22.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Der blutrote Teppich

Serbis
Auf Wolke 7, zum Glück:
Serbis von Brillante Mendoza

Körperwelten: Thomas Hobbes in Palermo, Iron Mike, ein philippinisches Pornokino, Runzelsex

Von Rüdiger Suchsland

Blutrot färbt sich in diesen Tagen der Teppich an der Croisette. Nach Ehedramen und Fami­li­en­feiern, Filmen über Blindheit und Gefäng­nisse wurde am Sonntag kräftig gekillt.

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»Tutto aposto!« – »Alles klar!« Unbedingt. Alles klar, und alles wie immer in Sizilien. Die Mafia nimmt ein Sonnenbad im Bräu­nungs­studio, die Mütter haben Angst um ihre Söhne, Laster bringen Giftmüll, der in den Bergen verscharrt wird, und Chinesen, die den Leuten das Leben noch schwerer machen. Und ab und zu liegt einer erschossen in irgend­wel­chen Ecken der herun­ter­ge­kommen Sozi­al­bauten am Rand der Großstadt. Neuer­dings trägt sogar Don Ciro, seit Jahr­zehnten der Buch­halter im Viertel, eine kugel­si­chere Weste.
Matteo Garriones Film Gomorra, der am Sonntag im Wett­be­werb von Cannes seine Premiere erlebte, ist – frei nach Roberto Savianos auch auf Deutsch (bei Hanser) erschie­nenem Enthül­lungs­buch – ein facet­ten­rei­ches Portrait der mafiösen Struk­turen des sizi­lia­ni­schen Alltags und der italie­ni­schen Gesell­schaft. Ein durch und durch korruptes Leben, Schuld ohne Sühne, und ein intel­li­genter Film, der neben dem Erwart­baren – die Kleinen müssen büßen, die Großen lässt man laufen – doch auch manches Neues bietet, und nicht zuletzt als Quasi-Doku­men­ta­tion funk­tio­niert. Ohne klare Haupt­fi­guren, erst recht ohne jene »Sympa­thie­träger«, ohne die deutsche Fern­seh­sender kein Drehbuch mehr finan­zieren, entfaltet der Film ein soziales System und stellt dieses selbst ins Zentrum. Ähnlich wie in Altmans Short Cuts und all jenen Kino­werken, die seitdem entstanden, kris­tal­li­sieren sich aus diesem Figu­ren­netz­werk dann doch gewisse Erzähl­stränge und Geschichten heraus: Etwa Signore Pascuale, ein Schneider, der schon zum wieder­holten Mal gezwungen wird, den Druck – zu wenig Geld, zu viele Über­stunden – an seine Arbeiter weiter­zu­geben, und sich schließ­lich entschließt, zu den Chinesen über­zu­laufen. Er sägt damit letztlich zwar an seinem eigenen Ast, aber kurz­fristig hilft ihm der Deal. Und an mehr als an den nächsten Tag, das begreift der Zuschauer schnell, kann man an diesem Ort, in seiner Lage sowieso nicht denken.
Oder den Vater, der den braven Geschäfts­mann mimt, aber dreckigen Abfall verscharrt, und dabei gnadenlos seine Mitar­beiter über die Klinge springen lässt – die ande­rer­seits, auch da ist Garrione gnadenlos ehrlich, trotz aller Not auch ein ganzes Stück selbst schuld sind an ihrem Schicksal. Als sein Sohn es dem Vater dann irgend­wann doch vorhält, zeigt der Vater auf ein präch­tiges Obstfeld: »Was siehst Du hier? Schulden! Du kannst ja Pizza backen.«
Oder zwei dumme 16-Jährige, die auf der Vespa kleine Raubzüge an Schwächeren begehen, und wett­ei­fern, wer Al Pacinos Tony Montana in DePalmas Scarface am ähnlichsten sieht. Aber sie kennen ihre Grenzen nicht, und sind von Anfang an als Loser erkennbar. Gomorra schildert eine Hobbes­sche Situation, ein Dasein in einem uner­klärten Bürger­krieg. Jeder ist dem anderen ein Wolf in dieser Welt.

