60. Filmfestspiele Cannes 2007
No audience was harmed in this movie… |
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White Trash vor dem Feldstecher: Import Export von Ulrich Seidl |
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(Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion) |
»This is a carbon neutral production.« Die Klimakatastrophenhysterie macht natürlich vor dem Kino am wenigsten halt. Und die Filmabspänne der Zukunft werden – Green Hollywood sei Dank – ausnahmslos garantiert neben manch anderem Schwachsinn auch diesen Satz enthalten. Zum ersten Mal aufgefallen ist er uns vor zwei Tagen im bereits zuletzt ausführlich erwähnten Film der Coen-Brüder. Wenn man direkt untendrunter dann auch die bekannte »no animal was
harmed...«-Floskel liest, ist es schwer, nicht zynisch zu werden. Denn es ist zwar beruhigend, zu erfahren, dass die niedlichen Kampfhunde der mexikanischen Drogendealer allesamt nur gut dressierte Schauspieler waren, aber nach wenigen Filmen wirkt dieser Satz trotzdem deplazierter, wie hier: Wenigstens kein Tier. Menschen aber schon. Denn No Country for Old Men heißt ja auch,
wie er heißt, weil hier kaum einer alt wird, und wenn doch, dann sitzt er im Rollstuhl.
Tierliebe und ökologische Korrektheit gehen also durchaus mit Regisseursmordlust und moralischer Rücksichtslosigkeit zusammen – was hier gar nicht negativ gemeint ist, denn der Film ist ja wunderbar. Wir wollen übrigens gar nicht wissen, was Abspänne wohl in ferner Zukunft noch alles alles enthalten werden: »A smoking free movie«? »A politics free movie«? »No religion was harmed in this
movie«. Wie wär’s statt moralischer Asepis mal mit »No audience was harmed in this movie«?
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Womit wir schon bei Ulrich Seidl wären. Mit Hundstage wurde der Österreicher vor sechs Jahren in Venedig berühmt. Jetzt ist er mit Import Export, was immerhin ein schöner Titel ist, im Wettbewerb. Depressionskino anderer Art, als aus Rumänien. Zweifellos kunstvoller. Zweifellos kälter. Auch besser? Das ist die Frage.
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Der Film ist derjenige Seidls, der eher als alle zuvor, eine Geschichte erzählt. Parallel dreht sie sich um zwei Menschen: Olga aus der Ukraine und Paul aus Wien. Im Laufe des Films reist er in die Ukraine, sie kommt nach Wien. Immer im Wechsel beobachtet man Auszüge aus beider Leben: Olga arbeitet als Krankenschwester, man sieht ein hustendes Baby auf dem Krankentisch. Olga arbeitet als Pornodarstellerin eines Internetchats, man sieht sie allerlei demütigende Handlungen
verrichten, und bei der Arbeit mit sadistischen Kunden. Olga lebt in einer Plattenbau-Trabantensiedlung in einer öden Industrielandschaft mit viel Schmutz und Rauch und wenig Schönheit. Es ist auch noch Winter, das lässt die Szenerie und das dortige Geschehen noch kälter und grauer erscheinen.
Zur gleichen Zeit in Wien: Paul trainiert bei einer Sicherheitsfirma, er wird offenbar Wachmann. Paul hat sich einen Kampfhund zugelegt. Als er mit ihm seine Freundin besucht, ohne Rücksicht
auf deren Angst vor Hunden, bekommt sie einen hysterischen Anfall und wirft Paul hinaus. Sein einziger Kommentar: »Geh scheißen« und »Der Hund ist mir garantiert immer treu. Aber weiß ich ob Du mir auch immer treu bist.« Den Kampfhund sehen wir später nicht mehr wieder.
Eines Tages wird Paul während seiner Arbeit bei einem Routinekontrollgang von einer Gruppe junger ausländischer Männer angegriffen. Sie überwältigen ihn, und demütigen ihn unter anderem, indem sie ihn ausziehen,
fesseln, mit Bier übergießen und zurücklassen. So verliert er seinen Job. Er hat Schulden, bei seinem Stiefvater, einem Maulhelden und Macho mit allerlei Tätowierungen am Körper und bei anderen, jüngeren Männern, die ihm zum Beispiel in der U-Bahn über den Weg laufen. Sie nutzen Pauls Lage aus, um ihm seine Schwächen vorzuhalten.
