man hier
besonders gut diese Form von Philologie demonstrieren kann,
oder ist es etwas, dass in dem Film selber liegt? Orson
Welles hat sich ja selbst - in dem langen Beispiel, dass
wir am Donnerstag gehört haben - sehr negativ geäußert.
Ja er ist sehr schnell negativ darüber hinweggegangen,
offenbar aus einer tiefen Enttäuschung über diese
Verstümmelungsgeschichte des Werkes. Ich habs nicht so
aufgefaßt, dass er das Werk in dieser ursprünglichen
Vision, die er hatte, abgelehnt hat.
Es ist schon das Paradigmatische an der Arbeit, das hier spannend
ist. Dass wir hier eine Stoffgeschichte haben, die sozusagen
mäandert von einem frühen persönlichen Urknall,
die Begegnung mit einem Rüstungsmagnaten, Fritz Mandel,
das war sozusagen das Urbild. Das hat sich dann weiter transportiert
über die Hörspielepisode "Greek meets greek",
dann in das Treatment MASKERADE bis hin zu dem Roman MR.ARKADIN.
Da scheint es jetzt mittlerweile wieder Bewegung zu geben.
Es ist doch denkbar, dass Orson Welles selbst die Feder angesetzt
hätte - das ist auch wieder ein Versteckspiel aus steuerlichen
oder sonstigen Gründen von Welles. Das kommt hinzu: Diese
komplizierte, mäandernde Stoffgeschichte wird noch mal
überlagert durch eine Zensurgeschichte; sie wird überlagert
durch sagen wir ein Illusionstheater von Orson
Welles selbst in Bezug auf seine eigenen Produktionen, so
dass Legende und Fiktion schwer auseinanderzuhalten sind.
In diesem Zusammenhang ist so eine Arbeitskopie fast wie Kassiber
aus der direkten Werkstatt, die Orson Welles uns schickt.
Ganz unabhängig von allen Rekonstruktionsbemühungen
zeigen uns die Stellen, die wir schon haben auch, wie Welles
stimmlich moduliert, seine Schauspieltechnik ...
...also man lernt viel über Welles...
...über Orson Welles selber, über seine Schauspieltechnik,
über das Durchprobieren innerhalb einer Einstellung.
Wie er vermeidet, durch einen Clap gestört zu werden.
Das ist auch eine historische Bedeutung des Materials. Also
es gibt durchaus Formen jenseits einer Rekonstruktion. Eine
Dokumentararbeit über die ganze Stoffgeschichte ist denkbar.
Und das geht zurück bis Joseph Conrad "Heart of
Darkness" da gibt es Linien, die man ziehen kann.
Das ist eine Bandbreite von Möglichkeiten, auf die wir
sehr gespannt sind. Und die Konferenz ist wirklich ein Katalysator.
Wie schätzen Sie Orson Welles' Werk überhaupt
ein? Hat er die Idee gehabt, wie ein Renaissance-Künstler
er wollte ja auch Moby Dick machen, er wollte Cervantes
machen, Conrad haben Sie erwähnt also immer
so richtige 'Blöcke'. Shakespeare sowieso also
die ganz Großen.
Wollte er auch so etwas, wollte er dies für den Filmbereich
sein, also nur 'große' Werke machen?
Oder hat er auch Dinge gemacht, von denen er wußte,
das sind jetzt B-Movies? Es gibt ja auch diesen Satz selbst
über THE LADY OF SHANGHAI: Das sei ein B-Movie.
Was hat er für ein Verhältnis zu seinem eigenen
Werk gehabt, was für eine Intention?
Das ist sehr schillernd. Einmal hatte er schon so als einer
der Letzten die Gestalt eines Urgesteins, eines Universalgenies
und natürlich hat er das auch in seiner Selbstdarstellung
und mit seinem shakespeare-figurenhaften" Auftritt
gefördert.
Aber das Spannende daran ist, dass er durchaus andererseits
auch die Sensibilität für andere Darstellungsformen
hatte. Das ist in A TOUCH OF EVIL zu sehen, in THE STRANGER
zu sehen, das ist in THE LADY OF SHANGHAI zu sehen, es ist
heute auch sehr ersichtlich geworden in THE OTHER SIDE OF
THE WIND. Wo wir jetzt ja neue Takes gesehen haben, bei denen
ich auch gesagt habe: Whow, das ist Antonioni, diese Stadtarchitektur,
das verlorene Individuum...
