05.09.2008
65. Filmfestspiele von Venedig 2008

Vampire gegen Zombies

The Hurt Locker
Der beste Film bislang:
The Hurt Locker
(Foto: Concorde Filmverleih)

Zwei Jahre Ferien, Ernst Jünger am Lido, und warum der beste Film keinen Löwen kriegt

Von Rüdiger Suchsland

Ein Testos­teron-Film. Man spürt Anspan­nung, man spürt Angst. Die Atmo­sphäre ist ange­spannt von der ersten Minute an. Man schmeckt die trockenen Zungen der Männer. Man riecht ihren Schweiß. Stress, Sinn­lich­keit, unmit­tel­bare Erfahrung domi­nieren. Wer darf sterben, wer muss leben? Man glaubt die Hollywood-Logik solcher Filme zu kennen: Der Schwarze stirbt norma­ler­weise, der Star lebt. Hier ist es umgekehrt. Oder auch nicht.

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Auch sonst ist dieser Film lässt der Film viele der üblichen Film-Logiken hinter sich. Der Iraki, der ein Mobil-Telefon in seiner Hand hat, mit der man die zu entschär­fende Bombe zünden könnte, wird nicht von bösen und voreilig ballernden Amis unschuldig erschossen, sondern gar nicht. Und er ist nicht unschuldig, sondern er löst per Telefon die Bombe aus.
Die US-Soldaten, die hier gezeigt werden, sind keine Cowboys, die gern zum Frühstück ein paar Indianer erlegen. Die US-Soldaten schießen wenn überhaupt erstaun­lich zögerlich in Situa­tionen in denen man im Kino­sessel schon lange denkt: Warum schießen sie nicht? Auf den Mann, der mit seiner Kamera darauf wartet eine Explosion aufzu­nehmen und vermut­lich ins Internet zu stellen. Auf die Männer, die von irgend­wel­chen Balkons aus offen­kundig eine Zündung diri­gieren. Auf den Mann, der mit mehreren Spreng­stoff­gür­teln auf die Truppen zugeht.
Die US-Soldaten, die hier gezeigt werden, sind keine White-Trash-Sadisten, die foltern und verge­wal­tigen (wie in Brian DePalmas hervor­ra­gendem Redacted), sie sind keine über­for­derten, von Offi­zieren im Stich gelas­senen armen Opfer, die ab und an über die Stränge schlagen, und ihre Vorschriften miss­achten (wie in Battle for hadhita von Nick Broom­field). Sie sind auch keine feigen Jammer­lappen, aber sie sind auch keine Opfer, keine eigent­lich guten, durch höhere Mächte auf falsche Pfade geführten All American Boys (wie bei I In the Valley of Elah).

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All das sind US-Soldaten vermut­lich auch, aber Kathryn Bigelow erzählt eine andere Wahrheit. Als einzige Frau ist sie im Wett­be­werb von Venedig vertreten. The Hurt Locker zeigt drei US-Soldaten im Irak. Sie sind ein Team von Bomben­ent­schär­fern, und müssen fast täglich unter Todes­ge­fahr hoch­ex­plo­sive Ladungen unschäd­lich machen. Schon die erste Szene zeigt, wie einer von ihnen in die Luft fliegt.
Sie sind aber keine Helden, sie sind normale Menschen, die ihre Arbeit eini­ger­maßen fach­ge­recht erledigen. Und sie sind auch ein bisschen wahn­sinnig. Oder süchtig nach Todes­ge­fahr: »For war is a drug« heißt es in einem Insert zu Beginn.
Der Film zeigt den Krieg unge­schönt, mit einem gewissen Hang zu kleinen Beob­ach­tungs-Zynismen: »Camp Liberty« heiße jetzt »Camp Victory«, erzählt einer der Soldaten. Über die Planungs­si­cher­heit der US-Armee heißt es: »Wir haben viele Panzer, die wir hier gar nicht benutzen können. Viel­leicht falls die Russen kommen, damit wir denen eine schöne Panzer­schlacht liefern können.«

Bigelow verbindet ganz Gegen­sätz­li­ches zu heraus­ra­gendem Kino: Einer­seits doku­men­ta­risch präzise Beob­ach­tungen eines nerven­zer­reißenden, harten Alltags unter Lebens­ge­fahr, dann einen Film, der akkurat den Wahnsinn dieses Teils unseres Lebens heraus­ar­beitet, und dabei zeigt, warum es trotzdem immer wieder junge Männer zum frei­wil­ligen Kriegs­dienst zieht. Bigelow insze­niert das alles mit Anklängen an ihre früheren Filme, an den Vampir­film Near Dark, der auch von Charak­teren handelte, die fürs zivile Leben nicht mehr taugen. Und an Strange Days, jenen so groß­ar­tigen wie unter­schätzten Science-Fiction über die Sucht nach Gren­z­er­fah­rungen. Mit Anklängen auch ans Zombie-Kino, an Paranoia-Filme und an Western. Die Faszi­na­tion dieser Regis­seurin für Männer­welten ist unbedingt spürbar, überhaupt ein Vorrang des Faszi­nie­renden, Flir­renden, Unklaren vor dem Eindeu­tigen, Wertenden, vor der Selbst­be­schrän­kung.

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Kathryn Bigelow zeigt keine »bösen« Ameri­kaner. Sie zeigt auch keine »guten«. Gut und böse, das inter­es­siert sie nicht. Und mancher in Venedig schimpfte daher über The Hurt Locker, weil Bigelow ihre Verdam­mung des Irak­kriegs, ihre Forderung nach Trup­pen­rückzug auf die Pres­se­kon­fe­renz beschränkte, der Film daneben auf Thesen und Predigten verzichtet und nur Partei für einzelne Menschen ergreift. In ihm geht es gar nicht um Politik – aber genau das ist politisch. Weil es für die Soldaten im Irak auch nicht um Politik geht, sondern ums Überleben.

