65. Filmfestspiele von Venedig 2008
Vampire gegen Zombies |
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Der beste Film bislang: The Hurt Locker |
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(Foto: Concorde Filmverleih) |
Ein Testosteron-Film. Man spürt Anspannung, man spürt Angst. Die Atmosphäre ist angespannt von der ersten Minute an. Man schmeckt die trockenen Zungen der Männer. Man riecht ihren Schweiß. Stress, Sinnlichkeit, unmittelbare Erfahrung dominieren. Wer darf sterben, wer muss leben? Man glaubt die Hollywood-Logik solcher Filme zu kennen: Der Schwarze stirbt normalerweise, der Star lebt. Hier ist es umgekehrt. Oder auch nicht.
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Auch sonst ist dieser Film lässt der Film viele der üblichen Film-Logiken hinter sich. Der Iraki, der ein Mobil-Telefon in seiner Hand hat, mit der man die zu entschärfende Bombe zünden könnte, wird nicht von bösen und voreilig ballernden Amis unschuldig erschossen, sondern gar nicht. Und er ist nicht unschuldig, sondern er löst per Telefon die Bombe aus.
Die US-Soldaten, die hier gezeigt werden, sind keine Cowboys, die gern zum Frühstück ein paar Indianer erlegen. Die US-Soldaten
schießen wenn überhaupt erstaunlich zögerlich in Situationen in denen man im Kinosessel schon lange denkt: Warum schießen sie nicht? Auf den Mann, der mit seiner Kamera darauf wartet eine Explosion aufzunehmen und vermutlich ins Internet zu stellen. Auf die Männer, die von irgendwelchen Balkons aus offenkundig eine Zündung dirigieren. Auf den Mann, der mit mehreren Sprengstoffgürteln auf die Truppen zugeht.
Die US-Soldaten, die hier gezeigt werden, sind keine
White-Trash-Sadisten, die foltern und vergewaltigen (wie in Brian DePalmas hervorragendem Redacted), sie sind keine überforderten, von Offizieren im Stich gelassenen armen Opfer, die ab und an über die Stränge schlagen, und ihre Vorschriften missachten (wie in Battle for hadhita von Nick Broomfield). Sie sind auch keine feigen Jammerlappen, aber sie sind auch keine Opfer, keine eigentlich guten, durch höhere Mächte auf falsche Pfade
geführten All American Boys (wie bei I In the Valley of Elah).
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All das sind US-Soldaten vermutlich auch, aber Kathryn Bigelow erzählt eine andere Wahrheit. Als einzige Frau ist sie im Wettbewerb von Venedig vertreten. The Hurt Locker zeigt drei US-Soldaten im Irak. Sie sind ein Team von Bombenentschärfern, und müssen fast täglich unter Todesgefahr hochexplosive Ladungen unschädlich machen. Schon die erste Szene zeigt, wie einer von ihnen in die
Luft fliegt.
Sie sind aber keine Helden, sie sind normale Menschen, die ihre Arbeit einigermaßen fachgerecht erledigen. Und sie sind auch ein bisschen wahnsinnig. Oder süchtig nach Todesgefahr: »For war is a drug« heißt es in einem Insert zu Beginn.
Der Film zeigt den Krieg ungeschönt, mit einem gewissen Hang zu kleinen Beobachtungs-Zynismen: »Camp Liberty« heiße jetzt »Camp Victory«, erzählt einer der Soldaten. Über die Planungssicherheit der US-Armee heißt es: »Wir haben
viele Panzer, die wir hier gar nicht benutzen können. Vielleicht falls die Russen kommen, damit wir denen eine schöne Panzerschlacht liefern können.«
Bigelow verbindet ganz Gegensätzliches zu herausragendem Kino: Einerseits dokumentarisch präzise Beobachtungen eines nervenzerreißenden, harten Alltags unter Lebensgefahr, dann einen Film, der akkurat den Wahnsinn dieses Teils unseres Lebens herausarbeitet, und dabei zeigt, warum es trotzdem immer wieder junge Männer zum freiwilligen Kriegsdienst zieht. Bigelow inszeniert das alles mit Anklängen an ihre früheren Filme, an den Vampirfilm Near Dark, der auch von Charakteren handelte, die fürs zivile Leben nicht mehr taugen. Und an Strange Days, jenen so großartigen wie unterschätzten Science-Fiction über die Sucht nach Grenzerfahrungen. Mit Anklängen auch ans Zombie-Kino, an Paranoia-Filme und an Western. Die Faszination dieser Regisseurin für Männerwelten ist unbedingt spürbar, überhaupt ein Vorrang des Faszinierenden, Flirrenden, Unklaren vor dem Eindeutigen, Wertenden, vor der Selbstbeschränkung.
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Kathryn Bigelow zeigt keine »bösen« Amerikaner. Sie zeigt auch keine »guten«. Gut und böse, das interessiert sie nicht. Und mancher in Venedig schimpfte daher über The Hurt Locker, weil Bigelow ihre Verdammung des Irakkriegs, ihre Forderung nach Truppenrückzug auf die Pressekonferenz beschränkte, der Film daneben auf Thesen und Predigten verzichtet und nur Partei für einzelne Menschen ergreift. In ihm geht es gar nicht um Politik – aber genau das ist politisch. Weil es für die Soldaten im Irak auch nicht um Politik geht, sondern ums Überleben.
