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Dokfest 2002  
 
 
 
 

Der familiäre Blick
Zum Abschluß des Internationalen Dokumentarfilmfestivals 2002

   
 
 
 
 
»I love you, you love me,
together we are a happy family«

(FAMILY)

»Der familiäre Blick«, so könnte man in Anspielung an den Titel des Themenschwerpunktes vor zwei Jahren das heimliche Motto des diesjährigen Wettbewerbs und insbesondere der Preisträger nennen. Trotz - oder gerade wegen - der angespannten Weltlage fanden viele Filmemacher die spannendsten und aufregendsten Themen im Kreise der eigenen Familie. Der intime Blick und persönliche Betroffenheit können zu besonders engagierten Filmen und mitreißenden Einblicken führen, wenn das Grundthema von hinreichend allgemeinem Interesse ist - oder der Film, wie im Fall Jan Peters, interessant und ungewöhnlich erzählt wird.

Der Hauptgewinner des Wettbewerbs heißt dann auch schlicht FAMILY. Nach dem Tod von Mutter und Bruder allein zurück geblieben, macht sich der dänische Filmemacher Sami Saif auf die Suche nach seinem Vater. Der war, als Sami noch klein war, in den Jemen zurückgekehrt, jeglicher Kontakt abgebrochen. Die Suche ist schwieriger als gedacht. Hoffnung, Angst und die Ungewissheit der Erwartungen tauchen den Filmemacher in ein Wechselbad der Gefühle. Statt des Vaters findet er einen unbekannten älteren Bruder und eine große jemenitische Familie. Man entdeckt Gemeinsamkeiten und Blutsverwandschaft, spürt die Unsicherheit und Zerrissenheit Samis zwischen der Einsamkeit, Sorglosigkeit und individuellen Freiheit in Dänemark und der Einbindung in den jemenitischen Familienclan.

Auch beim Gewinner des Preises Der besondere Dokumentarfilm, ALT OM MIN FAR (Alles über meinen Vater), macht sich der Filmemacher auf eine Entdeckungsreise zu seinem Vater. Der wohnt zwar in der gleichen Stadt und war nie verschwunden, hat aber trotzdem eine unbekannt Seite - er verwandelt sich zunehmend in eine Frau. Anfangs nur selten und heimlich, fühlt er sich mittlerweile die Hälfte der Zeit als Frau und lebt auch so. Nicht einfach für den Sohn, denn für ihn ist »Vater« untrennbar mit »Mann« verbunden.

Von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht wurde MEIN KLEINES KIND - für mich der bewegendste Film des Festivals. Im fünften Monat schwanger erfährt die Filmemacherin und praktizierende Hebamme Katja Baumgarten, daß das Kind in ihrem Bauch starke Mißbildungen hat und vermutlich nicht lebensfähig sein wird. »Die sofortige Beendigung der Schwangerschaft ist in solchen Situationen der übliche Weg« teilt ihr der Arzt mit. Mit einfachsten filmischen Mitteln, Texteinblendungen und einer Videokamera, die ihr immer sehr nah ist, dokumentiert der Film die Hilflosigkeit, das Gefühl des Alleingelassenwerdens, die Entscheidungsfindung, die Geburt, das Leben und den Tod. Nach gut vier Jahren hat Katja Baumgarten die notwendige Distanz gefunden, diesen sehr persönlichen aber für uns alle existenziellen Film fertigzustellen.

Weitere »Familienfilme« gab es in der Reihe Point of View zu sehen. In NINE GOOD TEETH erzählt der New Yorker Alex Halpern das Leben seiner mittlerweile 102jährigen Großmutter, von der Tochter italienischer Einwanderer zum Bindeglied einer großen Mittelstandsfamilie. Hier werden Krimis erzählt, Familiengeheimnisse gelüftet und Lebensfreude versprüht. Nebenbei zeigt der Film, wie sich die Lebensperspektive der Frauen in den letzten hundert Jahren verändert hat. OUT OF EDEKA ist Konstantin Faigle. Er ist in einem schwäbischen Dorf im Edeka-Laden seiner Eltern aufgewachsen. Die Kindheitserinnerungen und das Porträt der Eltern sind auch ein Porträt des Ladens. Er bestimmte das Familienleben. In den Lagern, versteckten Kammern und über das ganze Haus verstreuten Verkaufsräumen findet sich ein Museum der Warenwelt der letzten 30 Jahre. Ein verlorenes Paradis, denn mittlerweile ist der Laden geschlossen.

Michael Kuball erzählt nicht von seiner eigenen Familie, aber er setzt ebenfalls auf familiäre Blicke. In SOUL OF A CENTURY, der in die engere Wahl der Jury kam, hat er Material von Amateurfilmern zu einer privaten Geschichte des vergangenen Jahrhunderts kompiliert. Anfangs, in den 20er Jahren, ist es noch die Geschichte von Reichen und Adeligen, denn nur sie konnten sich das Filmen leisten. Das ändert sich Anfang der 30er Jahre. Gegen Ende des Jahrzehnts werden die Bilder sogar farbig, bevor die Schrecken des Krieges die Farbe wieder für einige Jahrzehnte verdrängen. Klar, daß die Amateure hauptsächlich Familienangehörige und Bekannte gefilmt haben. In den 30er Jahren wurde auch Paraden und NS-Architektur zum Motiv. In den 40er Jahren folgten heimlich gedrehte Aufnahmen von Bombenangriffen und zerstörten Städten, bevor sich die Menschen in den 50er Jahren wieder dem Privaten zuwendeten. Die ergreifendste Szene des Films ist aber das unbeschwerte Spiel seiner beiden kleinen Kinder, das ein Amateur mitten im Krieg in München auf Farbmaterial gedreht hat. Wenige Kilometer entfernt filmte ein anderer Amateur zur gleichen Zeit heimlich den Appellplatz des KZ Dachau. Wenig später sehen wir die Familie, die eben noch so unbeschwert gespielt hat, vor ihrem zerbombten Haus. Der Film endet Anfang der 70er Jahre, kurz bevor Video anfängt, den Amateurfilm zu verdrängen und diese Art des kollektiven Gedächnisses zum Erlöschen bringt.

Claus Schotten
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