15.02.2009
59. Berlinale 2009

Die fünfzehn Zeichen

Krise, oder nicht?
Krise? Welche Krise?

... oder: »Is nu Krise oda nich?«

Von Thomas Willmann

Es ist wie mit der Fußgän­ger­zone: Man hat von ihr gelesen, DER KRISE, und weiß, dass wir schon mitten in ihr stecken. Aber wenn man sich dann zu Haupt­ein­kaufs­zeiten durch die Fußgän­ger­zone drängelt, sieht man noch nichts davon, dass die Leute weniger Geld hätten, oder weniger Bereit­schaft, selbiges auszu­geben.
So also auch auf der Berlinale: DIE KRISE war als das große Thema ausge­geben, und vorab waren alle gespannt, wie sie sich wohl auf das Festival auswirken würde. Aber dann – und das Jury-Urteil bestätigt das mehr als alles – herrschte erstmal doch schlicht Business as usual. Den Betrieb in seinem Lauf halten weder Krise noch maue Filme auf.

Mag sein, dass das so ist wie in den Road­runner-Cartoons: Wo Wile E. Coyote auch immer noch ein paar Meter nach der Kliff­kante geradeaus weiter­rennt, obwohl er längst keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Aber es ließ einen allemal Ausschau halten nach Zeichen – Zeichen, die entweder zeigen würden, dass sie doch längst da ist, DIE KRISE, oder Zeichen, die beweisen, dass das alles nur alar­mis­ti­sches Gerede ist, was von ihrer angeb­li­chen momen­tanen Herr­schaft erzählt wird.

Und drum: Unsere Liste der Zeichen, pro und contra Krise, und unsere Deutung.

In der ersten Abteilung sehen Sie:
»Krise? Welche Krise?« – Fünf Zeichen, dass alles noch bestens ist

  1. Erika Rabau: Der lebende Beweis der Beharr­lich­keit der Verhält­nisse. Die puckhafte Berlinale-Stamm­fo­to­grafin stakst noch immer (und noch immer mit ihrer unver­meid­li­chen Leder­jacke) bei jeder Pres­se­kon­fe­renz vor dem Podium herum, auch wenn man inzwi­schen nicht mehr so recht weiß, was sie noch aufrecht-, und wie sie noch die Kamera hält. Viel­leicht foto­gra­fiert sie auch schon längst nicht mehr wirklich.
  2. Der Kosslick Dieter: Seine »Wo bin ich hier eigent­lich?«-Nummer zele­brierte er ja selbst bei der Bären-Verlei­hung. Klar, das ist ein Image, das er kulti­viert. Aber es gibt einem das beru­hi­gende Gefühl: Selbst wenn einer komplett planlos scheint, kann er noch die Verant­wor­tung tragen für eine ziemlich große, komplexe Orga­ni­sa­tion – und es funk­tio­niert. Weil er in Wahrheit viel mehr drauf hat, als er zu erkennen gibt. Viel­leicht klappt das ja auch mit den Finanz­markt­ex­perten.
  3. Ticket­re­kord! Schon zur Halbzeit mehr Karten verkauft als im gesamten Vorjahr! Die Leute rennen gerade jetzt ins Kino, weil sie Ablenkung brauchen, oder Hilfe beim Verstehen des Gesche­hens!
  4. Vor und nach jeder Star-besetzten Pres­se­kon­fe­renz am Seiten­ein­gang des Hotels, bei jedem Roten Teppich: Die Menge an wartenden Fans und Schau­lus­tigen ist definitiv nicht geschrumpft. Ganz offen­sicht­lich haben die Leute noch keine dring­li­cheren Sorgen als die, sie könnten den Live-Anblick eines Promi­nenten verpassen.
  5. Von einer Ratio­nie­rung des Film­ma­te­rials sind wir offen­sicht­lich noch ein gutes Stück entfernt: So viele drei- und vier­stün­dige Filme gab’s nie. Okay, zugegeben, daran ist vor allem die Retro schuld, weil 70mm-Produk­tionen nunmal gern nicht nur besonders breit, sondern auch besonders lang sind. Ein Lein­wan­d­epos ist kein richtiges Lein­wan­d­epos, wenn man das Epische nicht nachher auch im Gesäß spürt. Aber auch im aktuellen Programm wurde die 160-Minuten-Marke erstaun­lich oft über­sprungen.

