26. Filmfest München 2009
Aus erster Hand |
Was für ein Gott verlassener Ort muss der Landstrich Guatamala sein. Es gibt kaum Menschen auf der Straße, die Wohnblocks sind durch Wachposten und Mastbäume hermetisch abgeriegelt, der Himmel erstreckt sich endlos. Das Leben scheint hier stillzustehen oder spielt sich wenn in den Häusern ab – hinter dicken Mauern. Dieser Einöde wollen die Teenager Gerardo, Nano und Raymund für diese Nacht entfliehen. Schon macht sich einer daran, dem Nachbar Benzin zu stibitzen und es direkt
von dessen Auto in den Kanister abzufüllen. Anschließend geht es mit einem geliehenen Wagen auf Spritztour. Eine Tour mit fatalen Folgen.
In weiträumigen Bildern fängt Filmemacher Julio Hermández Cordón in GASOLINA die Tristesse ein, die seine eigene Jugend ausmachte. Nach dem Motto »Denn sie wissen nicht, was sie tun« ließ man sich treiben und stellte Unsinn an. So fühlte man sich in einer immer stärker in Armut abdriftende Gesellschaft weniger verloren. Folgerichtig sind Cordóns
Protagonisten in seinem Debütfilm Laiendarsteller, die aus seiner Nachbarschaft, einer Gated Community, kommen. »Es geht mir darum, die Gewalt, die in Guatamala allgegenwärtig ist, zu zeigen und die damit verbundene, einhergehende Straflosigkeit«, sagt Cordón im Anschluss an die Filmvorführung. Das gelingt ihm auch vom ersten bis zum letzten Bild. In einer entwaffenden Direktheit und Nonchalance, die sich ihren Sinn für Humor bewahrt hat (wunderbar ist etwa die Szene, wo ein
Streit unterm bzw. vor einem Auto ausgetragen wird).
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»Die Menschen sehen nicht, was sie nicht sehen wollen«, sagt die französische Regisseurin Juliette Garcias dem Publikum. Garcias hat an der Sorbonne Kunstgeschichte studiert, arbeitete jahrelang als Cutterin. Auf dem Münchner Filmfest präsentiert sie ihren Debütfilm. Man merkt ihr an, dass sie es gewohnt ist, diese Art von Diskussion zu führen. Wann hätte ich das Ungeheuerliche wo wahrnehmen sollen? Mancher aus dem Publikum verlangt nach Eindeutigkeiten. »Sie verschließen die
Augen«, fügt Garcias hinzu. Genau dieser Aspekt macht ihr Erstlingswerk Sois sage so interessant. Was sieht man und was sieht man nicht. Der Film erzählt eine dunkle Liebesgeschichte, er gibt klare Hinweise auf Ungeheuerliches (in Text, Szenen und Bildern) und spannt einen von Anfang an in die Tagträumereien, sprich Wahrnehmung, der Protagonistin Ève (Anais Demoustier) ein. Wenn
sie ihre Hand in einen Bottich voller Schnecken taucht, wenn sie junge Menschen beim Baden überrascht. Die Frau ist oben ohne, zwei Männer balgen sich im Wasser. Kunstvoll wird man immer tiefer in die Geschichte hinein gezogen, wie Ève obsessiv das Landhaus eines Ehepaares mit Baby observiert und die Nähe zu dem älteren Mann, einem Pianisten (Bruno Todeschini), sucht. Ihr ehemaliger Geliebter. Das Warum bleibt lange Zeit verborgen (das Ende wird hier nicht verraten, damit man selbst das
Seh-Experiment eingehen kann). Das Gefühl aber, das irgendetwas nicht stimmt, verdichtet sich, je näher man der Auflösung kommt. Unbehagen macht sich breit. Was man wann wo wie schließlich definitiv erfährt, ist letztlich egal. Es bedarf keiner solchen Eindeutigkeit, denn die Vorzeichen sind eindeutig und die Schlussszene ist es auch – wenn man hin schaut. Die Geschichte funktioniert.
Zu einem Bild – Eve steht in einem Kleid mitten im Wasser – fragt ein Zuschauer,
ob es ihren Selbstmord andeuten soll. Sie hoffe das für die Figur nicht, entgegnete die Regisseurin. Dabei wirkt sie leicht erschrocken. Meiner Meinung nach könnte man das Bild auch so sehen, dass das klare Wasser alles rein wäscht (wie in einer Szene zuvor) und Ève in einer Pose von »Ich bin da. Es gibt mich« dasteht. Aber die »Wahrheit« liegt wohl in den Augen des Betrachters.
