24.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Brave Bürger bauten Barrikaden

OF TIME AND THE CITY
Gefilmte Geschichtsphilosophie :
Of Time And The City
(Foto: British Film Institute)

»No private questions«: 68 verweht, Choc-Eis im Festival-Palais, »Generalstände des Kinos«, rote Fahnen auf dem roten Teppich und Jubelperser

Von Rüdiger Suchsland

»Wir haben die Festival-Halle nach einem tapferen 30-Sekunden-Kampf erobert und, wir werden nur der Gewalt des Gervais-Choc-Eis weichen«, prokla­mierte Jean-Luc Godard auf der Bühne. Der Ton sagt alles: Albern­heit, poli­ti­sche Pop-Politik, deren Frische und Frechheit im Lächer­lich­ma­chen der Mächtigen sich heute keiner zutrauen würde. Denn die Eroberung der Festi­val­halle fand 1968 statt, vor 40 Jahren. Die neue Halle, die man zehn Jahre später baute, und die längst wieder zu klein ist, sieht erst recht aus, wie eine Bastille. Aber keiner ist heute da, sie zu stürmen, das Gewimmel jeden Morgen vor dem Palais gleicht einem Termi­ten­hügel: Ein chao­ti­sches Durch­ein­ander, nur getragen vom kleinen engen Egoismen der Einzelnen, nicht verbunden durch gemein­same Ideen, defi­nierte Inter­essen, einen Willen, und sei er auch nicht definiert, sondern allen­falls zu ahnen...

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»Is it sleep or is it death?« »Nur ein Schlaf oder der Tod?« – fast der letzte Satz in diesem Film stellt die zentrale Frage. Sie gilt der Stadt Liverpool, aber letzt­end­lich unserer Kultur als ganzer. Of Time And The City heißt der Film des Briten Terrence Davies über seine Heimat­stadt, der im Wett­be­werb von Cannes außer Konkur­renz gezeigt wird. Formal ein Doku­men­tar­film, ist dies doch ein überaus subjek­tiver Essay, und, mehr als das, ein Stück mit den Mitteln des Kinos prak­ti­zierte Geschichts­phi­lo­so­phie. Und es ist – wunder­bares Kino, der wohl schönste Film bisher in Cannes, ein einzig­ar­tiges Werk, für sich genommen schon Grund genug, hierher zu fahren.

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Davies montiert alte Doku­men­tar­auf­nahmen, die für die Geschichte Liver­pools im 20. Jahr­hun­dert stehen, mit wenigen neuen Bildern. Dazu exzellent gewählte, meist klas­si­sche Musik. Und aus dem Off die Erzähl­stimme des Regis­seurs, abwech­selnd aus Texten – Joyce, Elliot, Engels, Tschechow – zitierend, und dann wieder mit eigenen, wohl­for­mu­lierten Gedanken.
Die Bilder sammeln und bündeln Gesten, die in Verges­sen­heit gerieten: Das Anzünden eines Kohle­herds, das Stellen der Milch­fla­schen vor die Tür, Kinder­spiele an längst verschwun­denen Gerüsten und Karus­sellen. Of Time And The City verfolgt Erin­ne­rungs­spuren, findet im Subjek­tiven das Objektive. Man kann an die Methode Marcel Prousts denken, an Walter Benjamin oder an die Feuil­le­tons von Siegfried Kracauer.

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Das Resultat ist bitter: Denn eigent­lich ist dies ein Klagelied vom Untergang, vom Ende der Stadt Liverpool in der Verdammnis, von Sünde ohne Sühne, von Seicht­heit und Infan­ti­lismus der Gegenwart – und dabei doch nüchtern und klar in der Beob­ach­tung. Davies betreibt Geschichts­schrei­bung und Sozi­al­re­por­tage, hält einen bitter ironi­schen Grundton, sammelt in konkreten sinn­li­chen Bildern die Lumpen der Vergan­gen­heit. Eine erlesen gefilmte Symphonie des Verges­sens, die unserer Kultur den Toten­schein ausstellt.

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Was die Frage stellt nach dem, woran wir uns erinnern – und erinnern wollen. Das Festival selbst erinnert sich dieser Tage an 1968. Es gab mehr als einen Grund, warum die Film­fest­spiele von Cannes 1968 in die Geschichte eingingen. Politisch war es der heiße Pariser Mai. Die Studenten demons­trierten auf der Straße gegen Vietnam und die rechte Regierung, die Arbeiter befanden sich im Gene­ral­streik, brave Bürger bauten Barri­kaden und Präsident Charles de Gaulle hatte die Haupt­stadt bereits in wilder Flucht verlassen – in Richtung Osten, wie seiner­zeit König Ludwig XVI..