In der zweiten Abteilung aber sehen Sie nun:
»The End is very fucking nigh!« – Zehn Zeichen, dass alles zu spät ist

  1. Erika Rabau: Eben – viel­leicht foto­gra­fiert sie in Wirk­lich­keit schon längst nicht mehr. Viel­leicht ist sie nur noch Staffage, ein unver­zicht­barer, aber nicht mehr funk­tio­naler Teil der Perfor­mance! Und zeigt damit nur, wie uns der Schein trüge­risch beruhigen kann.
  2. Der Kosslick Dieter: Jemand, der so planlos durch die Gegend rennt, kann doch in Wahrheit kein Festival leiten, oder? Er ist der Topma­nager des Berlinale-Betriebs, aber die Arbeit machen andere für ihn. An der Spitze steht keine Führungs­au­torität, sondern einer, der sich gern in Szene setzt. Genau wie in der Wirt­schaft!
  3. Ticket­re­kord! Tja, und woher kommt der? Zum einen, weil mit dem Fried­rich­stadt­pa­last als neuer Spielstätte schlicht mehr Plätze als früher zur Verfügung stehen. Zum anderen, weil heimlich, still und leise die Kontin­gente für Akkre­di­tierte verklei­niert wurden. Und was heißt das? Die Berlinale gibt Kauf­karten Priorität, sprich: Sie braucht Geld! (Wofür auch die dras­ti­sche Erhöhung der Akkre­di­tie­rungs­ge­bühren spricht.) Der Ticket­re­kord – in Wahrheit ein Zeichen für den drohenden Bankrott!
  4. Was die Geschichte vom Ticket­re­kord außerdem verdächtig scheinen ließ: Es klebte dieses Jahr bei der zentralen Vorver­kaufs­stelle auf den Tafeln mit dem Programm kein einziger »Ausver­kauft«-Sticker. Nun wäre es lächer­lich, deshalb anzu­nehmen, dass tatsäch­lich keine Vorstel­lung komplett gefüllt gewesen wäre – die pure Erfahrung lehrte das dras­ti­sche Gegenteil. Nein, viel schlimmer: Die Berlinale ist derart klamm, dass sie selbst an so ein paar Klebe­punkten sparen muss!
  5. Die Menge der wartenden Fans und Schau­lus­tigen: Warum können sich die das leisten, da am hellichten Tage Stunden vor einem Hotel­ein­gang rumzu­stehen, nur um für ein paar Sekunden einen Blick auf irgend­einen Schau­spieler zu erhaschen? Na, keine Frage: Weil sei keine Arbeit haben!
  6. So viele drei-, vier­stün­dige Filme wie nie: Man ist noch großzügig mit dem Material? Von wegen! Alle haben Panik, dass sie demnächst keins mehr bekommen! Drum wird wegbe­lichtet, was man nur kriegen kann. Und was einmal belichtet ist, gilt auch als zu kostbar, um es im Schnitt wieder wegzu­werfen. Alles rein, egal wie lang der Film dadurch wird!
  7. Kein kosten­loser W-Lan-Zugang mehr für Jour­na­listen. Warum? Weil der Sponsor dafür fehlte. Und man munkelt: Da könnten in den nächsten Jahren noch mehr abspringen. Mal gucken, ob’s 2010 dann an Limou­sinen fehlt, mit denen die Stars (wohl doch nicht so werbe­wirksam) durch die Gegend kutschiert werden. Unser Vorschlag: Ökolo­gisch vernünf­ti­gere Alter­na­tiven suchen! Was dieses Festival braucht, ist ein Sponsor für Fahrräder, mit denen die Schönen und/oder Berühmten, munter klingelnd, volksnah vor den Roten Teppich velo­zi­pe­dieren können.
  8. Immerhin: Einen Mine­ral­was­ser­sponsor gab es noch. Aller­dings wieder einen anderen als zuletzt. Und einen, wie er symbol­träch­tiger für unsere Zeit nicht hätte sein können. Die Frage Sekt oder Selters war nämlich damit beant­wortet.
  9. Früher liefen auf der großen Video­lein­wand vor dem Berlinale Palast immer nur Über­tra­gungen der Pres­se­kon­fe­renzen und Vorschauen auf die Filme. Dieses Jahr gab’s dort nicht nur heute-Sendungen zu sehen – sonden auch Werbe­spots. Unter anderem für Billigst-Möbel­märkte und Discount-Super­märkte. Wer’s vorher nicht glaubte, muss es jetzt glauben: Die Berlinale braucht Geld. Und wir sind sicher: Das ist erst der Anfang, das ist der erste, kaum bemerkte kleine Zeh in der Tür. Ist aber okay. Wir jeden­falls frühen uns auf den Tag, an dem vor einer Groß­pre­miere im Berlinale Palast das Gala-Publikum erstmal ein paar Minuten lokale Diashow-Werbung anschauen darf, so wie es sie ganz früher in den Kinos gab. »Ciao Giorgio Cluny, haste du nach die Filme Hunger? Kommste Du zu Mario Pizza, gleiche um die Äcke. Gibte es die gute Pizza billig. Auche für die Gebut­s­tags­feia unde die Firmafest. Die Mittwoch Ruhetag.«
  10. Okay, dies letzte Omen hat nun nicht direkt mit der Berlinale zu tun. Aber es ist wohl das erschre­ckendste von allen. Nämlich: Der Juhnke ist weg! Ja, der beim Bahnhof Zoo!