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Ein Baby hängt in einem weißen Tuch. Es zappelt und schreit. Im oberen Frame ist noch der schlicht zusammen gebundene Knoten des Tuches zu sehen. So müsste es aussehen, wenn ein Storch ein Neugeborenes zu seinen Eltern bringt. In The Blessing sind Katrine (Laerke Winther Andersen) und Andreas (Mads Riisom) gerade Eltern geworden. Nach der Geburt stürzen die Ereignisse unablässlich auf die junge Mutter ein: Zuhause warten die Gäste, die bewirtet werden und alles
über die Geburt wissen wollen; Lise, Katrines Mutter, weist sie, als sie sie um Unterstützung bittet, mit dem Satz »nicht in diesem kindlichen Ton« zurecht; und Andreas muss für die nächsten Tagen beruflich verreisen. Katrine bleibt schließlich mit ihrer kleinen Tochter allein zuhause. Als die Hebamme feststellt, dass das Stillen nicht so klappen will und das Neugeborene an Gewicht verliert, spitzt sich die Lage weiter zu.
Es ist ein ungewöhnliches Thema, dessen sich die dänische
Regisseurin Heidi Maria Faisst annimmt, dem Baby Blues. Dem Dogmastil verpflichtet (kühle Bilder, Handkamera und ein ausgepfeiltes Drehbuch) findet sie geeignete Mittel zu zeigen, welchem Turbostress die junge Mutter ausgesetzt ist und wie sie sehr sich in die Enge getrieben fühlt. So sehr, dass ihr Mann sie nicht mehr erreicht, dass sie ihr Kind auf kaltem Boden ablegt und dort liegen lässt. Stellenweise bedient sich die Regisseurin einer knüppeldicken Dramaturgie, derer es nicht
bedurft hätte; denn auch in geringerer Dosis hätte man sehr gut verstanden, worum es geht. So jedoch steckt man, ebenso wie die junge Mutter, mitten drin in dieser emotinalen Achterbahn. Und erschrickt. Wie weit wird Katrine gehen? Was macht dieses Gefühl, das eigene Kind nicht annehmen zu können, aus ihr? Hier wird es gesellschaftlich interessant, das Tabu postnatale Depression und Kindstod klingt an. Unaufhaltsam nimmt die Geschichte ihren Lauf – und überzeugt. Respekt.
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Haarsträhnen, vom Winde verweht, schimmern im Lichtschein. Schablonen für einen Sehtest tauchen auf und die Konturen verschwimmen leicht. Gesprächsfetzen von einem Arztbesuch werden aufgegriffen. Zwischen all diesen Eindrücken geistert immer wieder Mutter (Catalina Saavedra), mit einer schwarzen Hornbrille auf der Nase. Wie sie duscht, wie sie Raquel (Eva Luna Isense) die Haare bürstet, wie sie im Bett frühstückt. Dabei verschüttet sie Milch auf das Tablett, ohne es zu merken.
Vorsichtig nimmt Raquel einen Brotkrumen, der die Milch schließlich aufsaugt.
Es ist eine ganz eigene Welt, die man in Mami te amo betritt. Raquels Welt. Manchmal ist alles seltsam stumm, dann wieder dröhend laut. Regungslos steht das Mädchen da, wenn sich ihre erblindende Mutter tasend durch die Wohnung bewegt. Grimmig leiert diese die Einkaufsliste herunter. Die Mutter wird Raquel fremd. Die einzige Möglichkeit zu verstehen, warum sie sich so zombielike
verhält, scheint dem heranwachsenden Mädchen zu sein, ebenfalls zu erblinden. Heimlich mixt sich Raquel im Badezimmer Augentropfen aus Haarspray und Chemikalien und träufelt sie sich ein (wobei die Szene offen lässt, ob Raquel dieses tatsächlich tut oder nur so spielt, als ob).
Mit 25 Jahren liefert die chilenische Regisseurin Elisa Eliash ein gewagtes Debüt ab. An der Escuela de Cine de Chile leitet die Filmemacherin bereits Drehbuchseminare und assistiert bei Kursen des
Autors Benjamin Galemiri. Diese literarische Nähe ist Mami te amo anzumerken. Wie sonst könnte man auf solch eine ebenso erschreckende wie berührende Geschichte kommen und solche Szenen schreiben. Unkommentiert spiegeln diese die Fantasie, die absurden Einfälle und das kindlich ernste Spiel eines Mädchens wider, das gerade die Welt entdeckt und in seinen Koordinaten begreift. Mit all seinen Sehnsüchten und Ängsten. Konsequent bannt Elisa diese innere Welt auf
HD-to-DigiBeta; heraus kam dabei ein eigenwilliges Werk: Ungestüm, respektlos, experimentell. Das macht neugierig, wie wohl ihr zweiter Film aussehen wird.
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Der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Debüts, die sehr unterschiedliche, aber klar erkennbare Handschriften tragen, ist: Verleih offen. Mit ein bißchen Glück ist der eine oder andere Film wieder auf einem Festival zu sehen, mit wesentlich viel mehr Glück kommt er gar in ein Programmkino. Die Namen dieser Jung-Regisseure, die sich bei ihrem Erstlingswerk visuell wie auch dramaturgisch ausprobieren und dabei wunderbare Wagnisse eingehen, sollte man sich jedenfalls merken. Denn ihr nächster Film verheißt, wieder einen kleines Meisterwerk zu werden.