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Viel­leicht fürch­teten die Filme­ma­cher damals nur, einfach nur, zu spät zu kommen. Jeden­falls rief man auch an der Croisette plötzlich die Revo­lu­tion aus: Rote Fahnen wehten auf dem roten Teppich, die Regis­seure soli­da­ri­sierten sich in einem Protest mit den Strei­kenden, und besetzten den Festi­val­pa­last. Francois Truffaut rief die »Gene­rals­tände des Kinos« aus. Schau­spieler wie Michel Piccoli sollen unter den Lautesten gewesen sein. Prosa­ische Folge: Das Festival wurde nach acht Tagen abge­bro­chen, eine Goldene Palme wurde nie verliehen, dafür gründeten Bresson, Rivette und Claude Berri die SFR (Fran­zö­si­sche Regis­seurs-Gilde), um künst­le­ri­sche, mora­li­sche, profes­sio­nelle, ökono­mi­sche Frei­heiten zu vertei­digen. Auch für die Festi­val­be­su­cher brachte das zumindest ein paar kompli­zierte Tage: Flugzeuge und Züge standen nämlich infolge des Gene­ral­streiks still: »Wir haben uns damals zusammen ein Taxi nach Italien genommen, und sind von dort weiter­ge­fahren«, erinnert sich Film­kri­ti­ker­le­gende Peter W. Jansen, der seiner­zeit das Festival besuchte.

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Neben dem Revo­luz­zertum des Augen­blicks ging es damals aber auch um Grund­sätz­li­cheres: Man warf dem Festival Kommerz vor, drängte darauf, sich stärker dem künst­le­ri­schen Expe­ri­ment zu öffnen, wie dem seiner­zeit noch völlig unbe­kannten Kino der Dritten Welt. Man begnügte sich daher auch nicht mit Protest, sondern gründete ein Gegen­fes­tival – die »Quinzaine des Reali­sa­teurs«, jene Sektion, die bis heute nicht offiziell Teil des Programms ist – inof­fi­ziell längst inte­griert – und mit eigener Auswahl­kom­mis­sion dem echten Autoren­kino, wilden, mutigen künst­le­ri­schen Expe­ri­menten verschrieben ist. Dieses Jahr begeht man dort Jubiläum. Die »offi­zi­elle Selektion« zeigt aus gleichem Anlass jene sechs Wett­be­werbs-Filme, die seiner­zeit nicht mehr zur Auffüh­rung kamen – unter anderem Pfef­fer­minz Frappé vom Spanier Carlos Saura.

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Mögen die roten Fahnen inzwi­schen auch zerschlissen sein, sieht mancher Festi­val­be­su­cher auch aktuelle Paral­lelen zwischen Vietnam und Irak, de Gaulle und Sarkozy. »Ich fände es gut, wenn so etwas mal wieder passieren würde. Es sind schließ­lich noch nicht alle Schlachten geschlagen«, meint Josef Schnelle, heute als Kritiker für den Deutsch­land­funk vor Ort. Viel­leicht fehlt nur noch der passende Film, und es genügt, wie damals ein Funke, und man erlebt wieder ein histo­ri­sches Festival.

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Verlieren und gewinnen, das zeigte schon Kustu­ricas Maradona-Film, das zeigte auch Soder­berghs CHE-Kata­strophe, sind relative Begriffe. Wer es richtig anstellt, kann jede Nieder­lage in einen Sieg ummünzen. Das bewies auch Paulo Sorren­tinos Il Divo im Wett­be­werb und hält auch für die Preis­ver­lei­hung am Sonn­tag­abend einige kluge Lektionen bereit: Eine grandiose Polit-Satire, deren einziger Haken darin liegt, dass selbst ihre absur­desten Details, oder gerade sie, die wahrsten sind. Im Zentrum steht Gulio Andreotti, christ­de­mo­kra­ti­scher Politiker, viel­fa­cher Minis­ter­prä­si­dent, graue Eminenz und eine der schil­lerndsten Figuren des italie­ni­schen Polit­be­triebs. Ihr hat Sorren­tino einen Film gewidmet, der stilis­tisch an Steven Frears Die Queen erinnert, aber im Unter­schied zu diesem Film eine Figur ins Zentrum stellt, die wirklich inter­es­sant und doppel­bödig ist. Il Divo heißt: »Der Star« und zeigt: Macht ist lächer­lich, aber mit ihr ist nicht zu spaßen.

