Anderswo ist eine Frage des Standpunktes
"Früher haben wir die Hexer getötet und dann
aufgegessen. Wir haben alle Nachbarn dazu eingeladen."
Ausführlich demonstriert der zierliche Mann aus dem indonesischen
Regenwald, welche Körperteile man noch vor einigen Jahren
zuerst verspeiste. "Heute dürfen wir das nicht mehr
tun", meint er bedauernd, "heute schicken wir die
Hexer einfach weg. Wir schicken sie in die großen Dörfer
der weißen Leute." Höchststrafe für Ureinwohner.
Auch auf die entlegen lebenden Waldbewohner wirft die Zivilisation
bereits ihren Schatten.
Die Welt im Jahr 2000: eine Bestandsaufnahme. Zwölf
Monate reiste Nikolaus Geyrhalter kreuz und quer über
die Kontinente, von den Schneefeldern im winterlichen Finnland
bis zu den paradiesischen Inseln Mikroneisens. Zwölf
Kulturen, zwölf Sprachen, zwölf Geschichten - ein
kinematographischer Walkabout.
Bereits mit DAS JAHR NACH DAYTON hatte Geyrhalter sich an
ein solches Vierjahreszeitenprojekt gemacht. Doch diesmal
waren die Dimensionen ungleich größer: Tausende
Kilometer galt es zu überwinden, unzählige Leute
haben mitgewirkt, als Träger, Fahrer, Rechercheure. Nur
drei Wochen Drehzeit pro Region, menschliches Schicksal auf
20 Minuten komprimiert. Die enge Zusammenarbeit mit den Ethnologen
vor Ort hat ermöglicht, in kürzester Zeit Zugang
zu den Menschen zu finden.
Doch in den Bildern ist keine Unrast zu spüren: Vor
jeder neuen Sequenz stehen erst einmal Geräusche vor
der schwarzen Leinwand: das Knistern eines australischen Buschfeuers,
das rhythmische Stampfen der Stößel, mit dem ein
Tuargmädchen Korn zermahlt Es folgen lange, ruhige Einstellungen,
die es dem Betrachter ermöglichen, sich umzuschauen in
diesen fremden Welten: Die Kritzelein an den Wänden des
mikronesischen Klassenzimmers. Die Plastikrose, die auf einem
Küchentisch irgendwo in Grönland blüht. Unbeeindruckt
von der Kamera erzählen die Menschen von ihrem Leben
und gehen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach.
"Brigitte Bardot hat mein Leben ruiniert", beklagt
sich ein Innuitjäger, dem der Robbenfang schwer gemacht
wird. Lavinia, die engagierte Grundschullehrerin aus Mikronesien,
sorgt sich wegen des Schmelzens der Polarkappen: "Unsere
Inseln sind so klein, wir haben nicht einmal einen Berg, auf
den wir uns retten können."
Immer wieder wird die Vergänglichkeit der hier gezeigten
Lebensweisen präsent. Immer wieder geht es auch um die
Frage, wie man die eigene Identität bewahrt, angesichts
der hereinbrechenden Zivilisationsmaschinerie. So spielen
die Kinder der Aborigines zwar Nintendo, auf Schuhe jedoch
verzichten sie wie ihre Vorfahren. "Als Kind wusste ich
nicht, was Müll ist", erzählt Lehrerin Lavinia.
Inzwischen hat sie es gelernt: Müll, dass ist das, was
Santa Claas alle zwei Jahre per Fallschirm über der Insel
abwirft. Wer braucht schon abgetragene T-Shirts, an einem
Ort, wo Männer und Frauen barbrüstig umherlaufen?
"So ist die Welt, sie ändert dauernd ihre Richtung",
sagt der verschleierte Tuareg im Jaunar 2000. Und so bleibt
uns vielleicht nur, einen Moment innezuhalten und in uns aufzunehmen,
was einmal war. Im Dezember letzten Jahres wurde das mikronesische
Paradies durch einen Wirbelsturm zerstört.
Nani Fux
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