60. Filmfestspiele Cannes 2007
Laisser tomber les filles… |
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Persöniche Palme für Mogari no mori (the Mourning Forest) von Naomi Kawase |
Es dauert keine fünf Minuten, da fliegt die erste Katze durch die Luft in Emir Kusturicas Promise Me This und auch eine Kuh wird bald folgen. Derart Jugo-magisch-realistisch geht es weiter: Der Film ist eine Zumutung, wie eigentlich alle Filme dieses grandios überschätzten Regisseurs: Lärmend, ordinär, grell und wichtigtuerisch in seinem pseudopoetischen Unsinn, sieht man ein einziges unerträgliches Gepose, und ich bin längst nicht der erste, als ich nach 30 Minuten den Saal verlasse.
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Dann in der Journalisten-Schlange zu Rebellion – The Litvinenko Case, einer russischen Dokumentation über den im Vorjahr ermordeten zum Westen übergelaufenen russischen Ex-Geheimdienstler, die das Festival am Freitag überraschend noch aus dem Hut zauberte und außer Konkurrenz zeigt – wohl auch um die Stimmung zum Ende des Festivals noch einmal hochzupushen und politischen Wirbel zu machen.
Vor mir stehen drei Amerikaner – zwei Männer, eine Frau –, schon auf 20 Meter Entfernung sah man ihre weißen Badges blitzen, an der man hier – Cannes ist selbstverständlich eine Klassengesellschaft – die wenigen am besten Akkreditierten unter den Kritikern erkennt. Neugierig höre ich ein bisschen hin, und merke dass die drei gar nicht so elitär sind, wie ich im ersten Augenblick gedacht hatte. Sie gucken durchaus auch neugierig auf ihre Umgebung, unterhalten die Umstehenden, und irgendwann wendet sich die dunkelhaarige Frau zu mir und fragt: »Did you see the Kusturica« – »Yes« – »What Did you think?« – »I didn’t like it and went out after 30 minutes. And you?« – »I was asleep« – »Asleep?? With all that noise?« – »At my hotel, not in the Cinema.« Dann greift sie sich meinen Badge: »And who are you?« Ich stelle mich vor, dann sie sich: »Manohla Dargis, New York Times.«
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So lernt man also auch mal die berühmtesten Kritikerkollegen kennen. In der folgenden Viertelstunde erzählte Dargis dann unter anderem von ihrer schlimmsten Festivalerfahrung berichtete: »Mexico-City. Man hatte mich eingeladen. Ich kam an, die Fahrt in die Stadt dauerte so lange wie der Flug von L.A., aber es gab kein Festival. Keine Plakate, keine Kinos. Irgendwann traf ich einen, der mir eine Festivaltasche überreichte. Die Infos seien alle in der Tasche. Aber die Tasche war leer. Da beschloss ich wieder abzufliegen. Nach 27 Stunden.«
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Vielleicht gibt es sogar ein Argument für den Film We Own the Night. Denn manchmal genügt eine einzige Szene, um einen Film gut zu finden. Und die gibt es auch hier: Ganz am Anfang die Liebeszene zwischen Joacquim Phoenix und Eva Mendez. Auch Sarika von der Deutsch-Französischen Filmakademie findet We Own the Night ganz passabel: »Der Held ist ein Waschlappen. Da sieht man mal, was für Typen den Weg zur Polizei finden. Aber genau das fand ich gut. Mal ein Normalo.«
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Das vorige Jahr war eigentlich kein extrem herausragender Cannes-Jahrgang und doch liefen 2006, wenn man sich mal kurz erinnern will, mit Flandres, Marie Antoinette, Pan’s Labyrinth und Summer Palace gleich vier herausragende, fesselnde, aufwühlende Filme, jeder in sich perfekt und allein schon die Reise wert. Nur Flandres bekam dann übrigens auch einen Preis. In diesem Jahr gibt es keine solchen Filme, für die man ganz entflammt und bedingungslos kämpfen will, sich einen Abend lang mit Freunden streitet. Mag ja ein romantisches Verlangen sein, ist aber trotzdem ganz essentiell. »Keiner Frage, die Qualität ist hoch. Aber die Filme in diesem Jahr sind alle sehr kalkulierend, nicht so zu Herzen gehend«, meint auch Dana vom „Filmkrant“. Vielleicht kommt deshalb der rumänische Abtreibungsfilm so gut an. Darin haben angeblich auch Männer geweint. Nur wir hatten wieder ein Herz aus Stein.