The Hurt Locker ist eigentlich gar kein Kriegsfilm, sondern ein existentielles, menschliches Drama. Der Irak der Kathryn Bigelow ist auch eine frontier, ein Jagdgebiet für Jäger, ein Ort außergewöhnlicher Erfahrungen. Bigelow interessiert sich für nichts so, wie für die sinnliche Erfahrung dieses Krieges und für das Erfassen, für die Wiedergabe der Kampferfahrung des Einzelnen. Das alles mag man nicht moralisch finden, und es mag politisch – aber das ist nicht so klar, wie man denkt – eine eher reaktionäre Position sein. Aber auch ein Ernst Jünger lässt sich als Schriftsteller nicht einfach abtun, weil er einem politisch nicht in den Kram passt. Und auch Jüngers Kriegs-Texte handeln von Erfahrungen, die der Auseinandersetzung wert sind.
Am Ende des Films sieht man einen der Soldaten, der in die USA zurückgekehrt ist. Im Supermarkt steht eine ganze Wand voller unterschiedlicher Corn-Flakes-Sorten – nicht nur ein absurder Kontrast zur zuvor gesehenen irakischen Wirklichkeit, sondern ein ungemein starkes Bild für den Charakter jener Freiheit, die mit dem Irak-Krieg erkämpft werden soll. Der Soldat, den wir sehen, wird wieder zurückgehen, und weiter Bomben entschärfen. Bis er stirbt.
The Hurt Locker ist einer der bisher stärksten Filme der »Mostra 2008« – und doch scheint es unvorstellbar, dass dieser Film von einer Jury unter dem Vorsitz eines Wim Wenders irgendeinen Preis bekommt. Zu weit auseinander liegen die völlig unterschiedlichen Welten dieser Filmemacher.
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Zwei Kinder streifen durch ein verlassenes Haus. Der Junge findet Spielzeug. Seine ältere Schwester durchsucht andere Räume. Drei andere Kinder fahren mit dem Fahrrad durch eine Wohngegend. Sie kommen zu dem gleichen Haus, durchsuchen in anderen Zimmern Schubladen, der eine ältere Junge entpuppt sich als Sohn des Hauses. Im Garten ist ein Pool.
Das sind die ersten Bilder des argentinischen Spielfilms Una Semana Solos von Celina Murga. Er läuft beim Filmfestival von Venedig in der Nebensektion »Venice Days«, die es erst im fünften Jahr gibt, und die in diesem Jahr mit einigen ausgezeichneten Beiträgen glänzt. Diese Sektion, die vom italienischen Regisseursverband kuratiert wird, entwickelt sich immer mehr zu einem Pendant der »Quinzaine« in Cannes und des »Forums« bei der Berliner Berlinale.
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Celina Murgas hat schon nach 10 Minuten so viel erreicht, wie die meisten Filme nie erreichen. Der Film zeigt auch nach diesem rätselhaften Beginn ein irreales Szenario. Über den gesamten Film sind fast ausschließlich Kinder und Jugendliche zu sehen. Die Erwachsenenwelt ist märchenhaft abwesend. Die wenigen Erwachsenen sind entweder uniformiertes Wachpersonal oder ein Dienstmädchen.
Es stellt sich bald heraus, dass die Ausgangslage realistisch ist: Die Kinder leben in einer »Gated Community« bei Buenos Aires. Ihre Eltern sind eine Woche an die Küste weggefahren, haben die Kinder sich selbst überlassen, und sind nur über Telefonanrufe gelegentlich kurz und gleichgültig präsent. »Spielt nicht im Wohnzimmer.«
Die Kinder hängen herum. Viele spielen Videospiele, gucken Fußball. Ein jüngeres Mädchen probiert Erwachsenenklamotten aus vor dem Spiegel. Es gibt Popmusik und Mädchengespräche. Eine Ältere schreibt eine SMS an jemand. Sie trinken ihre ersten Biere. »Schmeckt gut, nicht?« – »Nein!« Sie tanzen. Sie brechen in fremde Wohnungen ein und klauen. Sie fahren mit gestohlenen Autos. Was soll ihnen passieren, sie wissen, dass die Sicherheitsleute auch die Angestellten ihrer Eltern sind.
Es gibt hier ein Glück des Alleinseins der Kinder, aber es überwiegt Einsamkeit und Wunsch nach Zuwendung. Man denkt an Jules Vernes »Zwei Jahre Ferien«, aber auch an »Lord of the Flies«.
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Im Pool der Community sind keine Turnschuhe erlaubt. Am Ende verwüsten die Kinder ein Haus. Die Wachen entdecken sie, und die Jungen wollen alles auf Juan schieben, den einzigen, der von außen kommt, den Bruder des Dienstmädchens. Was am stärksten im Gedächtnis bleibt: Wie sich die Klassengesellschaft von morgen in den Beziehungen der Kinder schon abzeichnet.
Rüdiger Suchsland