61. Filmfestspiele Cannes 2008
Brave Bürger bauten Barrikaden |
||
Gefilmte Geschichtsphilosophie : Of Time And The City |
||
(Foto: British Film Institute) |
»Wir haben die Festival-Halle nach einem tapferen 30-Sekunden-Kampf erobert und, wir werden nur der Gewalt des Gervais-Choc-Eis weichen«, proklamierte Jean-Luc Godard auf der Bühne. Der Ton sagt alles: Albernheit, politische Pop-Politik, deren Frische und Frechheit im Lächerlichmachen der Mächtigen sich heute keiner zutrauen würde. Denn die Eroberung der Festivalhalle fand 1968 statt, vor 40 Jahren. Die neue Halle, die man zehn Jahre später baute, und die längst wieder zu klein ist, sieht erst recht aus, wie eine Bastille. Aber keiner ist heute da, sie zu stürmen, das Gewimmel jeden Morgen vor dem Palais gleicht einem Termitenhügel: Ein chaotisches Durcheinander, nur getragen vom kleinen engen Egoismen der Einzelnen, nicht verbunden durch gemeinsame Ideen, definierte Interessen, einen Willen, und sei er auch nicht definiert, sondern allenfalls zu ahnen...
+ + +
»Is it sleep or is it death?« »Nur ein Schlaf oder der Tod?« – fast der letzte Satz in diesem Film stellt die zentrale Frage. Sie gilt der Stadt Liverpool, aber letztendlich unserer Kultur als ganzer. Of Time And The City heißt der Film des Briten Terrence Davies über seine Heimatstadt, der im Wettbewerb von Cannes außer Konkurrenz gezeigt wird. Formal ein Dokumentarfilm, ist dies doch ein überaus subjektiver Essay, und, mehr als das, ein Stück mit den Mitteln des Kinos praktizierte Geschichtsphilosophie. Und es ist – wunderbares Kino, der wohl schönste Film bisher in Cannes, ein einzigartiges Werk, für sich genommen schon Grund genug, hierher zu fahren.
+ + +
Davies montiert alte Dokumentaraufnahmen, die für die Geschichte Liverpools im 20. Jahrhundert stehen, mit wenigen neuen Bildern. Dazu exzellent gewählte, meist klassische Musik. Und aus dem Off die Erzählstimme des Regisseurs, abwechselnd aus Texten – Joyce, Elliot, Engels, Tschechow – zitierend, und dann wieder mit eigenen, wohlformulierten Gedanken.
Die Bilder sammeln und bündeln Gesten, die in Vergessenheit gerieten: Das Anzünden eines Kohleherds, das
Stellen der Milchflaschen vor die Tür, Kinderspiele an längst verschwundenen Gerüsten und Karussellen. Of Time And The City verfolgt Erinnerungsspuren, findet im Subjektiven das Objektive. Man kann an die Methode Marcel Prousts denken, an Walter Benjamin oder an die Feuilletons von Siegfried Kracauer.
+ + +
Das Resultat ist bitter: Denn eigentlich ist dies ein Klagelied vom Untergang, vom Ende der Stadt Liverpool in der Verdammnis, von Sünde ohne Sühne, von Seichtheit und Infantilismus der Gegenwart – und dabei doch nüchtern und klar in der Beobachtung. Davies betreibt Geschichtsschreibung und Sozialreportage, hält einen bitter ironischen Grundton, sammelt in konkreten sinnlichen Bildern die Lumpen der Vergangenheit. Eine erlesen gefilmte Symphonie des Vergessens, die unserer Kultur den Totenschein ausstellt.
+ + +
Was die Frage stellt nach dem, woran wir uns erinnern – und erinnern wollen. Das Festival selbst erinnert sich dieser Tage an 1968. Es gab mehr als einen Grund, warum die Filmfestspiele von Cannes 1968 in die Geschichte eingingen. Politisch war es der heiße Pariser Mai. Die Studenten demonstrierten auf der Straße gegen Vietnam und die rechte Regierung, die Arbeiter befanden sich im Generalstreik, brave Bürger bauten Barrikaden und Präsident Charles de Gaulle hatte die Hauptstadt bereits in wilder Flucht verlassen – in Richtung Osten, wie seinerzeit König Ludwig XVI..
