61. Filmfestspiele Cannes 2008
Der blutrote Teppich |
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Auf Wolke 7, zum Glück: Serbis von Brillante Mendoza |
Blutrot färbt sich in diesen Tagen der Teppich an der Croisette. Nach Ehedramen und Familienfeiern, Filmen über Blindheit und Gefängnisse wurde am Sonntag kräftig gekillt.
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»Tutto aposto!« – »Alles klar!« Unbedingt. Alles klar, und alles wie immer in Sizilien. Die Mafia nimmt ein Sonnenbad im Bräunungsstudio, die Mütter haben Angst um ihre Söhne, Laster bringen Giftmüll, der in den Bergen verscharrt wird, und Chinesen, die den Leuten das Leben noch schwerer machen. Und ab und zu liegt einer erschossen in irgendwelchen Ecken der heruntergekommen Sozialbauten am Rand der Großstadt. Neuerdings trägt sogar Don Ciro, seit Jahrzehnten der Buchhalter
im Viertel, eine kugelsichere Weste.
Matteo Garriones Film Gomorra, der am Sonntag im Wettbewerb von Cannes seine Premiere erlebte, ist – frei nach Roberto Savianos auch auf Deutsch (bei Hanser) erschienenem Enthüllungsbuch – ein facettenreiches Portrait der mafiösen Strukturen des sizilianischen Alltags und der italienischen Gesellschaft. Ein durch und durch korruptes
Leben, Schuld ohne Sühne, und ein intelligenter Film, der neben dem Erwartbaren – die Kleinen müssen büßen, die Großen lässt man laufen – doch auch manches Neues bietet, und nicht zuletzt als Quasi-Dokumentation funktioniert. Ohne klare Hauptfiguren, erst recht ohne jene »Sympathieträger«, ohne die deutsche Fernsehsender kein Drehbuch mehr finanzieren, entfaltet der Film ein soziales System und stellt dieses selbst ins Zentrum. Ähnlich wie in Altmans Short Cuts und all jenen Kinowerken, die seitdem entstanden, kristallisieren sich aus diesem Figurennetzwerk dann doch gewisse Erzählstränge und Geschichten heraus: Etwa Signore Pascuale, ein Schneider, der schon zum wiederholten Mal gezwungen wird, den Druck – zu wenig Geld, zu viele Überstunden – an seine Arbeiter weiterzugeben, und sich schließlich entschließt, zu den Chinesen
überzulaufen. Er sägt damit letztlich zwar an seinem eigenen Ast, aber kurzfristig hilft ihm der Deal. Und an mehr als an den nächsten Tag, das begreift der Zuschauer schnell, kann man an diesem Ort, in seiner Lage sowieso nicht denken.
Oder den Vater, der den braven Geschäftsmann mimt, aber dreckigen Abfall verscharrt, und dabei gnadenlos seine Mitarbeiter über die Klinge springen lässt – die andererseits, auch da ist Garrione gnadenlos ehrlich, trotz aller Not auch ein ganzes
Stück selbst schuld sind an ihrem Schicksal. Als sein Sohn es dem Vater dann irgendwann doch vorhält, zeigt der Vater auf ein prächtiges Obstfeld: »Was siehst Du hier? Schulden! Du kannst ja Pizza backen.«
Oder zwei dumme 16-Jährige, die auf der Vespa kleine Raubzüge an Schwächeren begehen, und wetteifern, wer Al Pacinos Tony Montana in DePalmas Scarface am ähnlichsten sieht. Aber sie kennen
ihre Grenzen nicht, und sind von Anfang an als Loser erkennbar. Gomorra schildert eine Hobbessche Situation, ein Dasein in einem unerklärten Bürgerkrieg. Jeder ist dem anderen ein Wolf in dieser Welt.
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Da stand er dann auf der Bühne im Festivalpalais, kräftig, fast ohne Hals, mit riesigen Händen, und wenn er lächelt, dann denkt man unwillkürlich auch ganz kurz an King Kong, auch wenn das natürlich ein Gedanke nahe am Rassismus ist: »Iron Mike«, bürgerlich Mike Tyson, mehrfacher Boxweltmeister und bis heute Rekordhalter mit dem schnellsten K.O. aller Zeiten. Mike Tyson steht naturgemäß im Zentrum des Films, der TYSON heißt, und wird hier an der Croisette außer Konkurrenz gezeigt. Er stammt von James Toback, der selbst wie das Objekt seiner filmischen Neugier New Yorker und ein ziemlich wilder und facettenreicher Bursche ist. Die Größte der vielen Qualitäten von Tobacks Kino ist seine Ehrlichkeit und Direktheit, die Tatsache, dass er mit seinen Obsessionen nicht hinter dem Berg hält: Frauen, Drogen, Halbwelt, latente Gewalt und die Korruption des American Dream interessieren ihn, und viel Kompromisse hat Toback noch nie gemacht, wohl auch, weil er gar nicht anders kann. Insofern ist er bei Mike Tyson genau an den Richtigen gekommen.
