09.07.2009
26. Filmfest München 2009

Sexplizit

Emma & Marie
Sinnlich: Emma & Marie
(Foto: Salzgeber & Co. Medien)

Das Kino hat die Antwort auf Prüderie gefunden – ein Rückblick auf das 27. Filmfest München

Von Pascal Averwerser

Es ist kaum einen Monat her, da flehte Daniel Sander auf Spiegel-Online in dem Artikel »Lust auf Lust – Macht uns an!« um mehr sexuelle Erotik auf der Kino­lein­wand. Er wurde erhört. Das dies­jäh­rige Münchner Filmfest zeigte auffal­lend oft, wenn schon nicht Erotik, so doch jede Menge Haut. Dabei wurden verschie­denste Facetten von Sexua­lität durch­ge­spielt und – wie sollte es anders sein – ihre Berüh­rungs­punkte mit der Liebe, der Einsam­keit und der Selbst­suche ausge­lotet.

Bisweilen ist Sex zu einfach zu haben, so in Stefano Tummo­linis Un altoro pianeta (One Day In A Life). Salvatore (gespielt von Antonio Merone) begegnet ein Jahr nach dem Tod seines Freundes einem jungen Mann, der ihn vom Äußeren her an jenen Verstor­benen erinnert. Doch ist er sich unschlüssig, was er von ihm halten soll, da der Fremde kaum genügend Ehrlich­keit und Ernst­haf­tig­keit für ein etwaiges Näher­kommen aufbringt. Auch macht eine Gruppe junger Frauen Salvatore Avancen, die ihn jedoch eher nerven, da er erstens homo­se­xuell und zweitens zurzeit depri­miert ist. Als Szenerie dient ein Strand, nahe dem FKK-Bereich, der aber nicht abge­grenzt ist, und Salvatore geht mit der Nähe des Nackten recht unge­zwungen um. Nach der monotonen Ober­fläch­lich­keit der Figuren der ersten Film­hälfte leitet Regisseur Tummolini den Zuschauer letztlich zu der bewegend insze­nierten Kehrt­wende und der Einsicht hin, wie wirkungs­mächtig seelische Nacktheit im Vergleich zu körper­li­cher Nacktheit ist.

Eine kaum noch mögliche Stei­ge­rung an ober­fläch­li­chem Narzissmus konnte der Zuschauer in dem perua­ni­schen Film Dioses des perua­ni­schen Regis­seurs Josué Méndez erfahren. Hier geht es um Angehö­rige der perua­ni­schen Ober­schicht, die mit ihrer privi­le­gierten Position in der Gesell­schaft nicht mehr anzu­fangen wissen, als sich auf Partys regel­mäßig hemmungslos zu besaufen und dabei wenig drum zu geben, mit wem sie schließ­lich im Bett landen. Wichtig ist einzig, dass es sich beim Partner um einen Stan­des­ge­nossen, um Ihres­glei­chen handelt. Dieses Verhalten kulmi­niert in eine Sequenz, in der der attrak­tive Diego seine stern­ha­gel­volle, fast bewusst­lose, beruflich modelnde Schwester Andrea halbwegs verge­wal­tigt. Als er, von sich selbst ange­wi­dert, bald von ihr ablässt und sich mit dem Rücken zu ihr auf das Bett sinken lässt, langt sie mit einer grob­me­cha­ni­schen Armbe­we­gung nach seinem Nacken­haar und meint in fürsorg­li­chem Ton, er solle schlafen gehen, was bei allem Schrecken sogar eine schräge Art von Komik durch­scheinen lässt. Méndez gelingen dabei eindring­liche Bilder wie die Schluss­ein­stel­lung: In einer langsamen Kame­ra­fahrt sieht man, wie Kinder der Ober­schicht in bunten und ausge­fal­lenen Spiel­zeug­fahr­zeugen von ihren jewei­ligen Nanas umhegt und umher­ge­schoben werden.
Im Anschluss an die Vorfüh­rung merkte dann der Regisseur Méndez an, dass Filme­ma­cher nicht sehr viel tun könnten. Entweder würden die Leute einem glauben oder sie glauben einem nicht.