Olga lässt ihr Kind bei der Mutter zurück, reist nach Wien. Eine Freundin hilft ihr. Zuerst arbeitet sie bei einer Reinigungsfirma in einer Putzkolonne,
dann bekommt sie eine Anstellung bei einer Familie. Dort kann sie sogar wohnen, im Keller in der Waschküche neben der Waschmaschine. Doch sie ist der Willkür der unerzogenen Kinder und der Frau des Hauses ausgesetzt, und als sie sich beginnt, mit den Kindern besser zu verstehen, kommt auch noch der Neid der Mutter hinzu, und Olga verliert ihre Anstellung wieder.
Derweil sehen wir Paul beim Bewerbungstraining des Arbeitsamtes: Er lernt, was »seriöses Warten« bedeutet, und »LMAA«:
»Lächle mehr als andere«. Einen Job findet er auch mithilfe seines neuerworbenen Wissens nicht. Also bekommt er durch seinen Stiefvater eine schwarze Arbeit als Fahrer. Auf seiner ersten Tour schafft er alte Spiel- und Süßigkeitsautomaten in die Ukraine. Danach betrinken sich sein Stiefvater und er, gehen in ein Nachtlokal, reißen eine Frau auf, und landen mit einer jungen Prostituierten auf dem Zimmer. Dort sagt sein Stiefvater zu Paul: »Ich zeig' Dir jetzt mal die Macht des
Geldes«, und lässt das junge Mädchen sich selbst befriedigen, auf allen Vieren kriechen und wie ein Hund bellen, und ihn oral befriedigen.
Olga arbeitet wieder bei der Putzkolonne – jetzt auf der Geriatriestation. Sie lernt die uralten, oft genug debilen und inkontinenten, oder anderweitig gestörten Menschen näher kennen. Einer der Männer sagt ihr, er wolle mit ihr zu sich nach Hause ziehen, und sie heiraten. Sie tanzt mit ihm. Als sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit kommt,
ist er gestorben. Olga bekreuzigt sich. Während ihrer Arbeit ruft Olga einmal heimlich auf der Krankenhausleitung zuhause an. Als sie ihrer Tochter ein Lied vorsingt, bricht sie in Tränen aus. Zugleich hat Olga mit der Krankenschwester, die sie nicht mag, und die in ihr eine Konkurrentin um die Gunst des feschen blonden Pflegers sieht. Bei der Faschingsfeier, bei der die Alten zumeist apathisch, aber bunt geschminkt herumsitzen, und ein Musiker das Lied singt – »Glücklich ist,
wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.« –, eskaliert die Situation. Der Pfleger tanzt mit Olga, die Krankenschwester versucht sie zu verprügeln, aber erfolglos. Olga ist stärker. In der letzten Szene sehen wir den Schlafsaal der Alten. Nicht alle können schlafen, »es stinkt« krächzt eine Alte, und dann die letzten Worte des Films: »Tot, tot.«
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Kleine Szenen. Aneinander gereihte Ausschnitte aus dem Leben. Man muss das alles so ausführlich schildern, um sich eine Vorstellung von dem Film machen zu können. Denn klarerweise geht es hier nicht nur um das, was erzählt wird, sondern auch um das wie. Und um den Zusammenhang zwischen beiden. Der ist hier nämlich entscheidend. Seidl erzählt nicht konventionell narrativ, sondern nach Art eines Diaabends – nur das die einzelnen Bilder bewegt sind: Er zeigt uns eins nach dem
anderen, ohne eine Hierarchie zwischen ihnen herzustellen.
Weil aber im Zentrum die Macht des Geldes und die Demütigung von Menschen stehen, hängen Moral und Ästhetik eng zusammen, ist es eine Frage, wie man das zeigt, und ob überhaupt. Denn ein Dokumentarfilm – Seidl firmiert ja immer noch als Dokumentarist, obwohl er auch schon in Hundstage einen Spielfilm gedreht hatte – über
eine Pornodarstellerin bei der Arbeit ist dann, wenn man partout nichts ausblenden, nichts nicht zeigen will, in der Konsequenz auch ein Porno. Dass Seidl diese Frage reflektiert, darf man annehmen, es ist dem Film aber nicht unbedingt anzusehen.
