10.02.2011
61. Berlinale 2011

Träume aus Freiheit und Terror

Fanny und Alexander:
Fanny und Alexander: Am klarsten sieht das Kind
(Foto: Universum)

Ingmar Bergman und die Suche nach der verlorenen Zeit – von Wilde Erdbeeren zu Fanny und Alexander. Erinnerungen zu Beginn der Ingmar-Bergman-Retrospektive auf der Berlinale

Von Rüdiger Suchsland

»Wie bin ich geworden, was ich bin?« fragt der alte Isak Berg, die Haupt­figur in Bergmans Wilde Erdbeeren (Smul­tron­stället) von 1957 sich selbst einmal. Von Friedrich Nietzsche stammt die mora­li­sche Auffor­de­rung »Du sollst der werden, der Du bist«, und es ist sozusagen diese zur Frage gekehrte Forderung des Philo­so­phen, die zum Leitmotiv dieses Films wird, einem in vieler Hinsicht zentralen Werk in Bergmans Oevre. Wilde Erdbeeren, 1958 bei der Berlinale mit dem »Goldenen Bären« ausge­zeichnet, beschreibt einen Tag im Leben Isaks, eine Reise von seinem Wohnort Stockholm ins südliche Lund, wo der bekannte Professor zu seinem 50-Promo­ti­ons­ju­biläum ein Ehren­dok­torat erhält. Diese Reise wird zur Passage in die Vergan­gen­heit, begleitet von vielen mitunter schmerz­haften Erin­ne­rungen und – nicht immer ange­nehmen – Träumen, unter­bro­chen von kleinen Ereig­nissen und neuen Begeg­nungen, und mündet in eine Art Lebens­bi­lanz des alten Mannes, der sich mit dem nahenden Tod konfron­tiert sieht, in Versöh­nung mit dem eigenen Sohn und eine Form von Erlösung, die hier aller­dings auch identisch wird mit der Aufgabe des Kampfes gegen den Tod, dem Einver­s­tändnis mit dem Sterben.

Diese Passage ist auf verschie­dene Art zu verstehen: Zum einen liegt es nahe, die Haupt­figur direkt mit dem Regisseur gleich­zu­setzen. Neben offen­kun­digen Namens­par­al­lelen (Berg = Bergman, den Initialen IB) ist auch die sympa­thi­sie­rende Iden­ti­fi­ka­tion des Films/des Regis­seurs mit Haltung und Perspek­tiven seiner Haupt­figur deutlich. In seinen Erin­ne­rungen bemerkt Bergman, er habe sich als Kind mit dem alttes­ta­men­ta­ri­schen Isaak iden­ti­fi­ziert. Zugleich ist die Reise Isaks nur ober­fläch­lich realis­tisch gemeint. Formal in der Struktur eines Roadmovie gehalten, wird sie immer wieder unter­bro­chen durch das Hervor­treten des hier aus Erin­ne­rung, Phantasie und Traum zusam­men­ge­setzten Imaginären. Schon zu Beginn des Films steht eine über­deut­lich symbo­lisch ausge­stal­tete Traum­se­quenz, in der Isak in einer menschen­leeren und zeitlosen – die Uhren haben keinen Zeiger – Stadt­land­schaft seinem eigenen Leichenzug und sich selbst als Totem begegnet. Im Folgenden verschmelzen dann Phantasie und Wirk­lich­keit wie so oft in den Filmen Bergmans, bis beide Ebenen stel­len­weise unun­ter­scheidbar sind. So wird ein junges Mädchen, das Isak anhält und dann gemeinsam mit zwei Freunden im Auto mitnimmt, von der gleichen Schau­spie­lerin (Bibi Andersson) gespielt, wie seine in Erin­ne­rungen auftau­chende Jugend­liebe, die er verfehlte, und die einen anderen heiratete. Beide tragen auch denselben Namen Sara. Die Erzähl­gang von Wilde Erdbeeren erinnert an die Gedan­ken­be­we­gung der Psycho­ana­lyse: Es geht um das Umkreisen der Erin­ne­rung und ein behut­sames Eindringen in deren schmerz­haft besetzte Bereiche, um die Deutung der Träume, die als Signale des Unbe­wussten verstanden werden, und die Wieder­kehr des Verdrängten durch sein aktives Freilegen. Dies geschieht im Falle Isaks durch die Begegnung mit Räumen die durch bestimmte Erin­ne­rungen geprägt und besetzt sind. Isak reist in diesem Film gedank­lich in die Zeit seiner Jugend zurück, in die Jahre um seine Promotion, in denen sich sein beruf­li­ches und – im Verfehlen der Liebe seines Lebens – sein persön­li­ches Schicksal entschied.