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Da stand er dann auf der Bühne im Festi­val­pa­lais, kräftig, fast ohne Hals, mit riesigen Händen, und wenn er lächelt, dann denkt man unwill­kür­lich auch ganz kurz an King Kong, auch wenn das natürlich ein Gedanke nahe am Rassismus ist: »Iron Mike«, bürger­lich Mike Tyson, mehr­fa­cher Boxwelt­meister und bis heute Rekord­halter mit dem schnellsten K.O. aller Zeiten. Mike Tyson steht natur­gemäß im Zentrum des Films, der TYSON heißt, und wird hier an der Croisette außer Konkur­renz gezeigt. Er stammt von James Toback, der selbst wie das Objekt seiner filmi­schen Neugier New Yorker und ein ziemlich wilder und facet­ten­rei­cher Bursche ist. Die Größte der vielen Quali­täten von Tobacks Kino ist seine Ehrlich­keit und Direkt­heit, die Tatsache, dass er mit seinen Obses­sionen nicht hinter dem Berg hält: Frauen, Drogen, Halbwelt, latente Gewalt und die Korrup­tion des American Dream inter­es­sieren ihn, und viel Kompro­misse hat Toback noch nie gemacht, wohl auch, weil er gar nicht anders kann. Insofern ist er bei Mike Tyson genau an den Richtigen gekommen.

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Schon einmal, 1999 in seinem Spielfilm Black and White hat Toback Tyson in einem Film auftreten lassen, in einer Szene, die jedem unver­gess­lich ist, der sie gesehen hat, bringt er Tyson mit Claudia Schiffer zusammen in ein Bild, und auch da dachte man schon an King Kong und an die weiße Frau. Tyson versetzt darin auch Robert Downey Jr. einen Kinnhaken, und Brooke Shields spielt mit und die Musik ist von Schost­a­ko­witsch – diese Beschrei­bung allein sollte genügen, um klar zu machen, womit man es hier zu tun hat.

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Auch TYSON ist ein virtuos, mutig und spannend. In Mischung aus Split­screen­tech­niken und Talking Heads kommt der Boxer selbst ausführ­lich zu Wort. Über­ra­schend hell ist seine Stimme, und auch in der immer wieder durch­schei­nenden Unsi­cher­heit ähnelt dieses Riesen­baby an »The Voice« Til Schweiger, der übrigens eigent­lich endlich mal einen Boxer spielen sollte. Toback erzählt Tysons Leben chro­no­lo­gisch, doch immer wieder wird alles überdeckt von der Wucht Tysons im Boxring, ein Kampf­ap­parat, ein Tier, das doch gerade in seiner scheinbar hemmungs­losen Zers­törungs­wucht und absoluten Körper­lich­keit verletz­lich wirkt – als kämpfe er nur so scho­nungslos, um möglichst schnell wieder den unbe­hag­li­chen Ort des Boxrings verlassen zu dürfen. So gelingt Toback am Ende das Portrait eines sensiblen, komplexen Menschen – genau das, was Kino tun sollte.