+ + +
Vielleicht fürchteten die Filmemacher damals nur, einfach nur, zu spät zu kommen. Jedenfalls rief man auch an der Croisette plötzlich die Revolution aus: Rote Fahnen wehten auf dem roten Teppich, die Regisseure solidarisierten sich in einem Protest mit den Streikenden, und besetzten den Festivalpalast. Francois Truffaut rief die »Generalstände des Kinos« aus. Schauspieler wie Michel Piccoli sollen unter den Lautesten gewesen sein. Prosaische Folge: Das Festival wurde nach acht Tagen abgebrochen, eine Goldene Palme wurde nie verliehen, dafür gründeten Bresson, Rivette und Claude Berri die SFR (Französische Regisseurs-Gilde), um künstlerische, moralische, professionelle, ökonomische Freiheiten zu verteidigen. Auch für die Festivalbesucher brachte das zumindest ein paar komplizierte Tage: Flugzeuge und Züge standen nämlich infolge des Generalstreiks still: »Wir haben uns damals zusammen ein Taxi nach Italien genommen, und sind von dort weitergefahren«, erinnert sich Filmkritikerlegende Peter W. Jansen, der seinerzeit das Festival besuchte.
+ + +
Neben dem Revoluzzertum des Augenblicks ging es damals aber auch um Grundsätzlicheres: Man warf dem Festival Kommerz vor, drängte darauf, sich stärker dem künstlerischen Experiment zu öffnen, wie dem seinerzeit noch völlig unbekannten Kino der Dritten Welt. Man begnügte sich daher auch nicht mit Protest, sondern gründete ein Gegenfestival – die »Quinzaine des Realisateurs«, jene Sektion, die bis heute nicht offiziell Teil des Programms ist – inoffiziell längst integriert – und mit eigener Auswahlkommission dem echten Autorenkino, wilden, mutigen künstlerischen Experimenten verschrieben ist. Dieses Jahr begeht man dort Jubiläum. Die »offizielle Selektion« zeigt aus gleichem Anlass jene sechs Wettbewerbs-Filme, die seinerzeit nicht mehr zur Aufführung kamen – unter anderem Pfefferminz Frappé vom Spanier Carlos Saura.
+ + +
Mögen die roten Fahnen inzwischen auch zerschlissen sein, sieht mancher Festivalbesucher auch aktuelle Parallelen zwischen Vietnam und Irak, de Gaulle und Sarkozy. »Ich fände es gut, wenn so etwas mal wieder passieren würde. Es sind schließlich noch nicht alle Schlachten geschlagen«, meint Josef Schnelle, heute als Kritiker für den Deutschlandfunk vor Ort. Vielleicht fehlt nur noch der passende Film, und es genügt, wie damals ein Funke, und man erlebt wieder ein historisches Festival.
+ + +
Verlieren und gewinnen, das zeigte schon Kusturicas Maradona-Film, das zeigte auch Soderberghs CHE-Katastrophe, sind relative Begriffe. Wer es richtig anstellt, kann jede Niederlage in einen Sieg ummünzen. Das bewies auch Paulo Sorrentinos Il Divo im Wettbewerb und hält auch für die Preisverleihung am Sonntagabend einige kluge Lektionen bereit: Eine grandiose Polit-Satire, deren einziger Haken darin liegt, dass selbst ihre absurdesten Details, oder gerade sie, die wahrsten sind. Im Zentrum steht Gulio Andreotti, christdemokratischer Politiker, vielfacher Ministerpräsident, graue Eminenz und eine der schillerndsten Figuren des italienischen Politbetriebs. Ihr hat Sorrentino einen Film gewidmet, der stilistisch an Steven Frears Die Queen erinnert, aber im Unterschied zu diesem Film eine Figur ins Zentrum stellt, die wirklich interessant und doppelbödig ist. Il Divo heißt: »Der Star« und zeigt: Macht ist lächerlich, aber mit ihr ist nicht zu spaßen.
