07.01.2010
Cinema Moralia – Folge 24

Als die Kinos noch Film­pa­last hießen…

Walter Jonigkeit
Walter Jonigkeit

...und Kino noch Kultur war: Astoria, Viktoria und der Tod eines Pioniers

Von Rüdiger Suchsland

»Popcorn, nie!« – das war sein Motto. Jetzt ist ein Pionier des deutschen Kinos zu betrauern – und ein überaus unge­wöhn­li­ches, volles Leben zu feiern: Am 25. Dezember 2009 verstarb Walter Jonigkeit – im bibli­schen Alter von 102 Jahren. Jonigkeit war eine Berliner Kino-Insti­tu­tion nicht nur als Chef des Delphi-Film­pa­lasts, den die Berlinale-Besucher jeder Gene­ra­tion als das wohl schönste Berlinale-Kino und neben dem Zoo-Palast das letzte noch verblie­bene der alten West­ber­liner Kinos kennen.

+ + +

Walter Jonigkeit, der fast so alt wurde wie das Kino selbst, war ein Pionier, den zahllose Anekdoten mit der Geschichte des Berliner und des deutschen Kinos verbinden. Jonig­keits Verbin­dung zum Kino begann mit 18-Jahren: 1925 hatte er bei der Berliner Film­pro­duk­ti­ons­firma Trianon eine kauf­män­ni­sche Lehre begonnen, sein Vater kannte den Proku­risten.

1932 gründete er sein erstes eigenes Haus, das Kino Kamera unter den Linden, gegenüber dem heutigen Café Einstein und eines der ersten Reper­toire­film­theater, also ein Programm­kino avant la lettre in Deutsch­land. Berlins erstes Off-Kino! Hier wurden die Filme in eigenen Programm­heften angekün­digt, hier ging man auf die Wünsche der Zuschauer ein, zeigte Verges­senes, zu früh Gestri­chenes und wieder­holte auch alte Filme. In dem über dem Kino gelegenen liegenden Klub der Kame­rafreunde (wo heute in etwa der Club Cookies liegt) brachte er Stars wie Emil Jannings, Marianne Hoppe, Heinz Rühmann und Heinrich George mit ihrem Publikum in Film­ge­sprächen zusammen. Als Reklame dafür legte er angeblich abge­ris­sene Kino­karten in der S-Bahn auf die Sitze. »Die Kamera – Das Haus des guten Films« stand darauf, und es hat gewirkt.

+ + +

Ebenfalls noch vor dem Zweiten Weltkrieg übernahm Jonigkeit sein zweites Kino. Es lag im west­li­chen Char­lot­ten­burg, und heißt heute noch wie damals Die Kurbel. Es war das erste reine Tonfilm-Kino Berlins, gegründet 1935 – von einem jüdischen Betreiber, von dessen zwangs­weiser Enteig­nung Jonigkeit hier fraglos profi­tierte. Ande­rer­seits zeigte Jonigkeit in beiden Häusern auch die bereits als »undeutsch« verfehmten, aber nicht verbo­tenen fran­zö­si­schen und ameri­ka­ni­schen Filme, für eine Reichs­mark pro Karte. Im Krieg verschwand die westliche Ware ganz. Und das deutsche Kino bot allen­falls gehoben seichte Unter­hal­tung, ansonsten schwankte es zwischen NS-Propa­ganda und Kitsch.

Bei einem Luft­an­griff wurde die Kamera dann mitsamt ihrer schönen Wurlit­zer­orgel zerstört. Die Kurbel stellte erst kurz vor Kriegs­ende 1944 den Betrieb ein, diente dann als Muni­ti­ons­lager. 1946 wurde es wieder­eröffnet, als zweites Berliner Kino überhaupt. Der Legende nach hat Jonigkeit die hinter­las­sene Munition und die Zünd­steine für Panzer­fäuste seiner­zeit auf dem Schwarz­markt verkauft, und damit die Wieder­auf­nahme finan­ziert. Zur Premiere zeigte man im Mai 1946 den sowje­ti­schen Film Um sechs Uhr Abends nach dem Krieg. Nach einem halben Jahr liefen dann nur noch englische Filme in der Kurbel – Char­lot­ten­burg gehörte zum briti­schen Sektor.

Zwei Jahre und vier Monate lief in der Kurbel in den fünfziger Jahren Vom Winde verweht – der größte Erfolg in diesem Kino. Die Menschen standen bis zu fünf­hun­dert Meter auf der Straße an, um den Film zu sehen – bis die Konkur­renten rebel­lierten.