Auch wenn Isak an einer Stelle des Films darauf hinweist, dass er an Abenden, in denen er traurig oder sorgen­voll sei, die Gewohn­heit habe, sich Kindheits-Erin­ne­rungen ins Gedächtnis zu rufen, um sich zu beruhigen, so hat die Vergan­gen­heit hier im Prinzip keinen trös­tenden, sondern eher einen beun­ru­hi­genden Charakter: Sie stört die Gegenwart, ruft verdrängte Schuld ins Gedächtnis und fordert zu Sühne und Wieder­gut­ma­chung auf. Und sie enthält Traumata, die schwer heilbar sind, die ihr Träger allen­falls aushalten kann. Erst am Ende des Films schläft Isak am Abend ein, noch einmal träumt er, diesmal friedlich, und reist auf diesem Weg in die verlorene Zeit des Sommers seiner Jugend. Sein Lebens­zy­klus hat sich geschlossen.

Vertrei­bung aus dem Paradies

Es gibt einen zweiten Film im Werk Bergmans, den mit Wilde Erdbeeren vieles verbindet. Es ist nicht zufällig sein program­ma­tisch als »letzter« Kinofilm bezeich­neter Fanny und Alexander (Fanny och Alexander) von 1982. »Program­ma­tisch« deshalb, weil Bergman bekannt­lich danach sehr wohl weiter auch mit der Kamera gear­beitet und eine Handvoll Filme gedreht hat, wenn auch »nur fürs Fernsehen«. Freilich kam zumindest Sarabande (2003) noch zu seinen Lebzeiten auch auf Kino­lein­wände, und ande­rer­seits war schon Fanny und Alexander ursprüng­lich als Miniserie für das schwe­di­sche Fernsehen produ­ziert worden. Daher hat Bergman selbst auch die Lang­fas­sung des Films, in vier Teilen zu je 78 Minuten ein wahres Mammut­werk, als die eigent­liche, künst­le­risch verbind­liche bezeichnet. Der »letzte Film« ist Fanny und Alexander mehr in einem grund­sätz­li­chen Sinn: Hier schließt sich ein Zyklus, noch nie war Bergman, der Regisseur der Seelen­dramen der Erwach­se­nen­welt derart tief in die Urgründe der Kindheit einge­drungen, in früheste Erin­ne­rungen, noch nie hatte er sich so ausgiebig auf die Phantasie der Kinder einge­lassen. Auch hier sind die Grenzen zwischen Phantasie und der Welt der Tatsachen nicht klar gesteckt, auch hier sind die Übergänge fließend. Während das Phan­tas­ti­sche in Wilde Erdbeeren aller­dings mehr den Charakter des Surrealen besitzt, des kurz­fris­tigen Einbruchs des Unbe­wussten, Traum­haften oder Spiri­tu­ellen in eine grund­sätz­lich realis­tisch gezeich­nete Welt, so kann man bei Fanny und Alexander von magischem Realismus sprechen: Selbst banale Gegen­s­tände wie ein Stuhl tragen Geheim­nisse in sich, und können plötzlich belebt werden; die ganze Welt ist grund­sätz­lich aufge­laden mit Märchen- und Geis­ter­haftem, mit Zeichen und Signalen aus einer Welt jenseits der »objek­tiven« Tatsachen. Diese ist auch hier aller­dings keines­wegs nur friedlich und versöhn­lich, im Gegenteil – das Märchen kennt immer auch das Grauen. Und so muss man Fanny und Alexander stre­cken­weise einen Horror­film nennen: Schon in der Auftakt­se­quenz begegnet der zwölf­jäh­rige Alexander während er in Erwartung des Heilig­abends allein in der Wohnung der Groß­mutter herum­stö­bert, dem Tod. Immer wieder begegnet er später dem Geist des kürzlich verstor­benen Vaters – und ist in diesem Sinn natürlich auch ein Verwandter Hamlets, des Kron­prinzen, der mit dem Geist seines Vaters kommu­ni­ziert, der den verhassten neuen Mann der schnell wieder verhei­ra­teten Mutter tot sehen möchte, und darüber fast wahn­sinnig wird. In einer der letzten Szenen des Films taucht aus dem Nichts dann der grausam gestor­bene verhasste Stief­vater auf, und sagt diesem, während Alexander seinen harten Griff spürt, voller Eises­kälte: »Mich wirst Du nie los.«

