»I love you, you love me,
together we are a happy family«
(FAMILY)
»Der familiäre Blick«, so könnte man in Anspielung
an den Titel des Themenschwerpunktes
vor zwei Jahren das heimliche Motto des diesjährigen Wettbewerbs
und insbesondere der Preisträger nennen. Trotz - oder gerade
wegen - der angespannten Weltlage fanden viele Filmemacher
die spannendsten und aufregendsten Themen im Kreise der eigenen
Familie. Der intime Blick und persönliche Betroffenheit können
zu besonders engagierten Filmen und mitreißenden Einblicken
führen, wenn das Grundthema von hinreichend allgemeinem Interesse
ist - oder der Film, wie im Fall Jan Peters,
interessant und ungewöhnlich erzählt wird.
Der Hauptgewinner des Wettbewerbs heißt dann auch schlicht
FAMILY. Nach
dem Tod von Mutter und Bruder allein zurück geblieben, macht
sich der dänische Filmemacher Sami Saif auf die Suche
nach seinem Vater. Der war, als Sami noch klein war, in den
Jemen zurückgekehrt, jeglicher Kontakt abgebrochen. Die Suche
ist schwieriger als gedacht. Hoffnung, Angst und die Ungewissheit
der Erwartungen tauchen den Filmemacher in ein Wechselbad
der Gefühle. Statt des Vaters findet er einen unbekannten
älteren Bruder und eine große jemenitische Familie. Man entdeckt
Gemeinsamkeiten und Blutsverwandschaft, spürt die Unsicherheit
und Zerrissenheit Samis zwischen der Einsamkeit, Sorglosigkeit
und individuellen Freiheit in Dänemark und der Einbindung
in den jemenitischen Familienclan.
Auch beim Gewinner des Preises Der besondere Dokumentarfilm,
ALT OM MIN FAR
(Alles über meinen Vater), macht sich der Filmemacher auf
eine Entdeckungsreise zu seinem Vater. Der wohnt zwar in der
gleichen Stadt und war nie verschwunden, hat aber trotzdem
eine unbekannt Seite - er verwandelt sich zunehmend in eine
Frau. Anfangs nur selten und heimlich, fühlt er sich mittlerweile
die Hälfte der Zeit als Frau und lebt auch so. Nicht einfach
für den Sohn, denn für ihn ist »Vater« untrennbar mit »Mann«
verbunden.
Von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht wurde MEIN KLEINES KIND - für mich
der bewegendste Film des Festivals. Im fünften Monat schwanger
erfährt die Filmemacherin und praktizierende Hebamme Katja Baumgarten,
daß das Kind in ihrem Bauch starke Mißbildungen hat und vermutlich
nicht lebensfähig sein wird. »Die sofortige Beendigung der
Schwangerschaft ist in solchen Situationen der übliche Weg«
teilt ihr der Arzt mit. Mit einfachsten filmischen Mitteln,
Texteinblendungen und einer Videokamera, die ihr immer sehr
nah ist, dokumentiert der Film die Hilflosigkeit, das Gefühl
des Alleingelassenwerdens, die Entscheidungsfindung, die Geburt,
das Leben und den Tod. Nach gut vier Jahren hat Katja Baumgarten
die notwendige Distanz gefunden, diesen sehr persönlichen
aber für uns alle existenziellen Film fertigzustellen.
Weitere »Familienfilme« gab es in der Reihe Point of View
zu sehen. In NINE
GOOD TEETH erzählt der New Yorker Alex Halpern das
Leben seiner mittlerweile 102jährigen Großmutter, von der
Tochter italienischer Einwanderer zum Bindeglied einer großen
Mittelstandsfamilie. Hier werden Krimis erzählt, Familiengeheimnisse
gelüftet und Lebensfreude versprüht. Nebenbei zeigt der Film,
wie sich die Lebensperspektive der Frauen in den letzten hundert
Jahren verändert hat. OUT
OF EDEKA ist Konstantin Faigle. Er ist in einem schwäbischen
Dorf im Edeka-Laden seiner Eltern aufgewachsen. Die Kindheitserinnerungen
und das Porträt der Eltern sind auch ein Porträt des Ladens.
Er bestimmte das Familienleben. In den Lagern, versteckten
Kammern und über das ganze Haus verstreuten Verkaufsräumen
findet sich ein Museum der Warenwelt der letzten 30 Jahre.
Ein verlorenes Paradis, denn mittlerweile ist der Laden geschlossen.
Michael Kuball erzählt nicht von seiner eigenen Familie,
aber er setzt ebenfalls auf familiäre Blicke. In SOUL OF A CENTURY, der in die
engere Wahl der Jury kam, hat er Material von Amateurfilmern
zu einer privaten Geschichte des vergangenen Jahrhunderts
kompiliert. Anfangs, in den 20er Jahren, ist es noch
die Geschichte von Reichen und Adeligen, denn nur sie konnten
sich das Filmen leisten. Das ändert sich Anfang der 30er Jahre.
Gegen Ende des Jahrzehnts werden die Bilder sogar farbig,
bevor die Schrecken des Krieges die Farbe wieder für einige
Jahrzehnte verdrängen. Klar, daß die Amateure hauptsächlich
Familienangehörige und Bekannte gefilmt haben. In den 30er
Jahren wurde auch Paraden und NS-Architektur zum Motiv. In
den 40er Jahren folgten heimlich gedrehte Aufnahmen von
Bombenangriffen und zerstörten Städten, bevor sich die Menschen
in den 50er Jahren wieder dem Privaten zuwendeten. Die
ergreifendste Szene des Films ist aber das unbeschwerte Spiel
seiner beiden kleinen Kinder, das ein Amateur mitten im Krieg
in München auf Farbmaterial gedreht hat. Wenige Kilometer
entfernt filmte ein anderer Amateur zur gleichen Zeit heimlich
den Appellplatz des KZ Dachau. Wenig später sehen wir
die Familie, die eben noch so unbeschwert gespielt hat, vor
ihrem zerbombten Haus. Der Film endet Anfang der 70er Jahre,
kurz bevor Video anfängt, den Amateurfilm zu verdrängen und
diese Art des kollektiven Gedächnisses zum Erlöschen bringt.
Claus Schotten |