»Das Leben ist so wie man es sich glaubt«, sagen dagegen die großs­täd­ti­schen Frauen in Gesine Danck­warts UmDeinLeben. Es folgen Einblicke in die Sehn­süchte und Probleme dieser Frauen. Die manchmal auffla­ckernde lebens­phi­lo­so­phi­sche Perlen entschä­digen insgesamt aber zu wenig für die Monotonie, die Kälte der Szenerie und die Bruchs­tück­haf­tig­keit des Films, dessen Haupt­aus­sage wohl darin besteht, dass man sich nicht jeden Mist im Kino oder im Fernsehen antun soll. Männer werden als an jeglicher, weiter­brin­gender Kommu­ni­ka­tion desin­ter­es­sierte Wesen abgetan, ein bisschen sehr einseitig die Einsam­keit der Frauen vorge­stellt. Kommu­ni­ka­tion ist das Stichwort schlechthin in diesem Film, den man sich nur deshalb im Kino anschauen sollte, um sich mit seinem Sitz­nach­barn gemeinsam vom Film zu distan­zieren und sich dabei näher zu kommen. Dann hätte der an sich nicht sehr weit führende Film doch noch was erreicht. Dennoch sei ein gelun­genes Bild nicht ausge­spart: Ziemlich zu Beginn des Films (und leicht variiert noch einmal später) zeigt Danckwart Menschen auf einer Straße, die höher liegt als die graue Stadt im Hinter­grund, die wiederum jedoch den Großteil des Lein­wand­bildes ausmacht. Die Menschen tragen die Stadt und scheinen irgendwie auch von ihr erdrückt zu werden. Man beachte im Übrigen auch, dass sich bei der Schreib­weise des Titels UmDeinLeben die Betonung von »Leben« auf »Um« verschiebt, wodurch bereits die Grund­aus­sage ange­deutet wird: Filme hätten mit unserem Leben recht wenig am Hut.

Ein Hoch­karäter hingegen ist Steve Jacobs treue Verfil­mung von Disgrace (Schande). Das Buch wurde vom südafri­ka­ni­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger J.M. Coetzee geschrieben. Es geht hier um die negative Seite männ­li­cher Sexua­lität, vor allem um die Verge­wal­ti­gungs­pro­ble­matik in Südafrika. Der Lite­ra­tur­pro­fessor David Lurie (gespielt von John Malkovich) hat verschie­dene außer­ehe­liche Verhält­nisse, von denen eines auffliegt, das er viel­leicht allzu offensiv ange­gangen ist: »Die Schönheit einer Frau gehört nicht nur ihr allein. Sie muss sie mit der Welt teilen«, sagt er, und wenn sie sie schon teile, »dann muss sie groß­zü­giger damit werden.« Um sich einen Spießru­ten­lauf und Häme von Studenten und Kollegen zu ersparen, gesteht er umfassend vor einer univer­si­tären Unter­su­chungs­kom­mis­sion und kehrt dem insti­tu­tio­nellen Leben den Rücken, um auf dem Land bei seiner Tochter Lucy (Jessica Haines) einen Neuanfang zu versuchen. Bei einem Überfall durch drei junge Farbige wird seine Tochter verge­wal­tigt und er fast bei leben­digem Leibe verbrannt. Dennoch will sie das Land unter keinen Umständen verlassen. David ist fassungslos und kann dieses Verhalten nicht nach­voll­ziehen. Ihm steht ein weiterer Schock noch bevor.

Ebenfalls hervor­ste­chend ist der Film von Sophie Laloy J E Te Mangerais – Emma & Marie. Hier muss sich die angehende Pianistin Marie zwischen den Versu­chungen der Sinn­lich­keit und ihrer Passion – dem Klavier­spiel – entscheiden, wobei wie schon in Un altoro pianeta Homo­se­xua­lität nicht ausge­spart wird. Die wohl spre­chendste Szene des Films ist, als Marie sich beim Klavier­spielen befrie­digt, bis Emma sie unter­bricht. Am gleichen Abend gehen sie noch aus, Marie wird auf einer Party von einem Perversen rück­sichtslos belästigt. So gehen die beiden jungen Frauen wieder nach Hause und Emma meint, der unge­ho­belte Kerl hätte Marie verge­wal­tigt, wenn sie sie nicht davor bewahrt hätte. Und sie fügt sinngemäß hinzu, Maries Anzie­hungs­kraft sei ja schön und gut, ihr Lächeln bezau­bernd, aber sie müsse mehr auf sich acht geben. Marie beginnt zu weinen. Emma umarmt sie und nähert sich ihr bis zum Kuss und ihrem ersten gemein­samen Sex. In der Folge kann man beob­achten, wie Emma mehr und mehr die Überhand über Marie gewinnt, und wie diese in ihren Leis­tungen nachlässt. Der Rest scheint halbwegs vorher­sehbar, doch über­windet Laloy die Erwar­tungen.