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Schon einmal, 1999 in seinem Spielfilm Black and White hat Toback Tyson in einem Film auftreten lassen, in einer Szene, die jedem unvergesslich ist, der sie gesehen hat, bringt er Tyson mit Claudia Schiffer zusammen in ein Bild, und auch da dachte man schon an King Kong und an die weiße Frau. Tyson versetzt darin auch Robert Downey Jr. einen Kinnhaken, und Brooke Shields spielt mit und die Musik ist von Schostakowitsch – diese Beschreibung allein sollte genügen, um klar zu machen, womit man es hier zu tun hat.
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Auch TYSON ist ein virtuos, mutig und spannend. In Mischung aus Splitscreentechniken und Talking Heads kommt der Boxer selbst ausführlich zu Wort. Überraschend hell ist seine Stimme, und auch in der immer wieder durchscheinenden Unsicherheit ähnelt dieses Riesenbaby an »The Voice« Til Schweiger, der übrigens eigentlich endlich mal einen Boxer spielen sollte. Toback erzählt Tysons Leben chronologisch, doch immer wieder wird alles überdeckt von der Wucht Tysons im Boxring, ein Kampfapparat, ein Tier, das doch gerade in seiner scheinbar hemmungslosen Zerstörungswucht und absoluten Körperlichkeit verletzlich wirkt – als kämpfe er nur so schonungslos, um möglichst schnell wieder den unbehaglichen Ort des Boxrings verlassen zu dürfen. So gelingt Toback am Ende das Portrait eines sensiblen, komplexen Menschen – genau das, was Kino tun sollte.
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Facetten der Körperlichkeit zeigt auch der Deutsche Andreas Dresen: Wolke 9 heißt sein in der Sektion »Un Certain Regard« gezeigter Film. Eine Geschichte über frisches Verliebtsein und das Glück der Verführung – nur mit dem kleinen entscheidenden Zusatz, dass das Paar im Zentrum des Films, das hier ausführlich beim Sex gezeigt wird, 76 bzw. 65 Jahre alt ist.
Bemerkenswert, wie diese
Tatsache den Film bzw. seine Wahrnehmung verändert: Befremden, ein Hauch von Abwehr wechselt sich ab mit Faszination. Das Thema Runzelsex ist ja inzwischen auch durchaus en vogue, und damit wird der Film der auch Nine Songs Im Altersheim heißen könnte, am Ende modischer als er wohl sein möchte.
Ein bisschen arg klein und spießig bleibt die Welt auch hier, wie eigentlich immer in den Filmen dieses Regisseurs, der genauso schlecht gekleidet ist wie seine
Figuren. Die Frage, die man sich ja schon öfters gestellt hat, stellt sich auch hier: Wie spießig ist eigentlich Dresen? Ist er nun das, was er zeigt, und wenn nicht, warum zeigt er es dann?
In jedem Fall kommt Wolke 9 ganz nahe an das heran, was Dresen-Filme ausmacht: Es geht um das Zeigen des Alltags, des Normalen, des Normalfalls als Normalfall, und auch das Unnormale wird hier noch
veralltäglicht und integriert – wobei man dann natürlich gleich wissen möchte, was das denn sein soll: Normalität? Denn als solche gibt es diese ja genausowenig, wie »die Wirklichkeit«.
Bei Dresen stellt sich allerdings immer wieder auch der Eindruck ein, dieses Beharren auf Normalität und Alltäglichkeit habe etwas zu Betontes, sei am Ende eben doch nicht so Normales – gerade weil er offenbar insistieren muss.
Was an dem Film dann wirklich stört, abgesehen davon,
dass man ihn aus einer gewissen PC-ness ja eigentlich nicht schlecht finden darf, und dass die latent im Raum stehende Behauptung, über-60-jährige nackte Körper seien schön, eben doch nur eine Behauptung ist, ist die Tatsache, dass er seiner eigenen Geschichte nicht über den Weg traut. Denn am Ende wird die fremdgehende Ehefrau vom Film moralisch doch in den Senkel gestellt: Ihr Mann, der zunächst mit einem »Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank« noch recht gelassen reagiert hatte,
bringt sich nämlich am Ende nach 30 Ehejahren aus Kummer um.
Als Film ist WOLKE 9 allerdings Dresens bisher beste Arbeit: Sparsame Dialoge, eine diskrete, dabei direkte und neugierige Kamera, die immer noch etwas mehr zeigt und erzählt, als die Bilder sehen lassen.