The Hurt Locker ist eigent­lich gar kein Kriegs­film, sondern ein exis­ten­ti­elles, mensch­li­ches Drama. Der Irak der Kathryn Bigelow ist auch eine frontier, ein Jagd­ge­biet für Jäger, ein Ort außer­ge­wöhn­li­cher Erfah­rungen. Bigelow inter­es­siert sich für nichts so, wie für die sinnliche Erfahrung dieses Krieges und für das Erfassen, für die Wieder­gabe der Kamp­f­erfah­rung des Einzelnen. Das alles mag man nicht moralisch finden, und es mag politisch – aber das ist nicht so klar, wie man denkt – eine eher reak­ti­onäre Position sein. Aber auch ein Ernst Jünger lässt sich als Schrift­steller nicht einfach abtun, weil er einem politisch nicht in den Kram passt. Und auch Jüngers Kriegs-Texte handeln von Erfah­rungen, die der Ausein­an­der­set­zung wert sind.

Am Ende des Films sieht man einen der Soldaten, der in die USA zurück­ge­kehrt ist. Im Super­markt steht eine ganze Wand voller unter­schied­li­cher Corn-Flakes-Sorten – nicht nur ein absurder Kontrast zur zuvor gesehenen iraki­schen Wirk­lich­keit, sondern ein ungemein starkes Bild für den Charakter jener Freiheit, die mit dem Irak-Krieg erkämpft werden soll. Der Soldat, den wir sehen, wird wieder zurück­gehen, und weiter Bomben entschärfen. Bis er stirbt.

The Hurt Locker ist einer der bisher stärksten Filme der »Mostra 2008« – und doch scheint es unvor­stellbar, dass dieser Film von einer Jury unter dem Vorsitz eines Wim Wenders irgend­einen Preis bekommt. Zu weit ausein­ander liegen die völlig unter­schied­li­chen Welten dieser Filme­ma­cher.

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Zwei Kinder streifen durch ein verlas­senes Haus. Der Junge findet Spielzeug. Seine ältere Schwester durch­sucht andere Räume. Drei andere Kinder fahren mit dem Fahrrad durch eine Wohn­ge­gend. Sie kommen zu dem gleichen Haus, durch­su­chen in anderen Zimmern Schub­laden, der eine ältere Junge entpuppt sich als Sohn des Hauses. Im Garten ist ein Pool.

Das sind die ersten Bilder des argen­ti­ni­schen Spiel­films Una Semana Solos von Celina Murga. Er läuft beim Film­fes­tival von Venedig in der Nebensek­tion »Venice Days«, die es erst im fünften Jahr gibt, und die in diesem Jahr mit einigen ausge­zeich­neten Beiträgen glänzt. Diese Sektion, die vom italie­ni­schen Regis­seurs­ver­band kuratiert wird, entwi­ckelt sich immer mehr zu einem Pendant der »Quinzaine« in Cannes und des »Forums« bei der Berliner Berlinale.

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Celina Murgas hat schon nach 10 Minuten so viel erreicht, wie die meisten Filme nie erreichen. Der Film zeigt auch nach diesem rätsel­haften Beginn ein irreales Szenario. Über den gesamten Film sind fast ausschließ­lich Kinder und Jugend­liche zu sehen. Die Erwach­se­nen­welt ist märchen­haft abwesend. Die wenigen Erwach­senen sind entweder unifor­miertes Wach­per­sonal oder ein Dienst­mäd­chen.

Es stellt sich bald heraus, dass die Ausgangs­lage realis­tisch ist: Die Kinder leben in einer »Gated Community« bei Buenos Aires. Ihre Eltern sind eine Woche an die Küste wegge­fahren, haben die Kinder sich selbst über­lassen, und sind nur über Tele­fon­an­rufe gele­gent­lich kurz und gleich­gültig präsent. »Spielt nicht im Wohn­zimmer.«

Die Kinder hängen herum. Viele spielen Video­spiele, gucken Fußball. Ein jüngeres Mädchen probiert Erwach­se­nen­kla­motten aus vor dem Spiegel. Es gibt Popmusik und Mädchen­ge­spräche. Eine Ältere schreibt eine SMS an jemand. Sie trinken ihre ersten Biere. »Schmeckt gut, nicht?« – »Nein!« Sie tanzen. Sie brechen in fremde Wohnungen ein und klauen. Sie fahren mit gestoh­lenen Autos. Was soll ihnen passieren, sie wissen, dass die Sicher­heits­leute auch die Ange­stellten ihrer Eltern sind.

Es gibt hier ein Glück des Allein­seins der Kinder, aber es überwiegt Einsam­keit und Wunsch nach Zuwendung. Man denkt an Jules Vernes »Zwei Jahre Ferien«, aber auch an »Lord of the Flies«.

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Im Pool der Community sind keine Turn­schuhe erlaubt. Am Ende verwüsten die Kinder ein Haus. Die Wachen entdecken sie, und die Jungen wollen alles auf Juan schieben, den einzigen, der von außen kommt, den Bruder des Dienst­mäd­chens. Was am stärksten im Gedächtnis bleibt: Wie sich die Klas­sen­ge­sell­schaft von morgen in den Bezie­hungen der Kinder schon abzeichnet.

Rüdiger Suchsland