Eine gänzlich andere Annähe­rung an Künst­ler­pro­ble­matik und Erotik versucht John Maybury mit The Edge of Love, in dem er die Lebens­um­stände des Dichters Dylan Thomas (gespielt von Matthew Rhys) zur Zeit des Zweiten Welt­kriegs unter die Lupe nimmt. Dylans Zuneigung zu seiner Jugend­liebe Vera Philipps (Keira Knightley) ist immer noch frisch, auch sie empfindet noch etwas für ihn. Dennoch heiratet sie den erst sehr verliebten, aber auch selbst­be­wussten Offizier William Killick, der – im Film (wohl bemerkt!) – Dylan dich­te­risch das Wasser reichen kann, wenn Vera von sich über­zeugen will. Nur schreibt er eben die Verse nicht auf. Neben dieser Weisheit, dass viele der schönsten Verse nur deshalb nicht in die Literatur eingehen, weil sie nie aufge­schrieben wurden, verblasst aber der Rest des Films. Killick muss an die Front; alles erinnert von der Tonlage sehr stark an Pearl Harbor. Und selbst die Auswahl der Gedichte kann den schreck­lich verfäl­schenden Eindruck entstehen lassen, bei Dylan Thomas handele es sich um einen kitschigen Dichter. Ersatz­weise muss Keira Knightley ein bisschen Kleidung fallen lassen.

Sehr sympa­thisch ist hingegen Max Mayers Adam. Adam (Hugh Dancy), der unter dem Asperger-Syndrom leidet und sich nur mit großer Anstren­gung in Andere einfühlen kann, ist ein großer Ster­nen­lieb­haber und kennt uner­mess­lich viele Details zu Plane­ten­kon­stel­la­tionen, Stern­bil­dern und der Geschichte des Weltalls. Eines Tages trifft er auf die wunder­schöne Beth (Rose Byrne), die von ihm faszi­niert ist. Sie ist angetan von seinem Wissen und seinem Faible für Wasch­bären, die er nachts im Central Park in New York beob­achtet (ein authen­ti­sches Detail, das auf einem persön­li­chen Erlebnis des Regis­seurs beruht). Das Verhältnis zwischen beiden wird zunehmend intimer, bis es schließ­lich zu einer Meinungs­ver­schie­den­heit kommt. Ein Freund von Adam weist diesen jedoch darauf hin, dass es auf der Welt nur Lügner gebe. Aber man müsse diffe­ren­zieren. So stapft Adam schließ­lich durch ein Schnee­ge­stöber zu Beth, um sich mit ihr auszu­spre­chen. Dabei scheinen die Flocken eine neue Art von Sternen zu sein, nah und lebendig. Beths Vater jedoch hält nicht viel auf Adam und will Beth eine Lieb­schaft mit ihm verbieten. Sie jedoch möchte sich nicht bevor­munden lassen, wenn­gleich auch sie sich noch nicht schlüssig ist, was sie eigent­lich will.