    Für alle Nicht­ein­ge­weihten: Seit Jahr und Tag hing am Eckpfeiler einer Passage neben dem Zoopalast ein Bild, auf dem Harald Juhnke selig mit ausge­brei­teten Händen und einer welt­män­ni­schen »Da schau an, da kann man nicht meckern, das sieht aber ordent­lich lecker aus«-Miene eine vor ihm auf einem Tisch plat­zierte China-Ente dem geneigten Betrachter präsen­tierte. Und damit ein nahe­ge­le­genes asia­ti­sches Restau­rant bewarb. Dieses Bild gehörte zu Berlin wie der Fern­seh­turm oder das Bran­den­burger Tor (und rangierte von seiner kultur­his­to­ri­schen Bedeutung in etwa zwischen diesen beiden anderen Wahr­zei­chen). Und nu: Weg! Einfach fort! Nimmer da! Auf die nackten Leucht­röhren dahinter fällt an dessen Stelle der entsetzte Blick.
    Und jetzt habe ich die Offen­ba­rung des Johannes schon länger nicht mehr gelesen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Verschwinden des Juhnke-Bildes eines der Zeichen der Apoka­lypse ist. (Ich glaube, in The Seventh Sign haben sie’s vergessen, aber man weiß ja, wie schlecht recher­chiert diese Hollywood-Reißer sind...)
    Wundern Sie sich also nicht, wenn es demnächst Frösche regnet. Oder Chin­aenten. Und die Hure Babylon auf einem sieben­köp­figen Biest zum Roten Teppich reitet, weil ihr kein deutscher Autobauer mehr die Limousine dafür sponsort.

    Noch aber ist viel­leicht nicht alle Hoffnung verloren. In einer Stadt, in der man zerstörte Barock­schlösser einfach wieder hinbaut, muss doch auch so ein Kultur­denkmal zu retten sein. Wir schlagen die Gründung eines Kommitees und Bürger­ver­eins zur Wieder­her­stel­lung des heiligen Juhnke-Bild­nisses vor. Und bitten alle inter­es­sierten Archi­tekten, schon jetzt mit der Arbeit an ihrem Beitrag für die Ausschrei­bung zu beginnen. Die nötigen Millionen für das Projekt gibt es bestimmt aus dem Konjunk­tur­paket.,/p>

Thomas Willmann