Cinema Moralia – Folge 18
»Unser Slum gehört uns!« |
||
Authentisch oder Macht der Fiktion? | ||
(Foto: Prokino Filmverleih GmbH / Studiocanal GmbH) |
Frage: Was ist Slumdog Millionaire eigentlich für ein Film?
Antwort A: Ein indischer Film
Antwort B: Ein britischer Film
Antwort C: Ein Hollywood-Film
Antwort D: Von allem ein bisschen.
+ + +
Natürlich ist Slumdog Millionaire irgendwie britisch, denn Regisseur Danny Boyle ist Engländer, genau so wie der Drehbuchautor. Aber Vikas Swarup, der Autor der Romanvorlage »Rupien! Rupien!« (auf deutsch bei KiWi), ist Inder, sein Held ist ein indischer Junge, die Schauspieler sind auch sämtlich Inder, manche Laien aus den Slums, andere berühmte Bollywoodstars. Und A. R. Rahman, der vor vier Wochen gleich doppelt den Oscar gewann – für den besten Song und die beste Filmmusik – ist auch Inder. Verleih und Produktion wiederum sind amerikanisch, sogar – oh je, oh je – aus Hollywood! Dem Ort des Teufels in der Stadt der Engel!! Und nun? Was folgt daraus? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass manche die Globalisierung immer noch nicht verstanden haben.
+ + +
Vorletzten Samstag fiel uns beim Frühstück fast wie dem Bierbichler in Deutschland 09 (ab dieser Woche in den Kinos) die Kaffeetasse aus der Hand. Nein, es war keine Filmkritik in einer süddeutschen Tageszeitung, sondern ein Text von Salman Rushdie in der FAZ. Salman Rushdie, genau! Man spricht ihn übrigens, das haben wir jetzt ein für allemal gelernt (aufrichtigen Dank an Karin Fischer!), man spricht ihn »Ruschdi« und nicht »Raschdi« aus. Dieser Rushdie also schrieb einen ganz schön langen Text, in dem er sich auf einer ganzen Doppelseite über Slumdog Millionaire im Besonderen und Literaturverfilmungen im Allgemeinen ereiferte. Von »neokolonialem Kitsch« war da zu lesen, »touristischen Bildern« und schon die Überschrift des Textes enthielt das Fazit: »Slumdog Millionaire ist zum Davonlaufen«.
+ + +
Erinnert sich noch jemand an den Streit um Schindlers Liste? Als Steven Spielbergs, mit allen Kunstgriffen Hollywoods inszeniertes Drama über die Shoa und den deutschen Judenretter Schindler 1994 ins Kino kam, reagierten viele deutsche Intellektuelle gekränkt – nicht nur, weil sie selbst fast 50 Jahre lang nicht gewusst hatten oder wissen wollten, wer Oskar Schindler war. Sondern
vor allem, weil plötzlich ihr Alleinvertretungsanspruch in Frage stand. Darf ein Amerikaner einfach kommen und uns unseren Holocaust wegnehmen?
Eine ähnliche Polemik gab es schon zehn Jahre zuvor von Seiten tschechischer Emigranten und in der CSSR verbliebener Dissidenten, als Philip Kaufmann Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins verfilmt hatte – das gehe
ja wohl nicht, hieß es, wie könne einer schon den »Prager Frühling« verstehen, der nicht dabei gewesen ist? Und eine Französin wie Juliette Binoche könne doch wohl nicht einfach ein tschechisches Mädchen spielen…
+ + +
An derartige kulturnationalistische Attacken fühlt man sich jetzt erinnert, wenn man liest, was Rushdie über Slumdog Millionaire denkt. Wir zitieren: »Wer ansehen muss, dass die Geschichte seiner Heimatstadt auf so komisch absurde, knallige Weise erzählt wird, kann sich nur ärgern.« Mal davon abgesehen, dass der Film keineswegs »die Geschichte« Bombays erzählt: Ausgerechnet Rushdie, der aus
Indien stammende, inzwischen auch schon über 60-jährige, seit fast 50 Jahren nahezu ununterbrochen in London lebende Schriftsteller, klagt über eine falsche Darstellung der Stadt, die er kaum noch kennt, die zur Zeit seines Wegzuges etwa 4 Millionen Einwohner hatte, heute über 13 Millionen. Ein bisschen albern, oder?
Ausgerechnet Rushdie möchte man sagen, ausgerechnet er müsste es eigentlich besser wissen. 20 Jahre ist es her, seit er mit der Todesdrohung des Ayatollah Khomeini
leben muss. Der und andere islamistische Fanatiker warfen ihm seinerzeit vor, das Bild der islamischen Religion zu verzerren. Ist Rushdie so blind, dass er die Ähnlichkeiten zwischen seiner Argumentation und der der Fanatiker nicht bemerkt?
