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Orson Welles Special Oktober 1999
 
 

 

Interview mit Claude Bertemes

 
 
 
 

Mit dem Welles-Experten sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Sie arbeiten an der Neuedition von "Mr.Arkadin" - wie kommen Sie zu Orson Welles?

BERTEMES:
Das ist mein erstes Projekt. Ich bin jetzt seit zwei Jahren an der Cinémathèque Municipale du Luxembourg. Seit ich anfing, schwebte der Mythos im Raum. Das Material lag seit 1980 da. Aber es klang, als sei es abgeschlossen, daher hat man sich vorher nicht darauf gestürzt. Die Welles-Konferenz war jetzt ein Anlaß, diesem Mythos auf den Grund zu gehen.

Was war genau der Mythos?

Der Mythos war: Es gibt da Material, das einzigartig ist. Es gab mehrere Überlegungen, ob man die bestehende Fassung verbessern, überarbeiten kann? Aber es kam nie zu einem Punkt. Bis jetzt ist noch nicht klar, wohin das führt, aber nach dieser Konferenz haben wir eine Vorstellung davon, was möglich ist. Wir wissen, dass es einen Versuch wert ist, systematisch an das Material heranzugehen. Anfangen muß man denke ich damit, eine systematische, synoptische, komparatistische Zusammenführung all dieser Puzzleelemente vorzunehmen – und da kommen auch immer neue Puzzleelemente dazu. Deswegen ist es spannend. Es ist jedem jetzt auch erst klargeworden, dass es eine zweite spanische Fassung gibt. Bislang war immer nur von einer spanischen Fassung die Rede.

Das wußten Sie auch nicht? Obwohl Sie solange daran sitzen?

Das wußte keiner. Die ist jetzt durch die Münchner Kollegen wieder aufgetan worden. Selbst ein spanischer Kollege wußte das nicht. Da sieht man, wie sich die Materiallage bewegt. Und dadurch, dass wir unser Material jetzt auch bewußt in einen Verbund integrieren, kann man besser arbeiten.
Das ist auch ein Punkt. Es kann hier nicht darum gehen, etwas alleine zu leisten. Manche haben sich sogar die Frage gestellt: Soll man nicht sogar ein Orson-Welles-Studienzentrum aufbauen – ob physisch oder als loser Verbund.

Wie ist der Stand Ihrer Arbeit?

Es gibt verschiedene Schnittfassungen, das Material ist in besserem Zustand, als in allen Fassungen, die wir kennen.
Es wäre heute zu überlegen, ob man vielleicht sogar eine kritische Ausgabe - auf DVD oder CD-Rom - herstellt, in der man bewußt mit Texthierarchien arbeiten kann.
MR.ARKADIN ist genau ein Beispiel dafür, dass dieser klassische Werkbegriff eines Filmwerks nicht mehr greift, dass er zumindest nicht mehr rekonstruierbar ist. Weil Welles die Kontrolle verloren hat. So dass man einen solchen polyvalenten oder polymorphen Werkbegriff auf diese Weise in den Griff kriegen könnte. Indem Hierarchien, Apparatmaterial (das wären dann unsere Rushes), Varianten integriert wären. Man könnte verschiedene Lektüren anbieten, eine Lesefassung, aber gleichzeitig kritisch-komparatistische Lektüren. Das ist eine Überlegung, darüber muß man weiter nachdenken.
Eine andere Überlegung ist: Bekommen wir vielleicht sogar eine längere Fassung hin?

Ist das das Ziel: die möglichst längste Fassung herzustellen?

Die möglichst längste Fassung ist auch kein ganz unproblematischer Begriff. Weil es in der Tat so ist, dass eigentlich die Zielperspektive heißt: Die Originalfassung.

Die, die er im Kopf hatte?

Genau: die originäre Werkidee von Orson Welles zu rekonstruieren. Da ihm aber das Werk aus der Hand gerissen worden ist, da es verstümmelt worden ist, und die textlichen Spuren nur noch Indizien sind - sozusagen ein Indizienprozeß muß da geführt werden - wird es glaube ich nicht mehr möglich sein, die definitive einzige Fassung zu rekonstruieren. Insofern denke ich, dass in so einer kritische Vorstellung von Edition, sozusagen mit Film-Philologie das Ganze besser in den Griff zu bekommen ist.

Wo stehen Sie denn in so einer Diskussion, wie wir das heute Nachmittag hatten: wenn es darum geht, einen Film zu rekonstruieren, stehen sich zwei Positionen gegenüber: Die einen sagen, man darf nur das zeigen, wo klar ist, dass es der Regisseur so autorisiert hat. Die anderen sagen: Man darf einen Film auch so nachbearbeiten, auf dem heutigen Stand der Möglichkeiten, dass man damit einen fürs normale Publikum rekonstruierbaren Film herstellt? Das sind natürlich Extreme.

