60. Filmfestspiele Cannes 2007
Der neue Rumänien-Chic |
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Einmal mehr »small film, small country«: Goldene Palme für 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile | ||
(Foto: Concorde) |
Tja, es musste ja wohl so kommen. Ob jetzt ausgerechnet dieser Film die Goldene Palme hätte gewinnen müssen? Denn dies ist eines der wenigen Werke, die man sich auch auf der stilistisch braveren Berlinale hätte vorstellen können. Aber allen anderen Vorzeichen zum Trotz hat im Jubiläumsjahr 2007 der Favorit der internationalen Kritiker tatsächlich die Goldene Palme gewonnen: 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) vom Rumänen Cristian Mungiu. »Small film, small country« freute sich der Regisseur – aber kann das ein Argument für einen Preis sein. Kaum zufällig waren es genau dieselben Worte, mit denen die Regisseurin von Grbavica bei der Berlinale 2006 gejubelt hatte. Cannes goes Berlinale – zumindest in diesem Punkt, aber gottlob nur in diesem.
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Ein Fehlurteil der Jury um Stephen Frears, die auch sonst in ihren Entscheidungen nicht durch Originalität glänzte, sondern jedem Erdteil und Stil fein säuberlich ihr Palmchen abgab, sich um klare Stellungnahmen drückte und das US-Kino etwas zu deutlich an den Rand drängte. Dass hier Kompromissentscheidungen fielen und der Mut zum Extremen, zum Statement wieder einmal fehlte, zeigt auch, dass mit Ulrich Seidls umstrittenem Demütigungskaleidoskop Import Export ausgerechnet einer der wenigen kontroversen Filme ganz leer ausging.
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Es bleibt dabei: Ein schlechter Film. Ein plumper und doch nur geposeder verité-Realismus des banalen Alltags. Mit in jeder Hinsicht bescheidenen Mitteln erzählt Mungiu von zwei Frauen im Rumänien kurz vor der Revolution ‘89. Eine muss abtreiben, die andere hilft ihr. Die Welt ist kalt und grau, obwohl das kein Wunder ist im Februar. In langen Einstellungen, immer Halbtotalen, fast nie Nahaufnahmen, beobachtet man sie zuerst, wie sie ein Hotel anmieten, stundenlang mit
Hotelportier verhandeln, stundenlang telefonieren, Geld zusammenkratzen, allein acht Minuten lang hört man zu, wie der Arzt alle Details der illegalen Prozedur erklärt. Stundenlang zeigt eine Einstellung aus dem Inneren des Autos die Frau im Halbprofil, wie sie zuhört, wie ein Mann mit seiner Mutter schimpft. Das ist alles völlig unsinnlich, unproduktiv nervtötend.
Dann vergewaltigt der Arzt beide Frauen – das ist sein Preis, und das Einzige, wobei der Film verschämt
wegschaut. Genau hinein stößt die Kamera dann dafür ganz lange ins blutige Fleisch des frisch abgetrieben Fötus, auf dem sie minutenlang ruht.
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Mungius Film steht für ein moralisierendes Kino unverhüllter Pädagogik, wie es glücklicherweise in der Minderheit ist in Cannes – aber häufig Preischancen hat, weil es perfekt die Erwartungen des westlichen Publikums bedient. Jede Wette: Wenn der identische Film aus Frankreich, Spanien oder Deutschland käme, wäre er nicht ein Zehntel so schick. Rumänien und Elend und Depression aus dem ehemaligen Ostblock sind dagegen derzeit überaus en vogue – auch der Preis der Kritikerjury und der des „Certain Regard“ – California Dreamin' von Cristian Nemescu, auch kein Beispiel für feinsinnige Filmkunst – gingen an rumänische Filme. Das ist eine Masche, die in ein paar Jahren genauso vergessen sein wird, wie heute schon Kusturica. Und ähnlich wie dieser ist auch 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile politisch reaktionär.
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Überhaupt: Es war diesmal ein heimliches Osteuropa-Festival: Neben fünf Filmen im Wettbewerb und Import Export, der in der Ukraine spielt und We Own the Night, der unter klischeetriefenden russischen Amis spielt, gab es auch noch einen Russen außer Konkurrenz, die desaströse Dokumentation Rebellion – The Litvinenko Case von Andrey Nekrasov und Olga Konskaya über Litwinenko, den ermordeten Ex-Geheimdienstler. Alles was der Film zeigt, ist zwar wahr, aber das stimmt zwar, bringt aber nix. Denn wenn alles mit allem zu tun hat, ist nichts wichtig. Und man möchte dann auch wissen, was für schlimme Dinge Litwinenko auf dem Kerbholz hat aus seiner Zeit als Agent. Man sieht gleich, das wird nix. Zu Mussorgsky-Musik wird Litwinienko zum Märtyrer, der tatsächlich das Christentum und den Islam versöhnen wollte. Was ein Unsinn!
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Zurecht gerückt wurde dieses Bild aber durch die Preise für Julien Schnabel, Gus Van Sant und Fatih Akin. Alle diese Filme leben von einmaliger Bildsprache und einem neugierigen, suchenden Blick, der nicht schon vorher weiß, was er sehen will, von Bildern, die nicht Thesen illustrieren. Grundsätzlich erlebte man in Cannes den Triumph der Bilder über den Rest. Kein Wunder, dass in vielen Filmen die Kameraleute als eigenständige Künstler aus dem Schatten der Autorenfilmer hervortraten: Christopher Doyle bei Van Sant, Fred Keleman bei Bela Tarr, Ed Lachman bei Ulrich Seidl waren das Beste der jeweiligen Filme und drückten ihnen jeweils ein Stück eigenen Stils auf.
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Das einzige, was man kritisieren könnte, ist, dass sehr wenige Filme im Wettbewerb waren, die wirklich aufregten, zum Streit einluden, oder so zu Herzen gingen wie Kawases Film. Ein bisschen kühl und ein bisschen düster stellt sich das Gesamtbild im Rückblick dar: Vier Hochzeiten stehen geschätzte 67 Todesfälle, zwei Selbstmorde und zwei Abtreibungen gegenüber. Allein dreimal mussten Mütter mit dem Tod ihres Kindes fertig werden. Das Bild, das das anspruchsvolle Kino von der Welt zeichnet, ist also nicht erfreulich – aber wie könnte es auch, wenn Guantanamo, Folter, Bomben und Terror in den Nachrichten den Ton angeben?
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Viele der Filme drehten sich um Religion, kaum einer zeigte »starke Frauen«, in mehr als einem hingegen kam gar keine Frau in tragenden Rollen vor. Die Rückkehr der Bilder geht also einher mit einer Rückkehr der Religion und der konservativen Frauenbilder. Man kann nach zwölf Tagen Cannes schon antireligiös und feministisch werden.
Auch die Dokumentationen der Nebenreihen bestätigten den Gesamtbefund: Zum Optimismus besteht kein Anlass, und zu Utopien einer schönen neuen Welt scheint zur Zeit kein Filmemacher Lust zu haben. Zumindest in Europa und Asien ist die Leinwand dagegen wieder ein Mittel zur Aufklärung und zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart, für Weltflucht ist Hollywood zuständig. Aber mit den Filmen von Van Sant, Coen und Fincher kamen einige der bittersten Beiträge aus den USA und bewiesen, dass auch dort das unabhängige Kino quicklebendig ist.