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Il Divo ist einer der leichten Favoriten für die Goldene Palme. Einer wird gewinnen am Sonntag – soviel ist klar. Aber ohne eindeu­tige Favoriten biegen die Film­fest­spiele von Cannes nun in die Ziel­ge­rade ein – noch zwei Tage läuft der Wett­be­werb. Die gute Nachricht: Stark und sehr ausge­gli­chen präsen­tierte sich die Auswahl. Die schlechte: Es gab keine Filme, die das Kino wirklich neu erfanden, keine Expe­ri­mente, auch keine Skandale oder Provo­ka­tionen, wenig, das voraus wies in die Zukunft des Mediums. 2008 war kein Jahr der Inno­va­tion – eine Erkenntnis, die deswegen kaum über­rascht, weil das Festival schon vorab eher auf Bewährtes setzte, gewagte Filme und junge Filme­ma­cher in die Neben­reihen verbannte. Da hatte man hier schon andere Jahrgänge erlebt.

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Wie jedes Jahr vibriert in diesen Tagen das Spiel der Speku­la­tionen: Da Jury­prä­si­dent Sean Penn poli­ti­sche Stoffe schätzt, könnten Sorren­tino und sein Landsmann Matteo Garrione mit dem Mafia­drama Gomorra Chancen haben. Das würde auch zu der Vermutung passen, dass von Penn eine Verbeu­gung vor dem europäi­schen Kino zu erwarten ist. Also die Dardenne-Brüder? Kaum einer glaubt, dass der Franzose Anraud Desplechin völlig leer ausgeht, dessen Un conte de Noël in den Kriti­ker­listen sehr gut abschneidet. Oder doch Clint Eastwood?

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Es wäre gelogen, würde ich nicht zugeben, dass mir das Gemäkel mancher Kollegen hier auf die Nerven geht. Wer immer wieder nur jammert, wie schlimm hier alles ist, den möge man bitte erlösen, wer immer aus allen Filmen vorzeitig rausgeht, den sollte man gar nicht herschi­cken. Und einer erklärt gar Walter Salles senti­men­ta­lis­ti­sches Pathos­s­tück Linha De Passe zum besten Film bisher – das ist selbst mit dem Hinweis auf Geschmacks­un­ter­schiede nicht mehr zu entschul­digen

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Nachdem Synec­doche, New York, das glänzend besetzte Regie­debüt des Dreh­buch­au­tors Charlie Kauffmann gestern Abend schwer enttäuschte, laufen noch drei Filme im Wett­be­werb: Entre les murs vom hoch gehan­delten Franzosen Laurent Cantet, Eric Khoos MY MAGIC aus Singapur und zum heutigen Abschluß Wim Wenders Palermo Shooting, sein erster Spielfilm in Europa nach Jahren in den USA. In dieser mythen­satten Geschichte über die letzten Dinge spielt neben Milla Jovovich und Udo Samel der Düssel­dorfer Rocksänger Campino die Haupt­rolle – eine gewagte Besetzung, auf deren Effekt jeder an der Croisette gespannt ist.

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Inter­es­santes Gespräch mit zweien jener Damen (und Herren), die hier kaum einen Film zu Ende gucken, weil sie ihr Brot mit Inter­views und soge­nannten Glamour-Berichten verdienen. Beide sind nett und im persön­li­chen Auftreten seriös. Dass ist ihre Arbeit das eigent­lich nicht mehr ist, wissen sie selbst.
Um nur mal klar zu machen, wie hier gear­beitet wird: »Zum Eastwood-Interview mussten wir um 14 Uhr hin, ich war 18 Uhr fertig, dazwi­schen drei Inter­views à 20 Minuten, selbst­ver­s­tänd­lich in der Gruppe. In einem Interview saßen 40 Jour­na­listen, im anderen 8-12«.
»Bei Penelope Cruz waren 36 Leute in einem Raum. Im Warteraum von Größe eines Hotel­zim­mers 42 Leute, die Bedin­gungen waren erbärm­lich, es gab drei Stühle, kein Wasser – das war jenseits von easy jet.«
Ich habe natürlich gesagt: Selber schuld, wenn ihr Euch darauf einlasst. Aber wenn man davon leben muss, ist das auch leicht gesagt.