Also konkret bei der Diskussion um THE DEEP heute Nachmittag glaube ich, wär ich schon skeptisch, wenn man versuchte, das Fragmentarische des Werks zurechtzustoppeln oder zu kaschieren, oder das Simulacrum eines Werks zu erstellen, das in der Tat so nicht bestanden hat. Das Einzige, was man machen kann, wäre das zu ergänzen. Mit welchen Mitteln, das muß man dann sehen.
Wenn etwas Neues dazugesteuert würde, müßte man es deutlich markieren.

Ihre Fassung von MR.ARKADIN, wie definitiv ist die?

Definitiv ist sie nicht [LACHT], aber es ist die bestmögliche Fassung. Sie ist gegenüber anderen komplexer, besonders was die Flashbacks betrifft.

Was reizt sie speziell an MR.ARKADIN? Ist es, dass man hier besonders gut diese Form von Philologie demonstrieren kann, oder ist es etwas, dass in dem Film selber liegt? Orson Welles hat sich ja selbst - in dem langen Beispiel, dass wir am Donnerstag gehört haben - sehr negativ geäußert.

Ja er ist sehr schnell negativ darüber hinweggegangen, offenbar aus einer tiefen Enttäuschung über diese Verstümmelungsgeschichte des Werkes. Ich habs nicht so aufgefaßt, dass er das Werk in dieser ursprünglichen Vision, die er hatte, abgelehnt hat.
Es ist schon das Paradigmatische an der Arbeit, das hier spannend ist. Dass wir hier eine Stoffgeschichte haben, die sozusagen mäandert von einem frühen persönlichen Urknall, die Begegnung mit einem Rüstungsmagnaten, Fritz Mandel, das war sozusagen das Urbild. Das hat sich dann weiter transportiert über die Hörspielepisode "Greek meets greek", dann in das Treatment MASKERADE bis hin zu dem Roman MR.ARKADIN.
Da scheint es jetzt mittlerweile wieder Bewegung zu geben. Es ist doch denkbar, dass Orson Welles selbst die Feder angesetzt hätte - das ist auch wieder ein Versteckspiel aus steuerlichen oder sonstigen Gründen von Welles. Das kommt hinzu: Diese komplizierte, mäandernde Stoffgeschichte wird noch mal überlagert durch eine Zensurgeschichte; sie wird überlagert durch –sagen wir – ein Illusionstheater von Orson Welles selbst in Bezug auf seine eigenen Produktionen, so dass Legende und Fiktion schwer auseinanderzuhalten sind. In diesem Zusammenhang ist so eine Arbeitskopie fast wie Kassiber aus der direkten Werkstatt, die Orson Welles uns schickt.
Ganz unabhängig von allen Rekonstruktionsbemühungen zeigen uns die Stellen, die wir schon haben auch, wie Welles stimmlich moduliert, seine Schauspieltechnik ...

...also man lernt viel über Welles...

...über Orson Welles selber, über seine Schauspieltechnik, über das Durchprobieren innerhalb einer Einstellung. Wie er vermeidet, durch einen Clap gestört zu werden.
Das ist auch eine historische Bedeutung des Materials. Also es gibt durchaus Formen jenseits einer Rekonstruktion. Eine Dokumentararbeit über die ganze Stoffgeschichte ist denkbar. Und das geht zurück bis Joseph Conrad "Heart of Darkness" – da gibt es Linien, die man ziehen kann.
Das ist eine Bandbreite von Möglichkeiten, auf die wir sehr gespannt sind. Und die Konferenz ist wirklich ein Katalysator.

Wie schätzen Sie Orson Welles' Werk überhaupt ein? Hat er die Idee gehabt, wie ein Renaissance-Künstler – er wollte ja auch Moby Dick machen, er wollte Cervantes machen, Conrad haben Sie erwähnt – also immer so richtige 'Blöcke'. Shakespeare sowieso – also die ganz Großen.
Wollte er auch so etwas, wollte er dies für den Filmbereich sein, also nur 'große' Werke machen?
Oder hat er auch Dinge gemacht, von denen er wußte, das sind jetzt B-Movies? Es gibt ja auch diesen Satz selbst über THE LADY OF SHANGHAI: Das sei ein B-Movie.
Was hat er für ein Verhältnis zu seinem eigenen Werk gehabt, was für eine Intention?

