30.05.2007
60. Filmfestspiele Cannes 2007

Der neue Rumänien-Chic

4 luni, 3 saptamâni si 2 zile
Einmal mehr »small film, small country«: Goldene Palme für 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile
(Foto: Concorde)

Goldene und andere Palmen, die Invasion der Barbaren, Cannes goes Berlinale

Von Rüdiger Suchsland

Tja, es musste ja wohl so kommen. Ob jetzt ausge­rechnet dieser Film die Goldene Palme hätte gewinnen müssen? Denn dies ist eines der wenigen Werke, die man sich auch auf der stilis­tisch braveren Berlinale hätte vorstellen können. Aber allen anderen Vorzei­chen zum Trotz hat im Jubiläums­jahr 2007 der Favorit der inter­na­tio­nalen Kritiker tatsäch­lich die Goldene Palme gewonnen: 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) vom Rumänen Cristian Mungiu. »Small film, small country« freute sich der Regisseur – aber kann das ein Argument für einen Preis sein. Kaum zufällig waren es genau dieselben Worte, mit denen die Regis­seurin von Grbavica bei der Berlinale 2006 gejubelt hatte. Cannes goes Berlinale – zumindest in diesem Punkt, aber gottlob nur in diesem.

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Ein Fehl­ur­teil der Jury um Stephen Frears, die auch sonst in ihren Entschei­dungen nicht durch Origi­na­lität glänzte, sondern jedem Erdteil und Stil fein säuber­lich ihr Palmchen abgab, sich um klare Stel­lung­nahmen drückte und das US-Kino etwas zu deutlich an den Rand drängte. Dass hier Kompro­miss­ent­schei­dungen fielen und der Mut zum Extremen, zum Statement wieder einmal fehlte, zeigt auch, dass mit Ulrich Seidls umstrit­tenem Demü­ti­gungs­ka­lei­do­skop Import Export ausge­rechnet einer der wenigen kontro­versen Filme ganz leer ausging.

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Es bleibt dabei: Ein schlechter Film. Ein plumper und doch nur geposeder verité-Realismus des banalen Alltags. Mit in jeder Hinsicht beschei­denen Mitteln erzählt Mungiu von zwei Frauen im Rumänien kurz vor der Revo­lu­tion ‘89. Eine muss abtreiben, die andere hilft ihr. Die Welt ist kalt und grau, obwohl das kein Wunder ist im Februar. In langen Einstel­lungen, immer Halb­to­talen, fast nie Nahauf­nahmen, beob­achtet man sie zuerst, wie sie ein Hotel anmieten, stun­den­lang mit Hotel­por­tier verhan­deln, stun­den­lang tele­fo­nieren, Geld zusam­men­kratzen, allein acht Minuten lang hört man zu, wie der Arzt alle Details der illegalen Prozedur erklärt. Stun­den­lang zeigt eine Einstel­lung aus dem Inneren des Autos die Frau im Halb­profil, wie sie zuhört, wie ein Mann mit seiner Mutter schimpft. Das ist alles völlig unsinn­lich, unpro­duktiv nerv­tö­tend.
Dann verge­wal­tigt der Arzt beide Frauen – das ist sein Preis, und das Einzige, wobei der Film verschämt wegschaut. Genau hinein stößt die Kamera dann dafür ganz lange ins blutige Fleisch des frisch abge­trieben Fötus, auf dem sie minu­ten­lang ruht.

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Mungius Film steht für ein mora­li­sie­rendes Kino unver­hüllter Pädagogik, wie es glück­li­cher­weise in der Minder­heit ist in Cannes – aber häufig Preis­chancen hat, weil es perfekt die Erwar­tungen des west­li­chen Publikums bedient. Jede Wette: Wenn der iden­ti­sche Film aus Frank­reich, Spanien oder Deutsch­land käme, wäre er nicht ein Zehntel so schick. Rumänien und Elend und Depres­sion aus dem ehema­ligen Ostblock sind dagegen derzeit überaus en vogue – auch der Preis der Kriti­ker­jury und der des „Certain Regard“ – Cali­fornia Dreamin' von Cristian Nemescu, auch kein Beispiel für fein­sin­nige Filmkunst – gingen an rumä­ni­sche Filme. Das ist eine Masche, die in ein paar Jahren genauso vergessen sein wird, wie heute schon Kusturica. Und ähnlich wie dieser ist auch 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile politisch reak­ti­onär.