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»Und Penelope Cruz antwor­tete auch auf Fragen nach dem Film immer nur ›I don’t answer private questions‹. Die war total ange­spannt, man kann keine der Antworten nehmen. Schon vorher hatte man uns gesagt, ›Javier didn’t come for private reasons'', ist doch klar, dass die ne Krise haben – da muss sie doch Profi sein, und trotzdem vernünftig antworten.
Übrigens: Verkauft wird das Ganze von den Kollegen natürlich dann als Einzel­in­ter­view, vermut­lich »exklusiv« – man ist ja Profi.‹«

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Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystall Skull, der vierte »Indiana Jones«-Film von Steven Spielberg, war der Höhepunkt für die dies­jäh­rige Spek­ta­kel­ge­sell­schaft beim Festival von Cannes. Der Hype um die Welt­pre­miere am Sonntag hatte an den letzten Tagen zuvor endgültig groteske Züge erreicht, und wieder einmal – wie Hollywood ja oft – die niedersten Instinkte der Menschen entfes­selt: Vor der Pres­se­vor­füh­rung hätte es beinahe Verletzte gegeben, woran die hier einmal dilet­tan­ti­sche Orga­ni­sa­tion Mitschuld trug, weil Wartende über Barrieren klet­terten, und als sie nicht mehr rein­ge­lassen wurden, sich Schlä­ge­reien mit den Ordnern lieferten. Im Raum dann entpuppten sich viele als Jubel­perser: Klatschen, wenn es dunkel wird, Pfeifen der Musik kurz vor Beginn. Nerv­tö­tend kindi­sches Verhalten. Wenn DAS wirklich die größte Vorfreude auf Cannes bewirkt, wenn ausge­rechnet das das Schönste und Wich­tigste in Cannes ist, was wenige Tage später auf der ganzen Welt an jeder Ecke zu sehen sein wird, dann gute Nacht Film­kritik.

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Dann war der Geist aus der Flasche, die Katze aus dem Sack. Der Applaus am Ende verhalten, auch die Fans spürbar enttäuscht. Und das Gefühl beim Zuschauer ähnelt ein wenig dem nach einem Weih­nachts­fest, bei dem die erwartete Besche­rung zwar stattfand, die ganz tollen Geschenke dann aber doch in letzter Minute ausge­blieben sind.

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Der Mann mit Bullen­peit­sche, Schlapphut und coolen Sprüchen ist zurück. Gut. In 124 Minuten erlebt man einen kurz­wei­ligen Anfang, der sich dann doch immer weiter dehnt, bevor der Film dann ansatz­weise eine Handlung entwi­ckelt. Die wird zunehmend abstrus, und je nachdem, ob man Esote­riker ist, an Aliens glaubt, Erich von Däniken schätzt, gern auf Pyramiden klettert, oder das »Festival des archäo­lo­gi­schen Films« in Athen besucht, kann man dem Ganzen etwas abge­winnen, oder nicht.
Eins aber lässt sich, wenn man die Eindrücke zwischen menschen­fres­senden roten Ameisen und kleinen grünen Männchen geordnet und einmal durch­ge­atmet hat, sagen: Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull ist ein Film, bei dem kein Zuschauer Angst vor Spoilern in Texten haben muss – denn es gibt in diesem Film einfach keine Über­ra­schungen. Auch wenn ihm offen­sicht­lich schon längst die Ideen ausge­gangen sind, denkt Produzent George Lucas laut aintit­cool bereits jetzt über eine Fort­set­zung nach – der Zirkus geht weiter.

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Analog dazu entfal­tete Indiana Jones auch einen Medi­en­zirkus, der in Cannes, dem wich­tigsten Film­fes­tival der Welt, das zwar großer Markt und Geld­ma­schine ist, sich aber um so mehr der Kunst und dem Autoren­film loyal fühlt, ein Fremd­körper blieb. Auch dieses Festival braucht den Auflauf, aus dem sich eine wunder­bare Fallgrube für die gesam­melte Yellow-Press bauen lässt. Insofern funk­tio­niert die jetzige Welt­pre­miere ziemlich genau so, wie der Bauch der schwan­geren Angelina Jolie, der hier schon vor einer Woche ohne unsicht­baren Anlass über den roten Teppich gerollt wurde: Ein leeres Zeichen, das vor allem an der Bedeutung des Festivals selbst arbeitet. Ein Zeichen aber auch für den Abgrund an Kultur­ver­lust, von dem Of Time And The City handelt.

Rüdiger Suchsland