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Das änderte sich, als es wirklich keiner mehr erwartet hätte. Dabei begann Mogari no mori (The Mourning Forest) von der jungen japanischen Regisseurin Naomi Kawase wie das Klischee des typischen japanischen Spätfestivalfilms: Ein alter Mann schnitzt stundenlang ein Stück Holz, die Kamera lugt ihm bedeutungsvoll über die Schultern. Ein Wald guckt sattgrün. Nebelschwaden steigen auf und dampfen. Bäume rauschen im Wind. Das alles muss wohl Buddhismus sein denkt man, überlegt, auf welche Party man nachher noch gehen will, und als dann noch aus dem Mund eines Mönchs ein latent kulturpessimistischer Satz – »Einsamkeit ist ein Ergebnis des modernen Lebens« – mit Bedeutungsschwere vorgetragen wird, ist man nahe dran, hinauszugehen. Aber dann ist es doch mal kurz etwas intensiver, man bleibt noch drin, bevor wieder buddhistisches Mambo-Jambo einsetzt, und das Festival zum zweiten Mal nach Ulrich Seidl einen Geriatrie-Besuch unternimmt, diesmal auf Japanisch. Man lernt einen alten Mann kennen, der vor langer Zeit seine Frau verloren hat und so senil ist, dass er den Stand eines Vorschulkindes erreicht hat. Eine junge Pflegerin kümmert sich besonders intensiv und rührend um ihn, und mit der Zeit entwickelt sich ein besonders vertrauliches Verhältnis zwischen den beiden. Wir erfahren, dass die junge Frau vor kurzem ihren kleinen Sohn verloren hat. Und nach überaus schwerfälligem Anfang kommt der Film mehr und mehr in Fahrt. Und es kommt zu einigen ungemein filmischen Momenten, super Szenen, etwa wenn die beiden einmal Verstecken in einem Weinberg spielen. Besonders auffallend dabei: Die hervorragende Kamera.
Bei einem Ausflug der zwei läuft der alte Mann weg, die junge Frau geht hinterher, kann ihn kaum einholen. Immer tiefer dringen die beiden in den Wald vor und haben sich irgendwann verlaufen. Da setzt auch noch ein schweres Unwetter ein, Regenwasser bildet Sturzbäche, und die junge Frau bekommt einen hysterischen Anfall. Wir verstehen, dass sie an ihr Kind denkt, dass offenbar in einem solchen Sturzbach ertrunken ist. Dann hört der Regen auf, doch die beiden müssen im Wald übernachten.
Sie machen Feuer, als der Alte heftig friert, wärmt sie ihn mit ihrer Körperwärme. »At least we are alive, aren’t we?« sagt sie. Am nächsten Morgen scheint die Sonne, doch längst haben die beiden über die erzwungene, kathartische Rückkehr in den Naturzustand auch einen anderen Zustand ihrer selbst erreicht. Die Kamera begleitet das alles nervös, unsicher, mal ganz nahe dran, dann schüchtern zurückbleibend, dem Blick der beiden erst nach Sekunden folgend.
Sie laufen durch den
Wald, nur scheinbar ziellos, doch dann findet der Alte dort im Wald das Grab seiner Frau. Er gräbt selbst mit den Händen ein Loch, und legt sich hinein. »I am going to sleep in the earth.« Und der Film ist aus.
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Mag sein, dass sich das keiner ansieht, trotzdem ist es großartig. Und Mogari no mori ist meine persönliche Goldene Palme, einfach weil es der Film ist, dem es gelang, mich emotional noch mehr zu packen, als es den Coen-Brüdern oder Fincher gelungen ist, in deren Filmen man natürlich die Sinnlichkeit der Ideen und die Schönheit des Intellekts entdecken kann. Oder als es Seidl gelang, obwohl der Widerwille und die Aggression, den dessen Import Export auslöst, natürlich auch ein Gefühl ist.