Das ist sehr schillernd. Einmal hatte er schon so als einer der Letzten die Gestalt eines Urgesteins, eines Universalgenies und natürlich hat er das auch in seiner Selbstdarstellung und mit seinem „shakespeare-figurenhaften" Auftritt gefördert.
Aber das Spannende daran ist, dass er durchaus andererseits auch die Sensibilität für andere Darstellungsformen hatte. Das ist in A TOUCH OF EVIL zu sehen, in THE STRANGER zu sehen, das ist in THE LADY OF SHANGHAI zu sehen, es ist heute auch sehr ersichtlich geworden in THE OTHER SIDE OF THE WIND. Wo wir jetzt ja neue Takes gesehen haben, bei denen ich auch gesagt habe: Whow, das ist Antonioni, diese Stadtarchitektur, das verlorene Individuum...
Nur war es schöner geschnitten als Antonioni. Und das ist ein Regisseur, den man erstmal mit Welles überhaupt nicht in Verbindung setzen würde. Also bleibt nur abzuwarten - das kann man erst entscheiden, wenn wir dieses Werk in seiner vollständigen Form sehen -, inwiefern es ein ironisches Augenzwinkern war und welchen Stellenwert das in dem Komplex hat. Das zeigt schon, dass er nicht in dieser Monumentalität erstarrt war, sondern sich durchaus auch mit jungen Leuten bewußt auseinandergesetzt hat.

In den späten Filmen auf alle Fälle. In MR.ARKADIN wahrscheinlich auch schon?

BARTHEMES:
MR.ARKADIN ist schon ein Beispiel, in dem es ganz deutlich einen Film-Noir- und B-Picture-Touch gibt. Insofern würde ich ihn überhaupt nicht reduzieren wollen auf die tragenden, sonoren Shakespeare-Gestalten.

Meinen Sie, dass der Mythos Orson Welles der Rezeption eher im Weg steht? Oder ist das eher gut, weil man sich dadurch für die Sachen ganz anders interessiert?
Es gibt ja auch auf dieser Konferenz manchmal Beiträge aus dem Publikum, wo man merkt, dass ein sehr verehrendes Verhältnis da ist. Und es gibt Leute, die meinen, der letzte Schnipsel von Orson Welles sei noch großartig.

Ich denke mal, es gehört zu der Paradoxie hinzu. Natürlich stimmt das erstmal, dass ein Mythos einen unverstellten Blick blockiert. Andererseits gehört es genau zur Qualität von Orson Welles und seiner Arbeit, dass man sich dieser Sogkraft und dieser unheimlichen Präsenz gar nicht entziehen kann.
Also wenn man das Mythische daran preisgeben würde, dann würde man ihm die Essenz schon wieder entziehen. Was dann wiederum kompliziert ist, ist dass Welles ja auch darunter gelitten hat, oder ihn auch abgebaut hat.

Es gab ja auch den negativen Mythos.

Ja gut, der negative Mythos ist ganz deutlich auch auf dieser Konferenz ausgeräumt worden: Vom Wunderkind, vom Genie, dass das erste Meisterwerk hinsetzt, und sich dann nur noch auf einer Verfallslinie befindet, bis hin zu einem, der mit den simpelsten Produktionsvorgaben nicht umgehen kann, der das Geschäft nicht begriffen hat. Das ist teilweise zumindest entkräftet worden. Bis wir nicht THE OTHER SIDE OF THE WIND gesehen haben, müssen wir darauf setzen, dass es annährend so ein Meisterwerk sein wird, wie CITIZEN KANE.

Diese Konferenz ist eine für Spezialisten. Was ist der Nutzen auch für ein allgemeines Publikum?

Also erstensmal hat sich das ja sehr gemischt. DON QUIXOTE ist ausverkauft gewesen. Da waren auch Kollegen hocherfreut über diese Resonanz. Es gibt also offensichtlich zur Zeit erste Indizien für eine Welles-Renaissance.

Hat er das überhaupt nötig?

Ja, das wollte ich gerade nachschieben. Aber gut: es gab eben diese Phase mit diesem Antimythos Welles – dass es eine Linie des Scheiterns war.
Hier ist es natürlich ein gebildet Publikum, aber ich hoffe auf einen Multiplikatoreneffekt.
Und einem allgemeinen Publikum wäre zu wünschen, dass Welles nicht nur länger identifiziert wird als Regisseur von CITIZEN KANE oder am Ende gar fälschlicherweise als Regisseur von THE THIRD MAN.

Wie sehr war Welles ein Opfer Hollywoods?

Es liegt schon in der Logik, dass jemand, der doch künstlerische Visionen hat, innerhalb dieses Strukturzusammenhangs begibt, dass das nicht ohne Friktionen abgehen kann und das Ergreifende an Welles ist eigentlich der Treuebegriff zu seinem eigenen Werk. Er hat eigentlich sämtliche Projekte auf eigene Faust und qua Selbstausbeutung mit einem Pathos der Werktreue versucht zu vollenden.
Das Vorurteil stimmt nicht, dass er Sachen immer wieder angefangen hat, und fallen ließ – im Gegenteil.

Glauben Sie, es ist ganz ausgeschlossen, dass man irgendwann einmal auf einem Dachboden die Originalfassung von THE MAGNIFICIENT AMBERSONS findet?

Also es gibt immer wieder wundersame Funde auf einem Dachboden oder einem Eisgletscher. Also ich würde die Hoffnung nicht aufgeben.

   
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