+ + +

Bereits 1946 baute Jonigkeit innerhalb von zwei Jahren seinen eigent­li­chen Film­pa­last auf – das Delphi: Vier stehen geblie­bene Wände des Tanz­pa­lastes neben dem Theater des Westens. Ein erstes Premieren-Licht­spiel­haus in der Trüm­mer­stadt. Der damalige Bürger­meister Ernst Reuter hatte sein Büro in der Nähe der Baustelle und fragte eines Tages: »Na, Junge, watt brauchste denn?« Antwort: »Alles!« Reuter half mit Zement und Steinen, und Jonigkeit konnte den alten Tanz-Palast in verein­fachter Form wieder­her­stellen lassen. 1949, nach zwei­jäh­riger Bauzeit, war es soweit: Zur Premiere zeigte man Lord Nelsons letzte Liebe mit Laurence Olivier und Vivien Leigh in den Haupt­rollen. Die Vertreter der briti­schen Besat­zungs­macht waren anwesend. Das Delphi war zu dieser Zeit einmalig in Berlin, ein Theater, in dem die Wände noch mit Samt­stoffen einge­schlagen sind. Es hatte 1000 Sitz­plätze, die größte Leinwand und die modernste tech­ni­sche Ausrüs­tung und mit seinen über tausend Plätzen galt es deutsch­land­weit als unüber­troffen. Zum 10-jährigen Jubiläum bekam das Delphi als erstes Kino Berlins 70-mm-Projek­toren, so konnten die großen, klas­si­schen 70-mm-Filme gezeigt werden.

Einer der erfolg­reichsten Filme im Delphi war The Bridge on the River Kwai mit Alec Guiness. Angeblich, auch so eine Anekdote, hatte Jonigkeit die Tanz­lo­kale bestochen, damit sie regel­mäßig den River-Kwai-Marsch spielten, um Reklame für den Film zu machen. Das war 1958, der Film lief 48 Wochen lang und ausschließ­lich im Delphi. Das waren noch Kino­zeiten!

+ + +

Früher, sagte Jonigkeit einmal, sei es leichter gewesen, ein Großkino voll­zu­be­kommen. Der Berliner verhan­delte direkt mit US-Verlei­hern, die zum Probe­sitzen anreisten und ihn sogar nach Hollywood einluden – damit er Filme wie Der längste Tag und My Fair Lady zeigte. Zur Premiere des Monu­men­tal­film Cleopatra mietete Jonigkeit Anfang der Sechziger Studenten und steckte sie in Leder­wämse. »Die standen abends mit bren­nenden Fackeln vorm Delphi Spalier.« Ein Baum fing Feuer, und die Feuerwehr musste anrücken. Eine tolle Reklame sei das gewesen.

Halb Hollywood kam in diesen Jahren in die Kant­straße: James Stewart, Gary Cooper, William Holden, Danny Kaye und Ava Gardner. Etwas später gab es auch eine Weile lang die Sexfilm­chen jener Jahre. Bis heute aber kommen die Leute ins nur 1988 moderat umgebaute Delphi, weil sie hier nicht wie im Multiplex mit Popcorn­filmen abge­speist werden, sondern in einer unter­ge­gan­genen Kino­hoch­kultur schwelgen können.

In den fünfziger Jahren übernahm Jonigkeit zeit­weilig noch weitere Kinos: die Astoria-Licht­spiele in Reini­cken­dorf (einge­stellt 1965), die Viktoria-Licht­spiele in Schö­ne­berg (einge­stellt 1967), in der Hasen­heide die Neue Welt (einge­stellt 1959), wo Sonn­tag­vor­mit­tags Boxkämpfe statt­fanden und abends Filme gezeigt wurden. Zwischen 1956 und 1959 führte er auch das Frei­licht­kino in der Waldbühne. Außerdem eröffnete er in München das Premieren-Kino City in der Sonnen­straße und in Hamburg das Savoy-Film­theater, das Anfang der 60er Jahre bei den Film­ver­lei­hern als schönstes Kino der Republik bekannt und beliebt war.

In den siebziger Jahren begann mit dem Kinosterben auch das Ende von Jonig­keits beruf­li­cher Laufbahn. Seitdem lebte er im Ruhestand, mit seiner 35 Jahre jüngeren Frau. Seine Kinos hatte er verkauft – bis auf das Delphi, das er bis zu seinem Tod gemeinsam mit Claus Boje und Detlev Buck führte. Angeblich kam er noch selbst im sech­zigsten Jubiläums­jahr des Kinos und mit über 100 noch immer täglich von halb neun bis vier ins Büro über dem Delphi-Kinosaal. Für seine beson­deren Verdienste um die Film­wirt­schaft wurde Walter Jonigkeit am 2. Februar 1988 das Verdienst­kreuz am Bande verliehen. Die Trau­er­feier für Jonigkeit findet am Freitag, den 22. Januar 2010 um 13.00 Uhr auf dem Städ­ti­schen Friedhof Ruhleben in Berlin statt.

Wir werden an ihn denken: »Popcorn, nie!«

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.