"Im Fernsehen sind die Bilder eingekaschtelt. Das verengt
den Horizont. Erst vor der großen Leinwand ist man mitten
drin." Weise Worte von einem, der es wissen muss: Er
ist einer der Protagonisten aus Douglas Wolfspergers herzerwärmenden
Eröffnungsfilm BELLARIA - SO LANGE
WIR LEBEN. Wolfsperger erzählt die wundersame Geschichte
einer Wiener Kinoinstitution, wo Marika Röck noch die
Beine schwingt, Zarah Leander ihre traurigen Weisen singt
und das treue Stammpublikum so betagt ist wie die Filme, die
über die Leinwand knistern.
Die Reduzierung auf die Dimensionen der Fernsehröhre
ist ein Schicksal, dass den meisten Dokumentarfilmen beschieden
ist. Um so beglückender, im Rahmen eines Festivals wieder
einmal in großformatig präsentierten Dokumentationen
zu schwelgen. Und die Leute kommen in Scharen: Auch bei schönstem
Wetter drängen sie sich zuhauf in den Foyers, die Karten
für Wolfspergers Eröffnungsfilm waren schon am ersten
Tag des Vorverkaufs hoffnungslos vergriffen.
Nikolaus Geyrhalter hat mit seinem ethnologischem Epos sicher
nicht den Fernsehzuschauer im Blick gehabt: Vier Stunden dauert
sein Episodenfilm ELSWHERE. Zwölf
Monate ist er kreuz und quer über den Erdball gereist
und hat an zwölf, zumeist unwirtlichen Orten gedreht:
Eine fragmentarische Bestandsaufnahme der Erde im Millenniumsjahr.
Gelassene Momentaufnahmen aus anderen Welten, von den Eiswüsten
Grönlands bis ins paradiesischen Inselwelt Mikronesiens.
Zwölf menschliche Schicksale, auf je 20 Minuten komprimiert.
Ein Marathon in Zeitlupe.
Minimalistisch hingegen kommt die vielbesprochene Dokumentation
IM TOTEN WINKEL daher: Sie ist fast
ausschließlich in der Einzimmerwohnung von Traudl Junge
entstanden. 90 Minuten lang beherrscht ihr Gesicht die Leinwand,
während sie von ihrer Zeit als Hitlers persönliche
Sekretärin berichtet. Bewusst haben André Heller
und Othmar Schmiderer auf jegliches Beiwerk verzichtet. Keine
Archivaufnahmen stören die Bilder in unseren Köpfen,
während die begnadete Erzählerin ihre Geschichte
vor uns ausbreitet. Dieser Film zumindest hat den Sprung in
die Kinosäle geschafft: Von heute an wird er bundesweit
zu sehen sein.
Das Münchener Dokumentarfilmfest ist auch in seinem
17. Jahr nicht in die Riege der großen internationalen
Festivals aufstiegen: Die besten Filme liefen meist schon
anderswo. Doch die Liebe zum Dokumentarfilm eint auch in diesem
Frühling Organisatoren, Publikum und Regisseure und lässt
das Festival trotz chronischen Geldmangels zu einem Höhepunkt
des Münchener Kulturjahres werden. Wo der Glamourfaktor
fehlt, fließen Gelder nur zögerlich. Um so trauriger,
dass das Festival darüber hinaus jetzt auch noch obdachlos
geworden ist: Im nächsten Sommer wird das Filmmuseum,
bislang Heimat des Dokfests, eine Baustelle sein. Ein neuer
Ort ist noch nicht gefunden. Doch noch hofft man, dass sich
rechtzeitig eine Lösung findet: Wer sich mit diesem Genre
befasst, braucht schließlich immer Improvisationstalent,
Leidenschaft und einen langen Atem.
Als "eine Expedition ins Ungewisse" beschreibt
auch Christian Bauer in seinem außergewöhnlichen
Beitrag MISSING ALLEN das Abenteuer
Dokumentarfilm. Die verstörende Spurensuche nach seinem
Freund und Kameramann, der unter mysteriösen Umständen
verschwand, ist sicherlich einer der intensivsten und spannendsten
Beiträge des Festivals. Die beunruhigende Story schlägt
den Zuschauer in den Bann. Und weil all dies keine Fiktion
ist, können wir uns nicht abschotten gegen die Schrecken,
die uns auf der Leinwand begegnen. Cinéma Vérité:
Die Realität führt Co-Regie und gibt Situationen
vor, in denen der Filmemacher seine Geschichte erst aufspüren
muss.
Obwohl MISSING ALLEN bereits als bester Dokumentarfilm in
Venedig und Montreal ausgezeichnet wurde, hat Bauer bisher
noch keinen Verleiher finden können. Und so wird vielen
nichts anderes übrig bleiben, als ihn sich doch im heimischen
Pantoffelkino anzusehen: Am 27. Mai 2002 läuft der Film
voraussichtlich bei Arte.
Nani Fux
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