Auf einer ganz anderen Ebene spielt Zoltan Pauls Komödie Unter Strom. Der Regisseur selbst meint zum Film: »Bei aller Komö­di­en­me­chanik war mir Ehrlich­keit das Wich­tigste. Hohler Pathos und billige Klamotte mit Lachern um jeden Preis sind mir ein rotes Tuch.« Diese Aussage muss ironisch gemeint sein und eine Falle für jeden Film­kri­tiker. Schon der Titel macht deutlich: »Hier handelt sich um eine Parodie, die weit unterhalb vom Main­stream verläuft.« Besonders die Sexver­ses­sen­heit des aktuellen Kinos wird auf die Schippe genommen: selbst nach mehr­ma­ligem Anschauen dürfte es keine Schande sein, das wild wuchernde Bezie­hungs­ge­flecht noch immer nicht ganz aufge­drö­selt zu haben. Die absurde Kidnap­ping­ak­tion, um die es im Film grund­sätz­lich geht, wird jeden­falls von allerlei Gags, häufig running-Gags, aber auch von jenen begleitet, die abge­dro­schen oder gezwungen wirken: So hält die notgeile Kommis­sarin Fressmann (man beachte die Wortkomik!) eine neue Infor­ma­tion für ihren schwulen Kollegen Kaminski (Ralph Herforth) parat: Der Entführer habe eine weitere Geisel genommen. »Und rate mal wen!« – »Weiß nicht, irgend nen armen Schlucker?« – »Den Wirt­schafts­mi­nister.« Immerhin beschränkt sich der Gag hier nicht auf den Seiten­hieb zur Staats­ver­schul­dung, sondern (wie man wenig später erfährt) es pflegt der Kommissar Kaminski eine homo­se­xu­elle Beziehung zum Minister, der aber schließ­lich, als Kidnapper Frankie (Hanno Koffler) ihn zwingt vor die Presse zu treten, zu seiner Neigung steht. Frankie kann es nicht fassen und meint halb zu sich: »Hast du den Arsch offen?« In der nächsten Einstel­lung ringt der Minister nach Worten: »Ja.« Daniel Trieb (Harald Kass­nitzer; man bemerke erneut die herrliche Wortkomik: Trieb) beschwert sich unentwegt über die Ehe mit Anna (Catrin Striebeck), aber gleich­zeitig will er ihre Scheidung nicht akzep­tieren. Eine der Geiseln hat übrigens eine Dauer­er­rek­tion, während der Innen­mi­nister als Mafiaboss insze­niert wird. Wer auf Brechstan­gen­komik steht: hier kann er wahrlich fündig werden.

In dieselbe Kategorie der Filme, die man sich unter Umständen ansehen kann, wenn gar nichts anderes zu tun ist, fällt wohl auch 199 recetas para ser feliz des chile­ni­schen Regis­seurs Andrés Waiss­bluth. Hier geht es um eine Drei­ecks­be­zie­hung zwischen Jordi, Helena und Sandra, die nach dem myste­riösen Tod ihres Freunds Tomás bei Jordi und Helena Unter­schlupf sucht und mit ihrer Forsch­heit sowohl beim Mann als auch bei der Frau sexuelles Interesse erregt.

Eastern Plays dagegen, Kamen Kalevs schon auf dem Film­fes­tival in Cannes gefei­erter Film, verbindet akute Proble­ma­tiken der bulga­ri­schen Haupt­stadt Sofia mit der Suche nach dem ganz persön­li­chen Messias verbunden werden und gelangt dabei zu echter Größe. Georgi (Ovanes Torosian) gerät in die Neona­zi­szene (Mittel­mann Fish ködert ihn mit weichen Drogen und politisch natürlich wenig korrekten Witzen: »Wieso tauchen keine Araber in Star Trek auf? Na? Weil es in der Zukunft spielt.«). Während­dessen sucht Georgis Bruder Itso (Christo Christov), der als Künstler tätig ist, nach Erlösung. Wovon? Viel­leicht von der Unver­stan­den­heit. Und tatsäch­lich scheint sein Leben die richtige Richtung zu bekommen, als er der hübschen Türkin Isil näher kommt, deren Vater von einer Gang, zu der auch Georgi gehört, verprü­gelt wurde. Itso bewahrte ihn vor Schlim­merem. Isil (gespielt von Saadet Aksoy) ist sich sicher, dass es Menschen gebe, die einem die Wahrheit enthüllen könnten: sie sei einem solchen bereits begegnet, und sie habe sich danach stun­den­lang ausge­weint, und ihr sei klar geworden, dass sie nur ein Roboter war. Nun aber habe sie gelernt, sich selbst zu program­mieren. Doch rascher als geplant reist sie mit ihrer Familie wieder zurück in die Türkei und Itsos Lethargie nimmt wieder ihren Lauf.