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Facetten der Körper­lich­keit zeigt auch der Deutsche Andreas Dresen: Wolke 9 heißt sein in der Sektion »Un Certain Regard« gezeigter Film. Eine Geschichte über frisches Verliebt­sein und das Glück der Verfüh­rung – nur mit dem kleinen entschei­denden Zusatz, dass das Paar im Zentrum des Films, das hier ausführ­lich beim Sex gezeigt wird, 76 bzw. 65 Jahre alt ist.
Bemer­kens­wert, wie diese Tatsache den Film bzw. seine Wahr­neh­mung verändert: Befremden, ein Hauch von Abwehr wechselt sich ab mit Faszi­na­tion. Das Thema Runzelsex ist ja inzwi­schen auch durchaus en vogue, und damit wird der Film der auch Nine Songs Im Alters­heim heißen könnte, am Ende modischer als er wohl sein möchte.
Ein bisschen arg klein und spießig bleibt die Welt auch hier, wie eigent­lich immer in den Filmen dieses Regis­seurs, der genauso schlecht gekleidet ist wie seine Figuren. Die Frage, die man sich ja schon öfters gestellt hat, stellt sich auch hier: Wie spießig ist eigent­lich Dresen? Ist er nun das, was er zeigt, und wenn nicht, warum zeigt er es dann?
In jedem Fall kommt Wolke 9 ganz nahe an das heran, was Dresen-Filme ausmacht: Es geht um das Zeigen des Alltags, des Normalen, des Normal­falls als Normal­fall, und auch das Unnormale wird hier noch verall­täg­licht und inte­griert – wobei man dann natürlich gleich wissen möchte, was das denn sein soll: Norma­lität? Denn als solche gibt es diese ja genau­so­wenig, wie »die Wirk­lich­keit«.
Bei Dresen stellt sich aller­dings immer wieder auch der Eindruck ein, dieses Beharren auf Norma­lität und Alltäg­lich­keit habe etwas zu Betontes, sei am Ende eben doch nicht so Normales – gerade weil er offenbar insis­tieren muss.
Was an dem Film dann wirklich stört, abgesehen davon, dass man ihn aus einer gewissen PC-ness ja eigent­lich nicht schlecht finden darf, und dass die latent im Raum stehende Behaup­tung, über-60-jährige nackte Körper seien schön, eben doch nur eine Behaup­tung ist, ist die Tatsache, dass er seiner eigenen Geschichte nicht über den Weg traut. Denn am Ende wird die fremd­ge­hende Ehefrau vom Film moralisch doch in den Senkel gestellt: Ihr Mann, der zunächst mit einem »Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank« noch recht gelassen reagiert hatte, bringt sich nämlich am Ende nach 30 Ehejahren aus Kummer um.
Als Film ist WOLKE 9 aller­dings Dresens bisher beste Arbeit: Sparsame Dialoge, eine diskrete, dabei direkte und neugie­rige Kamera, die immer noch etwas mehr zeigt und erzählt, als die Bilder sehen lassen.

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Das derzeit mit Abstand hippste Kinoland heißt nicht Korea, oder Türkei und schon gar nicht Amerika. Es sind die Phil­ip­pinen. Der größte Star des dortigen Kinos ist seit vergan­genem Jahr Brillante Mendoza, dessen neuer Film Serbis ebenfalls am Sonntag Premiere hatte, eine der besten Arbeiten im Wett­be­werb: Ein exzel­lenter Film, der beherrscht wird von der wahn­sin­nigen Geräusch­ku­lisse der Haupt­stadt Manila. Tag und Nacht lässt der Straßen­lärm nicht nach, und dringt auch durch Wände der Häuser. »Familiy« steht an der Seite des Hauses in längst stumpf erlo­schener Neon­schrift. Und eine Familie steht auch im Zentrum des Films. Drei Gene­ra­tionen leben in dem herun­ter­ge­kom­menen, verdreckten Gebäude, sie betreiben eine Kino, das alte Filme zeigt, die Titel haben wie »Bedmates« und »Frolic in the Water«, und im Dunkel des Kinos bieten junge Männer und Trans­ves­titen ihre Körper feil. Der Film bietet das intensive Portrait eines einzigen Tages im Leben der Familie: Kleine Repa­ra­turen, große Verlet­zungen, einer der Söhne hat ein Mädchen geschwän­gert, das Haus geht langsam aus dem Leim und Geld­sorgen machen das Leben schwer, Trost bieten nur die Bilder der Mutter Gottes – fast ein Wunder, das hier nicht auch noch die Mafia auftaucht, und Schutz­gelder kassiert.
Auch Mendoza zeigt, wie Dresen Norma­lität. Doch sein Film legt genau die Schwächen von Dresen noch deut­li­cher bloss: Normal sein und Alltäg­lich­keit sind hier nämlich kein mora­li­scher Wert – und ein ästhe­ti­scher schon gar nicht. Mendoza gleitet nie ins Spießige oder einfach Lang­wei­lige ab. Seine Welt ist hässlich und arm, hat auch schöne und faszi­nie­rende Züge, und ähnelt in seinen Hoff­nungen und kleinen Fluchten, in Utopien und Sehn­süchten dem unseren am Ende doch über­ra­schend. Nur Mendozas Blick ähnelt dem unseren nicht. Denn er verzichtet auf die Verklärungen dieses Lebens, wie auf billigen Trost.