+ + +
Il Divo ist einer der leichten Favoriten für die Goldene Palme. Einer wird gewinnen am Sonntag – soviel ist klar. Aber ohne eindeutige Favoriten biegen die Filmfestspiele von Cannes nun in die Zielgerade ein – noch zwei Tage läuft der Wettbewerb. Die gute Nachricht: Stark und sehr ausgeglichen präsentierte sich die Auswahl. Die schlechte: Es gab keine Filme, die das Kino wirklich neu erfanden, keine Experimente, auch keine Skandale oder Provokationen, wenig, das voraus wies in die Zukunft des Mediums. 2008 war kein Jahr der Innovation – eine Erkenntnis, die deswegen kaum überrascht, weil das Festival schon vorab eher auf Bewährtes setzte, gewagte Filme und junge Filmemacher in die Nebenreihen verbannte. Da hatte man hier schon andere Jahrgänge erlebt.
+ + +
Wie jedes Jahr vibriert in diesen Tagen das Spiel der Spekulationen: Da Jurypräsident Sean Penn politische Stoffe schätzt, könnten Sorrentino und sein Landsmann Matteo Garrione mit dem Mafiadrama Gomorra Chancen haben. Das würde auch zu der Vermutung passen, dass von Penn eine Verbeugung vor dem europäischen Kino zu erwarten ist. Also die Dardenne-Brüder? Kaum einer glaubt, dass der Franzose Anraud Desplechin völlig leer ausgeht, dessen Un conte de Noël in den Kritikerlisten sehr gut abschneidet. Oder doch Clint Eastwood?
+ + +
Es wäre gelogen, würde ich nicht zugeben, dass mir das Gemäkel mancher Kollegen hier auf die Nerven geht. Wer immer wieder nur jammert, wie schlimm hier alles ist, den möge man bitte erlösen, wer immer aus allen Filmen vorzeitig rausgeht, den sollte man gar nicht herschicken. Und einer erklärt gar Walter Salles sentimentalistisches Pathosstück Linha De Passe zum besten Film bisher – das ist selbst mit dem Hinweis auf Geschmacksunterschiede nicht mehr zu entschuldigen
+ + +
Nachdem Synecdoche, New York, das glänzend besetzte Regiedebüt des Drehbuchautors Charlie Kauffmann gestern Abend schwer enttäuschte, laufen noch drei Filme im Wettbewerb: Entre les murs vom hoch gehandelten Franzosen Laurent Cantet, Eric Khoos MY MAGIC aus Singapur und zum heutigen Abschluß Wim Wenders Palermo Shooting, sein erster Spielfilm in Europa nach Jahren in den USA. In dieser mythensatten Geschichte über die letzten Dinge spielt neben Milla Jovovich und Udo Samel der Düsseldorfer Rocksänger Campino die Hauptrolle – eine gewagte Besetzung, auf deren Effekt jeder an der Croisette gespannt ist.
+ + +
Interessantes Gespräch mit zweien jener Damen (und Herren), die hier kaum einen Film zu Ende gucken, weil sie ihr Brot mit Interviews und sogenannten Glamour-Berichten verdienen. Beide sind nett und im persönlichen Auftreten seriös. Dass ist ihre Arbeit das eigentlich nicht mehr ist, wissen sie selbst.
Um nur mal klar zu machen, wie hier gearbeitet wird: »Zum Eastwood-Interview mussten wir um 14 Uhr hin, ich war 18 Uhr fertig, dazwischen drei Interviews à 20 Minuten,
selbstverständlich in der Gruppe. In einem Interview saßen 40 Journalisten, im anderen 8-12«.
»Bei Penelope Cruz waren 36 Leute in einem Raum. Im Warteraum von Größe eines Hotelzimmers 42 Leute, die Bedingungen waren erbärmlich, es gab drei Stühle, kein Wasser – das war jenseits von easy jet.«
Ich habe natürlich gesagt: Selber schuld, wenn ihr Euch darauf einlasst. Aber wenn man davon leben muss, ist das auch leicht gesagt.