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Überhaupt: Es war diesmal ein heim­li­ches Osteuropa-Festival: Neben fünf Filmen im Wett­be­werb und Import Export, der in der Ukraine spielt und We Own the Night, der unter klischee­trie­fenden russi­schen Amis spielt, gab es auch noch einen Russen außer Konkur­renz, die desas­tröse Doku­men­ta­tion Rebellion – The Litvi­nenko Case von Andrey Nekrasov und Olga Konskaya über Litwi­nenko, den ermor­deten Ex-Geheim­dienstler. Alles was der Film zeigt, ist zwar wahr, aber das stimmt zwar, bringt aber nix. Denn wenn alles mit allem zu tun hat, ist nichts wichtig. Und man möchte dann auch wissen, was für schlimme Dinge Litwi­nenko auf dem Kerbholz hat aus seiner Zeit als Agent. Man sieht gleich, das wird nix. Zu Mussorgsky-Musik wird Litwi­ni­enko zum Märtyrer, der tatsäch­lich das Chris­tentum und den Islam versöhnen wollte. Was ein Unsinn!

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Zurecht gerückt wurde dieses Bild aber durch die Preise für Julien Schnabel, Gus Van Sant und Fatih Akin. Alle diese Filme leben von einma­liger Bild­sprache und einem neugie­rigen, suchenden Blick, der nicht schon vorher weiß, was er sehen will, von Bildern, die nicht Thesen illus­trieren. Grund­sätz­lich erlebte man in Cannes den Triumph der Bilder über den Rest. Kein Wunder, dass in vielen Filmen die Kame­ra­leute als eigen­s­tän­dige Künstler aus dem Schatten der Autoren­filmer hervor­traten: Chris­to­pher Doyle bei Van Sant, Fred Keleman bei Bela Tarr, Ed Lachman bei Ulrich Seidl waren das Beste der jewei­ligen Filme und drückten ihnen jeweils ein Stück eigenen Stils auf.

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Das einzige, was man kriti­sieren könnte, ist, dass sehr wenige Filme im Wett­be­werb waren, die wirklich aufregten, zum Streit einluden, oder so zu Herzen gingen wie Kawases Film. Ein bisschen kühl und ein bisschen düster stellt sich das Gesamt­bild im Rückblick dar: Vier Hoch­zeiten stehen geschätzte 67 Todes­fälle, zwei Selbst­morde und zwei Abtrei­bungen gegenüber. Allein dreimal mussten Mütter mit dem Tod ihres Kindes fertig werden. Das Bild, das das anspruchs­volle Kino von der Welt zeichnet, ist also nicht erfreu­lich – aber wie könnte es auch, wenn Guan­ta­namo, Folter, Bomben und Terror in den Nach­richten den Ton angeben?

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Viele der Filme drehten sich um Religion, kaum einer zeigte »starke Frauen«, in mehr als einem hingegen kam gar keine Frau in tragenden Rollen vor. Die Rückkehr der Bilder geht also einher mit einer Rückkehr der Religion und der konser­va­tiven Frau­en­bilder. Man kann nach zwölf Tagen Cannes schon anti­re­li­giös und femi­nis­tisch werden.

Auch die Doku­men­ta­tionen der Neben­reihen bestä­tigten den Gesamt­be­fund: Zum Opti­mismus besteht kein Anlass, und zu Utopien einer schönen neuen Welt scheint zur Zeit kein Filme­ma­cher Lust zu haben. Zumindest in Europa und Asien ist die Leinwand dagegen wieder ein Mittel zur Aufklärung und zur Ausein­an­der­set­zung mit der Gegenwart, für Welt­flucht ist Hollywood zuständig. Aber mit den Filmen von Van Sant, Coen und Fincher kamen einige der bittersten Beiträge aus den USA und bewiesen, dass auch dort das unab­hän­gige Kino quick­le­bendig ist.