Nur war es schöner geschnitten als Antonioni. Und das
ist ein Regisseur, den man erstmal mit Welles überhaupt
nicht in Verbindung setzen würde. Also bleibt nur abzuwarten
- das kann man erst entscheiden, wenn wir dieses Werk in seiner
vollständigen Form sehen -, inwiefern es ein ironisches
Augenzwinkern war und welchen Stellenwert das in dem Komplex
hat. Das zeigt schon, dass er nicht in dieser Monumentalität
erstarrt war, sondern sich durchaus auch mit jungen Leuten
bewußt auseinandergesetzt hat.
In den späten Filmen auf alle Fälle. In MR.ARKADIN
wahrscheinlich auch schon?
BARTHEMES:
MR.ARKADIN ist schon ein Beispiel, in dem es ganz deutlich
einen Film-Noir- und B-Picture-Touch gibt. Insofern würde
ich ihn überhaupt nicht reduzieren wollen auf die tragenden,
sonoren Shakespeare-Gestalten.
Meinen Sie, dass der Mythos Orson Welles der Rezeption eher
im Weg steht? Oder ist das eher gut, weil man sich dadurch
für die Sachen ganz anders interessiert?
Es gibt ja auch auf dieser Konferenz manchmal Beiträge
aus dem Publikum, wo man merkt, dass ein sehr verehrendes
Verhältnis da ist. Und es gibt Leute, die meinen, der
letzte Schnipsel von Orson Welles sei noch großartig.
Ich denke mal, es gehört zu der Paradoxie hinzu. Natürlich
stimmt das erstmal, dass ein Mythos einen unverstellten Blick
blockiert. Andererseits gehört es genau zur Qualität
von Orson Welles und seiner Arbeit, dass man sich dieser Sogkraft
und dieser unheimlichen Präsenz gar nicht entziehen kann.
Also wenn man das Mythische daran preisgeben würde, dann
würde man ihm die Essenz schon wieder entziehen. Was
dann wiederum kompliziert ist, ist dass Welles ja auch darunter
gelitten hat, oder ihn auch abgebaut hat.
Es gab ja auch den negativen Mythos.
Ja gut, der negative Mythos ist ganz deutlich auch auf dieser
Konferenz ausgeräumt worden: Vom Wunderkind, vom Genie,
dass das erste Meisterwerk hinsetzt, und sich dann nur noch
auf einer Verfallslinie befindet, bis hin zu einem, der mit
den simpelsten Produktionsvorgaben nicht umgehen kann, der
das Geschäft nicht begriffen hat. Das ist teilweise zumindest
entkräftet worden. Bis wir nicht THE OTHER SIDE OF THE
WIND gesehen haben, müssen wir darauf setzen, dass es
annährend so ein Meisterwerk sein wird, wie CITIZEN KANE.
Diese Konferenz ist eine für Spezialisten. Was ist
der Nutzen auch für ein allgemeines Publikum?
Also erstensmal hat sich das ja sehr gemischt. DON QUIXOTE
ist ausverkauft gewesen. Da waren auch Kollegen hocherfreut
über diese Resonanz. Es gibt also offensichtlich zur
Zeit erste Indizien für eine Welles-Renaissance.
Hat er das überhaupt nötig?
Ja, das wollte ich gerade nachschieben. Aber gut: es gab
eben diese Phase mit diesem Antimythos Welles dass
es eine Linie des Scheiterns war.
Hier ist es natürlich ein gebildet Publikum, aber ich
hoffe auf einen Multiplikatoreneffekt.
Und einem allgemeinen Publikum wäre zu wünschen,
dass Welles nicht nur länger identifiziert wird als Regisseur
von CITIZEN KANE oder am Ende gar fälschlicherweise als
Regisseur von THE THIRD MAN.
Wie sehr war Welles ein Opfer Hollywoods?
Es liegt schon in der Logik, dass jemand, der doch künstlerische
Visionen hat, innerhalb dieses Strukturzusammenhangs begibt,
dass das nicht ohne Friktionen abgehen kann und das Ergreifende
an Welles ist eigentlich der Treuebegriff zu seinem eigenen
Werk. Er hat eigentlich sämtliche Projekte auf eigene
Faust und qua Selbstausbeutung mit einem Pathos der Werktreue
versucht zu vollenden.
Das Vorurteil stimmt nicht, dass er Sachen immer wieder angefangen
hat, und fallen ließ im Gegenteil.
Glauben Sie, es ist ganz ausgeschlossen, dass man irgendwann
einmal auf einem Dachboden die Originalfassung von THE MAGNIFICIENT
AMBERSONS findet?
Also es gibt immer wieder wundersame Funde auf einem Dachboden
oder einem Eisgletscher. Also ich würde die Hoffnung
nicht aufgeben.
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