Vielleicht geht es mit Mogari no mori aber auch wie 1999 mit Rosetta, der ganz am Schluss lief und den fast keiner mehr ansah. Und plötzlich gewann er – Jurypräsident David Cronenberg sei Dank – die
Palme d’Or.
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Was macht eigentlich eine wirklich gute Kamera aus? Angemessenheit ist der Begriff, der mir am ehesten einfällt. Natürlich ist das auch esoterisch.
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Bei Persepolis gibt es solche Fragen nicht. Der schwarzweiße Animationsfilm stammt von der Franco-Iranerin Marjane Satrapi, die hierin ihren eigenen bekannten Comic verfilmt, in dem sie ihre Jugend unter den Mullahs in den ersten Jahren nach der Revolution und die Geschichte ihrer Teheraner Familie rekapituliert – die sehr gebildet, sehr politisch, sehr
bürgerlich ist, eine Art von linksliberalem, republikanischem Bürgertum, wie es das in Deutschland gar nicht gibt.
Eine Jugend in einem laizistischen Land, das plötzlich verrückt wird, voller Schwärmerei für Punk und Adidas, Bruce Lee und Pommes Frites,
durchzogen von der großen Enttäuschung, dass es vor allem das Volk war, dass vom Schah befreit wurde, sich aber dann leichtfertig selbst neuen, ungleich schlimmeren Diktatoren hingab. »Vertraut dem Volk« sagte Marjanes
revolutionärer Onkel, bevor die Mullahs ihn in die Todeszelle warfen. unter dem Schah gab es 3000 politische Gefangene, unter Khomeini 300.000. Ein schön gemachter Film, der viele unbekannte Geschichten erzählt. Und eine Moral: »Jeder hat immer eine Wahl.«
Hübsch auch der Einfall, die Rolle der Satrapi von Chiara Mastrioanni sprechen zu lassen, und die ihrer Mutter von Mastroiannis leiblicher Mutter Catherine Deneuve. Bei allem Engagement ist Persepolis dann doch ein ganz klein bisschen enttäuschend, weil er zu oft auf einer privaten Ebene verharrt. Aber unbedingt ein Preiskandidat, auch aus politischen Gründen.
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Irgendwann hatten alle Journalisten ein rosafarbenes Päckchen in ihrem Fach. Es wurde zum begehrtesten Giveaway von Cannes: §s enthielt ein Kondom und ein paar Bilder von leichtbekleideten jungen Menschen und warb für den „Certain-Regard“-Film Pleasure Factury aus Singapur. Der Film selbst war eine Art Softporno und ein Hybrid aus allerlei Klischees über das Berufsfeld der Prostituierten und über Asien, dessen eigene Position völlig unklar blieb.
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Für weitaus mehr Pleasure sorgte Abel Ferrara. Sein neuer Film Go Go Tales ist zwar grenzwertig in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber den Zuschauern und elementaren Grundsätzen des Erzählhandwerks. So einen Film hat es noch nicht gegeben. Gewiß auch einfach Unsinn. Aber doch ein Film voller Leidenschaft, den man gern und erst gegen Ende etwas erschöpft ansieht. Auch hier sehr viel nackte Haut, unter anderem von Asia Argento, hemmungslos folgt der Film den Obsessionen dieses Regisseurs. Mit einer furiosen ersten Szene hat der Film den Zuschauer schon am Haken: Eine Bar zeigt Sex und Geld, Drinks und Bob Hoskins, Frauen die Tanzen und Männer die reden. In dieser Bar bleiben wir fast durchgehend, der Boss ist pleite, und gewinnt dann in der Lotterie, zwischen diesen beiden Polen sieht man einfach schöne Frauen schöne Dinge tun, und atmet einen Hauch von Cassavettes. Und ein schöner Satz fällt: »A day without culture is like a day without… – You know, what I am thinking.«
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Noch einmal schöne Frauen bei allerdings schlimmen Dingen gab es gleich hinterher: Death Proof von Tarantino. Ein völlig verrücktes Revival des 70er-Exploitation-Genres. Viel zu laut, zuerst unerträglich, dann grooved man sich ein, und freut sich wenn drei leichtbekleidete Models coole Sprüche klopfen und Kurt Russel im Rahmen einer Autoverfolgungsjagd zur Strecke bringen. Da Beste am Film ist die Musik – zum Beispiel der super-France-Galle-Song „Laisser tomber les fillmes“, den immerhin Serge Gainsbourg schrieb – ansonsten ist der Film, was er ist.