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Natürlich ist Import Export kein Porno. Mit einem Pornofilm gemein hat er zwar das Unhierarchische, Aneinandergereihte, das manchmal aufdringlich lange Hingucken, und die Unfreiwilligkeit einer gewissen Stilisierung. Mit Kunstfilmen haben Pornos ja zum Beispiel die langen Einstellungen gemeinsam, die das konventionelle Erzählkino vermeidet. Aber Seidl zeigt zwar alles, aber nur aus der Distanz. Insofern ohne eindringenden Blick, eher scheu, auf Abstand bedacht. Genau dies ist aber aus meiner Sicht das Kernproblem von Import Export: Nicht so sehr, dass die Bilder ständig und unübersehbar signalisieren: »Kunst!«. Sondern, dass der Film bei aller Nähe immer einen scheuen Abstand hält, Grenzüberschreitungen vermeidet, und sich deswegen seinen Gegenstand vom Leib hält, während er ihn doch seziert, und dem genauen Hingucken auf eine fremde Welt ästhetischen Mehrwert abgewinnt.
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Denn der Film läuft ja in Cannes. Import Export kommt mir vor als ein typischer Film für die gebildete, kunstbegierige akademische Mittelklasse. Die sich wie hinter einer Glasscheibe an den Riten des White Trash ergötzt, und durchaus auch mal erfüllt vom schockierten Kitzel, ablacht. Sind sie wirklich so? Ein Borat Reloaded also für die geschmackvollen Stände. Sind die Proleten wirklich so? Ja, sie sind. Sagt auch der Film und befindet sich im besten Einverständnis mit seinen Zuschauern. Da wird es dann voyeuristisch. In wohlkomponierten, edlen Bildern werden hier Angehörige der Unterschicht, des Prekariats ausgestellt. Das geschieht mit ethnologischer Sachlichkeit, die Seidl vermutlich als Indiz für seine Menschenliebe nehmen würde. Freunde, die mit Seidl arbeiten, betonen diesen Humanismus. Wüßten wir das nicht, käme es uns vor allem eitel vor. Als ob der Regisseur sich dauernd im Spiegel anguckt, und bestätigt: »Hey, was bin ich doch menschlich.«
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Das Ergebnis gleicht aber einem Kuriositätenkabinett. Einer Freak Show. Man muss noch mal betonen, dass die Bilder, die Seidl schafft, schön sind, etwas eindeutig Besonders, Unverwechselbares. Klassische Malerei und moderne Photographie haben die Bildkomposition erkennbar beeinflusst. Ein bisschen sieht das Ergebnis aus, wie Malerei von Velasquez, auf der die Menschen Goyas zu sehen sind: »Disparates«, »Desastres«, Irrenhausbilder.
Aber so sehr der Film Kälte und
Klischees zum Thema macht, so sehr ist er auch selbst von ihnen geprägt. Er will von Ausbeutung erzählen und beutet seinen Gegenstand selber aus, für den idealen Festivalfilm.
Natürlich ist der Film ein kluges Portrait alltäglicher Absurdität und ganz normaler Abgründe. Er ist ein Portrait des Leidens, das uns sanft darauf hinweist, wohin das alles führt: In den Verfall des Alters, in die Stunde des Todes. Das Leben als Sein zum Tode. Ist Seidl ein Katholik a la Heidegger? Jedenfalls
ist sein Film – das würde passen – ein Stück Antihumanismus, auch im heideggerschen Sinn. Aber was will er? Was will er wirklich? Darüber werden wir hier noch lange diskutieren.
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A propos Klischees: Die gefühlvolle und religiöse Ukrainerin, die sich um Alten kümmert ist ein einziges Klischee. Würde man sie aber als diebische Schlampe darstellen, wäre das nicht minder eines. Frage: Kann man überhaupt Osteuropäer jenseits des Klischees auf die Leinwand bringen? Wie? Oder sollte man jetzt einfach mal fünf Jahre lang keine Filme über Osteuropäer mehr im Kino zeigen? Man kann nur verlieren.