+ + +
»Und Penelope Cruz antwortete auch auf Fragen nach dem Film immer nur ›I don’t answer private questions‹. Die war total angespannt, man kann keine der Antworten nehmen. Schon vorher hatte man uns gesagt, ›Javier didn’t come for private reasons'', ist doch klar, dass die ne Krise haben – da muss sie doch Profi sein, und trotzdem vernünftig antworten.
Übrigens: Verkauft wird das Ganze von den Kollegen natürlich dann als Einzelinterview,
vermutlich »exklusiv« – man ist ja Profi.‹«
+ + +
Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystall Skull, der vierte »Indiana Jones«-Film von Steven Spielberg, war der Höhepunkt für die diesjährige Spektakelgesellschaft beim Festival von Cannes. Der Hype um die Weltpremiere am Sonntag hatte an den letzten Tagen zuvor endgültig groteske Züge erreicht, und wieder einmal – wie Hollywood ja oft – die niedersten Instinkte der Menschen entfesselt: Vor der Pressevorführung hätte es beinahe Verletzte gegeben, woran die hier einmal dilettantische Organisation Mitschuld trug, weil Wartende über Barrieren kletterten, und als sie nicht mehr reingelassen wurden, sich Schlägereien mit den Ordnern lieferten. Im Raum dann entpuppten sich viele als Jubelperser: Klatschen, wenn es dunkel wird, Pfeifen der Musik kurz vor Beginn. Nervtötend kindisches Verhalten. Wenn DAS wirklich die größte Vorfreude auf Cannes bewirkt, wenn ausgerechnet das das Schönste und Wichtigste in Cannes ist, was wenige Tage später auf der ganzen Welt an jeder Ecke zu sehen sein wird, dann gute Nacht Filmkritik.
+ + +
Dann war der Geist aus der Flasche, die Katze aus dem Sack. Der Applaus am Ende verhalten, auch die Fans spürbar enttäuscht. Und das Gefühl beim Zuschauer ähnelt ein wenig dem nach einem Weihnachtsfest, bei dem die erwartete Bescherung zwar stattfand, die ganz tollen Geschenke dann aber doch in letzter Minute ausgeblieben sind.
+ + +
Der Mann mit Bullenpeitsche, Schlapphut und coolen Sprüchen ist zurück. Gut. In 124 Minuten erlebt man einen kurzweiligen Anfang, der sich dann doch immer weiter dehnt, bevor der Film dann ansatzweise eine Handlung entwickelt. Die wird zunehmend abstrus, und je nachdem, ob man Esoteriker ist, an Aliens glaubt, Erich von Däniken schätzt, gern auf Pyramiden klettert, oder das »Festival des archäologischen Films« in Athen besucht, kann man dem Ganzen etwas abgewinnen, oder
nicht.
Eins aber lässt sich, wenn man die Eindrücke zwischen menschenfressenden roten Ameisen und kleinen grünen Männchen geordnet und einmal durchgeatmet hat, sagen: Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull ist ein Film, bei dem kein Zuschauer Angst vor Spoilern in Texten haben muss – denn es gibt in diesem Film einfach keine Überraschungen. Auch wenn ihm offensichtlich
schon längst die Ideen ausgegangen sind, denkt Produzent George Lucas laut aintitcool bereits jetzt über eine Fortsetzung nach – der Zirkus geht weiter.
+ + +
Analog dazu entfaltete Indiana Jones auch einen Medienzirkus, der in Cannes, dem wichtigsten Filmfestival der Welt, das zwar großer Markt und Geldmaschine ist, sich aber um so mehr der Kunst und dem Autorenfilm loyal fühlt, ein Fremdkörper blieb. Auch dieses Festival braucht den Auflauf, aus dem sich eine wunderbare Fallgrube für die gesammelte Yellow-Press bauen lässt. Insofern funktioniert die jetzige Weltpremiere ziemlich genau so, wie der Bauch der schwangeren Angelina Jolie, der hier schon vor einer Woche ohne unsichtbaren Anlass über den roten Teppich gerollt wurde: Ein leeres Zeichen, das vor allem an der Bedeutung des Festivals selbst arbeitet. Ein Zeichen aber auch für den Abgrund an Kulturverlust, von dem Of Time And The City handelt.
Rüdiger Suchsland