Man könnte jetzt den Film verteidigen und versuchen, Rushdie nachzuweisen, wo er sich irrt; man könnte auch zeigen, dass der berühmte Mann ganz offensichtlich nur ein trauriges Verständnis des Wesens von Literaturverfilmungen hat, wie
sich auch daran zeigt, dass er sich höchst umständlich um den Nachweis bemüht, dass ausgerechnet auch Robert Altmans Short Cuts eine missratene Literaturvorstellung sei, die ihr Vorbild verrät.
Interessanter aber ist die grundsätzliche Haltung, für die Rushdies Attacke nur ein prominentes Beispiel bildet. Schon nach der Oscar-Verleihung hatte die linksalternative Berliner »Taz«
gegen die »global vereinheitlichte Ästhetik« des Films gelästert – als dürfe sich ein Film, weil er aus Indien kommt und von Indien erzählt, ja nicht allzu sehr den Sehgewohnheiten des westlichen Publikums anpassen.
Oder als würde das den Indern etwas wegnehmen? Das tut es bestimmt nicht, im Gegenteil sind indische Bollywood-Filme – übrigens die größte Filmindustrie der Welt, viel größer als Hollywood – heute gerade beim jüngeren Publikum westlicher Metropolen
überaus angesagt.
+ + +
Es sind die altbekannten Fetische der Postmoderne, die hier noch einmal aufgekocht werden. Sie heißen Identität und Authentizität. In der Postmoderne, inzwischen auch eher 30 als 20 Jahre alt, hatte alles »mit sich identisch« zu werden, und alles musste »authentisch« sein. Das hatte damals seine guten Gründe: Die Postmoderne wollte dem »Anderen«, dem »Unterdrückten« eine Stimme geben, darum hatten alle übrigen erstmal zu schweigen. Es galt: Wer nicht selbst betroffen ist, durfte
nichts sagen: Weiße können nicht über Schwarze schreiben, Heteros nicht über Schwule und Männer nicht über Frauen.
Nach dieser Logik kann ein Film gar nicht authentisch und glaubwürdig sein, den ein Engländer über Indien dreht, mögen auch noch so viele Inder mitspielen, mag es auch eine indische Geschichte sein. Aber dies ist alles eine rein politische Logik, die auf die Kunst, auch zu Hochzeiten der Postmoderne kaum gepasst hat. Ihre Ursache ist ein verengtes Verständnis von
Identität, das diese nur als homogene, geschlossene begreifen kann, nicht als heterogen und offen. Nach ihr kann man nicht mehrere Identitäten zugleich haben, und – zum Beispiel – als wohlhabender Engländer indische Slumkinder verstehen.
Als Verständnis von Kunst ist das aber sowieso nur borniert. Dort waren die Identitäten noch nie so homogen, wie das jetzt von manchen eingefordert wird. Unter den Bedingungen einer globalisierten Kultur hat im Gegenteil jeder das
Recht, auch über Fremdes Filme zu drehen, oder Bücher zu schreiben, ohne Vorschriften der Political Correctness beachten zu müssen. Genaugenommen hatte jeder dieses Recht schon immer. Charles Dickens und Emile Zola haben zum Beispiel im 19. Jahrhundert über das Lumpenproletariat ihrer Zeit geschrieben. War das auch Voyeurismus oder Slumtourismus? Und ging es etwa in Mozarts Oper über die »Entführung aus dem Serail« um dokumentarische Korrektheit?
Wie diese Klassiker, oder zuletzt der britisch-indische Booker Prize-Gewinner Aravind Adiga, dessen Indien-Roman »Der weiße Tiger« ähnliche Vorwürfe gemacht werden, belegt auch Danny Boyles Film die Macht der Fiktion.
In der Kunst ist Authentizität immer eine Frage der Phantasie. Und Globalisierung bedeutet in ihr Vermischen, bedeutet, dass keiner mehr ein alleiniges Recht auf ein kulturelles Erbe hat. Auch nicht Salman Rushdie.
+ + +
Rushdies Text ist eher typisch für die Haltung eines – postmodern geprägten, nicht mehr ganz jungen – westlichen Kulturestablishments, das hinter der Maske der »Identität« einen recht altbackenen Nationalismus pflegt. Rushdie entlarvt sich selbst als ein typischer Vertreter eines Intellektuellen-Jet-Set, der in irgendeinem Luxusapartment einer Weltstadt plötzlich seine Wurzeln entdeckt und das Ursprüngliche im Land seiner Herkunft verteidigt. Eine typische
Sehnsucht nach Härte und Schwere, nach Einfachheit und Volksnähe. Dafür werden dann Verbotstafeln aufgestellt.
Dass er damit nebenbei sein eigenes Monopol auf Indiendeutung sichert – honi soit qui mal y pense. Ausgerechnet Rushdie.
+ + +
Ich war dabei. Ein bisschen erinnert uns das auch daran, wie seinerzeit Großvater vom Krieg erzählte. Das könne wirklich nur einer beurteilen der es selbst erlebt habe – wir waren ganz froh, dass wir nicht dabei gewesen sind, und lesen, was den Zweiten Weltkrieg angeht, lieber die Romane von Günther Grass, W.G.Sebald oder im vergangenen Jahr von Jonathan Littel.