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Das derzeit mit Abstand hippste Kinoland heißt nicht Korea, oder Türkei und schon gar nicht Amerika. Es sind die Philippinen. Der größte Star des dortigen Kinos ist seit vergangenem Jahr Brillante Mendoza, dessen neuer Film Serbis ebenfalls am Sonntag Premiere hatte, eine der besten Arbeiten im Wettbewerb: Ein exzellenter Film, der beherrscht wird von der wahnsinnigen
Geräuschkulisse der Hauptstadt Manila. Tag und Nacht lässt der Straßenlärm nicht nach, und dringt auch durch Wände der Häuser. »Familiy« steht an der Seite des Hauses in längst stumpf erloschener Neonschrift. Und eine Familie steht auch im Zentrum des Films. Drei Generationen leben in dem heruntergekommenen, verdreckten Gebäude, sie betreiben eine Kino, das alte Filme zeigt, die Titel haben wie »Bedmates« und »Frolic in the Water«, und im Dunkel des Kinos bieten junge Männer und
Transvestiten ihre Körper feil. Der Film bietet das intensive Portrait eines einzigen Tages im Leben der Familie: Kleine Reparaturen, große Verletzungen, einer der Söhne hat ein Mädchen geschwängert, das Haus geht langsam aus dem Leim und Geldsorgen machen das Leben schwer, Trost bieten nur die Bilder der Mutter Gottes – fast ein Wunder, das hier nicht auch noch die Mafia auftaucht, und Schutzgelder kassiert.
Auch Mendoza zeigt, wie Dresen Normalität. Doch sein Film legt genau
die Schwächen von Dresen noch deutlicher bloss: Normal sein und Alltäglichkeit sind hier nämlich kein moralischer Wert – und ein ästhetischer schon gar nicht. Mendoza gleitet nie ins Spießige oder einfach Langweilige ab. Seine Welt ist hässlich und arm, hat auch schöne und faszinierende Züge, und ähnelt in seinen Hoffnungen und kleinen Fluchten, in Utopien und Sehnsüchten dem unseren am Ende doch überraschend. Nur Mendozas Blick ähnelt dem unseren nicht. Denn er verzichtet
auf die Verklärungen dieses Lebens, wie auf billigen Trost.
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Erwähnt werden muss hier natürlich auch der Wahnsinnshype um Indiana Jones, der am Sonntag seinen Höhepunkt und endgültig groteske Züge erreichte und die dazugehörige Verrücktheit der Medienvertreter. Vielleicht liegt das daran, dass Indiana Jones auch ein Generationenfilm ist. Und die meisten der Chefredakteure, die jetzt an den Entscheidungsinstanzen sitzen, sind Fans seit ihrer Kindheit.
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Jetzt ist die Katze aus dem Sack, und das Gefühl beim Zuschauer ähnelt ein wenig dem nach einem Weihnachtsfest, bei dem die Vorfreude am Ende schöner war, als die Bescherung selbst. Ein älterer Herr will es nochmals wissen – darum geht es für Indiana Jones, jenen merkwürdigen Hybrid aus Wissenschaftler und Actionhelden, wie für seinen Regisseur, der auch eine undurchschaubare Mischung aus Industrieingenieur und Autorenfilmer ist. Bei der Pressekonferenz in Cannes,
Spielbergs erstem Auftritt an der Croisette, seit er 1985 mit The Color Purple im Wettbewerb antrat, sprach Spielberg über seine Überlegungen bei diesem Recycling einer Kinofigur, die nach ihrem dritten und letzten Auftritt 1989 schon längst auf dem Schrottplatz der Filmheldengeschichte gelandet war: »Es konnte nicht darum gehen, einfach so weiterzumachen, wie in den 80er Jahren. Wir
mussten die Atmosphäre wiederfinden, und sonst etwas Neues herstellen.«
Lust und Spaß merkt man dem Film auch durchaus an: In 124 Minuten erlebt man einen kurzweiligen Anfang, der sich dann doch immer weiter dehnt, bevor der Film dann ansatzweise seine Handlung findet. Die dreht sich um einen merkwürdigen Kristallschädel, der überraschenderweise magnetische Kräfte entwickelt. Wie sich herausstellt, stammt dieser von Außerirdischen. Je nachdem, ob man Esoteriker ist, an
Aliens glaubt und Erich von Däniken schätzt, wird man der zunehmend abstrusen Handlung mehr abgewinnen, oder weniger.
Eines aber lässt sich, wenn man die Eindrücke zwischen atemlosen Verfolgungsjagden, menschenfressenden roten Ameisen und kleinen grünen Männchen geordnet und einmal durchgeatmet hat, sagen: Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystall Skull ist ein Film ohne echte
Überraschungen – und da ist dann doch nach all der Erwartungsfreude die spürbare Lust etwas zu wenig, mit der sich Spielberg noch einmal einen persönlichen Kindergeburtstag gegönnt hat.
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Am Ende von Gomorra erwischt es vorhersehbar auch noch die beiden Loser auf ihrer Vespa. Als sie am Boden liegen, resümiert der Alte, der ihre Ermordung kommandierte, wohlgefällig: »Es musste gemacht werden.« »Tutto aposto!« Dann kommt der Bagger.
Rüdiger Suchsland