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Erwähnt werden muss hier natürlich auch der Wahn­sinns­hype um Indiana Jones, der am Sonntag seinen Höhepunkt und endgültig groteske Züge erreichte und die dazugehörige Verrücktheit der Medienvertreter. Vielleicht liegt das daran, dass Indiana Jones auch ein Generationenfilm ist. Und die meisten der Chefredakteure, die jetzt an den Entscheidungsinstanzen sitzen, sind Fans seit ihrer Kindheit.

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Jetzt ist die Katze aus dem Sack, und das Gefühl beim Zuschauer ähnelt ein wenig dem nach einem Weih­nachts­fest, bei dem die Vorfreude am Ende schöner war, als die Besche­rung selbst. Ein älterer Herr will es nochmals wissen – darum geht es für Indiana Jones, jenen merk­wür­digen Hybrid aus Wissen­schaftler und Action­helden, wie für seinen Regisseur, der auch eine undurch­schau­bare Mischung aus Indus­trie­in­ge­nieur und Autoren­filmer ist. Bei der Pres­se­kon­fe­renz in Cannes, Spiel­bergs erstem Auftritt an der Croisette, seit er 1985 mit The Color Purple im Wett­be­werb antrat, sprach Spielberg über seine Über­le­gungen bei diesem Recycling einer Kinofigur, die nach ihrem dritten und letzten Auftritt 1989 schon längst auf dem Schrott­platz der Film­hel­den­ge­schichte gelandet war: »Es konnte nicht darum gehen, einfach so weiter­zu­ma­chen, wie in den 80er Jahren. Wir mussten die Atmo­sphäre wieder­finden, und sonst etwas Neues herstellen.«
Lust und Spaß merkt man dem Film auch durchaus an: In 124 Minuten erlebt man einen kurz­wei­ligen Anfang, der sich dann doch immer weiter dehnt, bevor der Film dann ansatz­weise seine Handlung findet. Die dreht sich um einen merk­wür­digen Kris­tall­schädel, der über­ra­schen­der­weise magne­ti­sche Kräfte entwi­ckelt. Wie sich heraus­stellt, stammt dieser von Außer­ir­di­schen. Je nachdem, ob man Esote­riker ist, an Aliens glaubt und Erich von Däniken schätzt, wird man der zunehmend abstrusen Handlung mehr abge­winnen, oder weniger.
Eines aber lässt sich, wenn man die Eindrücke zwischen atemlosen Verfol­gungs­jagden, menschen­fres­senden roten Ameisen und kleinen grünen Männchen geordnet und einmal durch­ge­atmet hat, sagen: Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystall Skull ist ein Film ohne echte Über­ra­schungen – und da ist dann doch nach all der Erwar­tungs­freude die spürbare Lust etwas zu wenig, mit der sich Spielberg noch einmal einen persön­li­chen Kinder­ge­burtstag gegönnt hat.

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Am Ende von Gomorra erwischt es vorher­sehbar auch noch die beiden Loser auf ihrer Vespa. Als sie am Boden liegen, resümiert der Alte, der ihre Ermordung komman­dierte, wohl­ge­fällig: »Es musste gemacht werden.« »Tutto aposto!« Dann kommt der Bagger.

Rüdiger Suchsland