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Man muss das Schreiben über Import Export vielleicht auch in dem Sinn von hinten aufzäumen, dass man über die Reaktionen erzählt, die er bei den Zuschauern hinterlässt. Unmittelbar nach dem Screening fand ich mich nämlich in der unangenehmen Situation, mit Import Export einen Film verteidigen zu müssen
(und dann auch zu wollen), den zu verteidigen ich gar keine Lust hatte, im Gegenteil. Das Gespräch beim Essen mit den zwei Kolleginnen vom BR und von arte kreiste nämlich etwas zu schnell um die bei Seidl allerdings immer wieder rasch aufkommende Frage, warum man sich so etwas eigentlich anschauen sollte.
»Das was er zeigt, passiert täglich auf der Welt.« meint Andrea. Mag sein. Aber ist das nun ein moralisches Argument, muss man es also deshalb zeigen? Ist es überhaupt ein Argument?
Aber natürlich bin ich auch dafür, dass Seidl seine Filme machen darf, und finde, man sollte sich sie auch anschauen – und sei es nur um dann wie hier zwei Stunden dagegen anzuschreiben. Wir kommen ja nicht nach Cannes, um uns Spider-Man 3 3 anzugucken.
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Filme arbeiten, tun körperlich etwas mit dem Zuschauer, und wenn sich in Cannes tagelang mehrere Filme wie Import Export aneinanderreihen, sehnt man sich nach einem Ausgleich. Vielleicht heute Abend mit Tarantino.
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Die Toiletten entwickeln sich hier zunehmend zum Ort ganz besonderer Begegnungen. Von Fatih Akin habe ich schon erzählt. Heute nun wieder mal voller Festivalhektik auf dem Weg zum Örtchen ist die Tür versperrt, auch noch von einer in ein Gespräch vertieften Dame. Man setzt gerade an, um ihr betont genervt zu signalisieren, sie möge doch bitte zur Seite gehen, da erkennt man – Isabelle Huppert. Schön wie im Kino sieht sie aus, und wie schade, dass sie nicht so gestern Abend in der Bar dastand. Was Isabelle Huppert nun vor der Herrentoilette zu suchen hatte, ist natürlich eine andere Frage.
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In Cannes kann einem eben alles passieren. Was uns allerdings gestern passiert ist, kommt hoffentlich erst in 60 Jahren wieder vor. Plötzlich riss nämlich eine Naht am Gürtel, wahrscheinlich waren die vielen Buffets schuld, und er ließ sich nicht mehr schließen. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wäre die voriges Jahr in Italien gekaufte Jeans nicht derart modisch geschnitten, dass sie einem immer bis zum Oberschenkel herunterrutscht. Was tun? Eine gute Gelegenheit, die Improvisations-Fähigkeiten von „German Films“ zu testen, die ja hier einen großen Stand haben, der nicht zuletzt dazu da ist, das Ansehen des Deutschen Films im Ausland zu befördern. Und da wäre ein Kritiker in Unterhosen schon ein mittelschwerer Schlag. Also durfte ich ins Mini-Hinterzimmer des „German Films“-Pavillons, knotete drei nordseeblaue „German Films“-Bändchen zusammen und dann um die Hose. Es hielt, und so kann ich den „German Films“-Pavillon guten Gewissens weiterempfehlen. Da gibt es wirklich für alle Probleme eine Lösung.
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Nach dieser Werbeeinblendung kurz zur Eröffnung der Quinzaine. Die haben wir schon deshalb besucht, wie diese Reihe im Vorjahr die allerbeste des Festivals war, und weil der Trailer super ist. Bei der Eröffnung hielt Quizaine-Chef Olivier Pere dann eine sehr gelungene Rede, in der davon die Rede war, wie gute Filme zu sein haben: »poetic, exploratrice, independente et un refus de banalité.« Vor allem das letzte, sollten sich viele hinter den Spiegel stecken. In Cannes wird Realität.