+ + +
Was aus Rushdies übrigen Ausführungen über Literaturverfilmungen klar wird: Rushdie misstraut dem Kino, weil er die Macht der Fiktion fürchtet. Offenbar, weil Bilder unkontrollierbar sind. Was der tiefere Sinn des Voyeurismusvorwurfs ist: Die Beunruhigung gegenüber diesem Grundzug von Schaulust, der das Kino prägt. Wie voyeuristisch ist die Kunst? Auch das ist eine Frage, die man einmal diskutieren müsste.
+ + +
Chronik. Am Montag, 30. März findet um 19 Uhr im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt ein Filmgespräch zwischen Tom Tykwer und Ulrich Sonnenschein statt. Wegen des großen Interesses sind zwar derzeit keine Tickets mehr erhältlich, am kommenden Samstag kommt aber nochmals ein Restkontingent von Tickets in den Vorverkauf (Reservierung ab 14 Uhr unter 069-961 220 220). Das Filmgespräch mit Tom Tykwer wird auch ins Kinofoyer übertragen und kann dort gesehen werden. Die im Museumskino geführten Gespräche sind bisher im Sonderheft »Was tut sich – im deutschen Film?« von epd Film veröffentlicht worden, das an der Museumskasse (4,90 Euro), über den Online-Shop auf www.deutsches-filmmuseum.de erhältlich ist.
+ + +
»Saudumm«. So hieß ein Wort, das neulich der von uns immer aufs Neue sehr geschätzte Claudius Seidl über einen Kurzfilm der Kurzfilmkompilation »Deutschland 09« geschrieben hat. Man muss inhaltlich nicht mit Seidl übereinstimmen, um den Text toll geschrieben zu finden. Aber richtig lieben muss man Seidl für dieses eine Wort, dafür dass er es in einen Text einer ganz seriösen Zeitung eingebunden und diese eben dadurch noch seriöser gemacht hat. Dieses Wort, das eben manchmal in einer Filmkritik sehr wohl etwas zu suchen hat. Und das eben auch mal direkt auf eine Person gemünzt gehört, wenn die betreffende Person – ein Filmemacher, oder auch ein Kritiker – sich halt so verhält, das es keine treffendere Bezeichnung. Genauso wie man jemanden auch mal als Jakobiner (für uns ein Kompliment!), Sansculotte (kein Kompliment) oder als Westentaschengodard (auch keins) bezeichnen kann. Finden wir jedenfalls, zugegeben im Gegensatz zu manch anderen. Aber wer anständig bewundern darf – und das dürfen und wollen Filmkritiker ja, wie alle Liebhaber – der darf auch verabscheuen. Saudumm, wer nicht kapiert, das Filmkritik manchmal was mit Leidenschaft zu tun hat.
+ + +
TORPEDO im Kino. Ein Mädchen in Berlin, einsam zwischen Schule, Freunden, Tanten, und allen möglichen Versuchen, sich anzupassen, frei zu sein, das Leben einfach zu leben. Dieses Debüt von Helene Hegemann ist, wie der Titel schon nahelegt, schnell und erstaunlich konsequent erzählt, trotzdem mit viel Lust daran, einfach mal hinzugucken oder kurz irgendwo zu verweilen. Wunderbar ist auch Hegemanns Umgang mit Musik. Vor allem aber ist Torpedo sehr originell und bei all seinem absurden Witz im Kern ganz ernst und oft traurig. Aus jugendlicher Perspektive wirft der Film einen irritierten Blick auf die Welt der Erwachsenen, und deckt auf, an was wir uns gewöhnt haben.
Das gilt auch fürs deutsche Kino, das hier mal so en passent einen Gegenentwurf präsentiert bekommt, wie deutsche Filme sein könnten, ohne Förderreferenten, denen so
etwas viel zu viel »Kunst« ist, vor allem ohne die Eingriffe von TV-Redakteuren, die die Filme mit Erklärungszwängen und »Warum?«-Fragen zupflastern, bis sie alle Freiheit und alles Leben ausgehaucht haben. Ohne all das könnte das deutsche Kino witzig sein, flott, geistreich. Torpedo zeigt, wie etwas kurzweilig ist, ohne flach zu sein. Zu viele haben das vergessen. Diese 40 Minuten wiegen
schwerer als ganze Lebenswerke von Langweilern.
+ + +
Leider läuft Torpedo jetzt erstmal nur in Berlin. Es muss schrecklich sein, fern von Berlin, weit weg von den Wunderkindern der Stunde. Dachten wir bei einer anderen Lektüre, als endlich auch München Helene Hegemann entdeckte. Oder so was. Hier, lieber Tobi, ist schon mal der Name des nächsten Wunderkinds: Nora von Waldstetten. Es dauert nicht mehr lang, da wird sie in jedem zweiten deutschen
Film spielen, wetten? Bald mehr an diesem Ort. Wir sehen uns. Grüße von der Hippness-Queen.
Rüdiger Suchsland
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.