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»Auf der Bühne verraten sich alle«, sagt RP Kahl. Woher er das überhaupt weiß, möchte man ja schon wissen. Denn in den Fatih Akin Film ist er nicht hineingekommen – dank seiner weißen Schuhe. Statt diese dann mit einem schwarzen Edding zu übermalen, den man(n) für solche Fälle immer in seiner Herrenhandtasche – wer weiße Schuhe trägt, hat auch die – haben sollte, ging RP in L’homme perdu von Danielle Arbid aus der Quinzaine – und war angenehm überrascht. Die Regisseurin beobachtet zwei Männer auf der Suche nach dem Extremen. Ein Film voller Antonioni-Anleihen, bei dem man bis zum Ende nicht genau sagen kann, worum es geht. Aber die Bilder faszinieren, und das Gefühl mit dem man drinsitzt, gut.
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Irgendwo hat RP dann auch noch Lucy, Luisa, Simone und Christina getroffen, die für die SZ-Online berichten. Lucy wurde die Geldbörse mit 300 Euro und dem Ausweis geklaut, weshalb sie jetzt auch ihr e-ticket nicht benutzen kann. RP spendierte den Vieren immerhin das Taxi. „Laisser tomber les filles“ eben – aber nur, um sie danach wieder aufzufangen.
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Gut aufgenommen wurde Fatih Akins Wettbewerbsfilm Auf der anderen Seite, über den ich gestern schon geschrieben hatte. Überraschend war das für mich, weil ich unmittelbar nach der Pressevorführung eigentlich nur Leute getroffen hatte, die vom Film im Gegensatz zu mir mehr oder weniger enttäuscht waren – allerdings fast alle Deutsche. Und wer Gegen die Wand fürs Kino-Nonplusultra hält, muss auch von diesem Film enttäuscht sein, der eher Jazz statt Rock bietet, Offenheit zulässt und nicht auf jede Frage eine Antwort geben will.
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Schon allein ein Grund, die Türkei möglichst schnell in die EU aufzunehmen, ist die türkische Musik. Ohne Frage eine kulturelle Bereicherung. Das bewies die Party zu Akins Film am Mittwoch. Plötzlich präsentierte sich der deutsche Film heiter und gelassen. Am nächsten Tag war Akin dann schon zu Beginn der Interviews so heiser, wie andere vielleicht an deren Ende. Er hatte selbst aufgelegt, und wenig geschlafen.
»Ich bin Deutscher und bin froh im sicheren Deutschland zu leben. In
der Türkei würde ich sofort in den Knast kommen.« erzählte Akin vielleicht ein bisschen übertrieben.
Aber es hat schon seine ironische Seite, dass das derzeitige internationale Aushängeschild des deutschen Kinos ein deutsch-türkischer Regisseur ist, dessen Werke zu immer größeren Teilen in der Türkei spielen, in türkischer Sprache und fast ausschließlich mit türkischen Darstellern – so wie übrigens auch Volker Schlöndorffs außer Konkurrenz gezeigter Ulzhan ausschließlich in Kasachstan. Das ist kein Sonderfall, sondern repräsentiert den Trend des Weltkinos zur Auflösung strenger Zugehörigkeiten im Globalfilm: Chinesen drehen in den USA, Österreicher in Frankreich und der Ukraine, Inder in der Schweiz. Und es zeigt auch, wie überholt das Denken in nationalen Kategorien eigentlich ist. So wie Film immer das Produkt eines ganzen Teams
ist, ist er auch die Verschmelzung unterschiedlichster kultureller Einflüsse.
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Und dem Kollegen einer süddeutschen Tageszeitung blieb es wieder mal vorbehalten, statt über Filme zu schreiben, leichte Mädchen zu erwähnen, die er angeblich nachts an der Bar des Carlton kennengelernt hat. Tja, eigentlich würden wir auch gerne einmal des Nachts eines jener gefallenen Mädchen kennenlernen und selbstverständlich beim Absturz auffangen – die hier vom Festival angezogen werden, wie Motten vom Licht. Bevor wir morgen über die Preise berichten.