Auch sind in diesem Film die Verbin­dungen zu Bergmans eigener Biogra­phie und seiner Selbst­dar­stel­lung in seinen auto­bio­gra­phi­schen Schriften zahlreich. Vor allem das Portrait des Stief­va­ters, des ebenso bigotten, wie sadis­ti­schen, inhumanen Heuchlers Edvard Vergerus, des lokalen luthe­ri­schen Bischofs ist insbe­son­dere in seinen aske­ti­schen Idealen und auto­ri­tären Erzie­hungs­me­thoden Bergmans Vater Erik, einem protes­tan­ti­schen Pastor nach­emp­funden. Das gilt auch für die Groß­mutter Helena, und ihr zwar formal strenges, aber immer wohl­wol­lendes, freund­li­ches Matri­ar­chat über den Rest der Familie, das für Fanny und Alexander zur Zuflucht und zum Ort des Friedens wird. Und Alexander, seine Neugier, seine Sensi­bi­lität, sein Interesse für Kunst, insbe­son­dere Theater und die Laterna Magica, mit der er zum Geschich­ten­er­zähler für die anderen Kinder wird, folgt in vielen Zügen Bergmans Selbst­por­traits. Der Film­wis­sen­schaftler Thomas Koebner urteilt über­zeu­gend, dass die Lektüre von Bergmans Leben­s­er­in­ne­rungen erhelle, »wie viele Episoden und Eindrücke der eigenen Jugend­zeit in den Film über­tragen worden sind, so dass Alexander zu Recht als ein zweiter Ingmar ange­spro­chen werden könnte.« Trotzdem kann die Haupt­figur nicht ohne Weiteres mit dem Regisseur iden­ti­fi­ziert werden. Denn die Handlung des Films ereignet sich etwa zehn Jahre vor Bergmans Geburt, zwischen Weih­nachten 1907 und 1910. Dies ist exakt die gleiche Zeit, in der die entschei­denden Weichen­stel­lungen im Leben des alten Isak aus Wilde Erdbeeren fallen – der in der Gegenwart des Jahres 1957 ange­sie­delt ist. Isak hat sein 50. Dokto­rats­ju­biläum, die Promotion fiel also ins Jahr 1907, und kurz darauf weist ihn die begehrte Sara endgültig zurück. Es ist auch genau jene Epoche, in der sich Bergmans eigene Eltern kennen­lernten, wie er es in seinem, von Bille August 1992 erfolg­reich verfilmten Drehbuch Die besten Absichten beschrieben hat.

Gelas­sen­heit und Pessi­mismus

Fanny und Alexander ist, erzählt in der gelas­senen Ruhe eines jener epischen Romane des 19.Jahr­hun­derts, auch ein Portrait jener bürger­li­chen »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) vor dem Ersten Weltkrieg, die Bergman nur als gerade erst vergan­gene in ihren Ausläu­fern, ihrem in seiner Kindheit noch vernehm­baren Echo in den Erin­ne­rungen der Älteren kennen­lernte. Bergman zeichnet sie mit viel Wohl­wollen, aber ohne deren Schat­ten­seiten zu verleugnen oder irgendwie schön­zu­färben. Es sind zwar Innen­an­sichten des Groß­bür­ger­tums, in dem das Prole­ta­riat so gut wie gar nicht vorkommt, und die Dienst­boten nur als Dabei­ste­hende, die schon fast zur Familie gehören, und das Geschehen sarkas­tisch kommen­tieren, oder den Herren verschie­densten Alters als Objekte sexuellen Begehrens zur Verfügung stehen.

Doch die Familie ist hier nie nur Trost, sondern immer auch Terror­zu­sam­men­hang, durch­setzt wenn nicht mit dem offenen Sadismus und der Gewalt des Bischof­haus­halts, der wie ein schwarzer Spiegel der Verhält­nisse der reichen Groß­fa­milie Ekdahl wirkt, dann mit zahl­rei­chen Lügen und Geheim­nissen, Affären und Betrug, mit Inkon­se­quenz, mit kleineren und größeren Sünden, die das Glück, auch das der Ehen dabei keines­wegs trüben müssen – ein großes Einver­s­tändnis mit dem Leben in all seinen Facetten und seiner Kraft, auch schlim­mere Wunden zu heilen, durch­zieht diesen Film. Und ein wenig scheint hier, trotz allem, das Vertrauen in jene »bürger­li­chen Werte«, die der jüngere Bergman funda­mental erschüt­tert und infrage gestellt hatte, wieder erneuert – gerade indem der Film, die Heuchelei, die ihr untrenn­barer Bestand­teil sind, gelassen akzep­tiert. Bergman rekon­stru­iert also nicht einfach eine Welt, sondern sein und unser Verhältnis zu ihr. Dazu gehört dann auch, dass viele Figuren hier das Vergehen dieser Welt bereits reflek­tieren, während sie noch Bestand hat: »Alles wird schlimmer: Leute, Maschinen, Kriege, und sogar das Wetter« sagt der misan­thro­pi­sche Isak, der Haus­freund Helenas, und sie selbst ergänzt: »Das herrliche, fröhliche Leben ist vorbei, das schreck­liche hüllt uns ein.« Oder Gustav Adolf Ekdahl gegen Ende: »Das Böse hat sich von der Kette gerissen, und rennt durch die Welt wie ein toll­wü­tiger Hund.«

So steht hier parallel zu Fannys und Alex­an­ders Vertrei­bung aus dem Paradies ihrer Kindheit auch das Wissen der Zuschauer darum, dass diese Welt, die Welt des langen 19. Jahr­hun­derts totge­weiht ist. Um so deut­li­cher ist, dass im Rückblick der Zuschauer, den Charakter einer rück­wärts­ge­wandten Utopie besitzt. Sie erscheint offen verklärt, letzt­end­lich heiter und versöhn­lich, para­die­sisch eben, also so, wie den meisten Erwach­senen im Rückblick die eigene Kindheit erscheint – auch Bergman, wenn man jene Passagen seiner Erin­ne­rungen liest, in denen er von seiner Groß­mutter erzählt, von der Entde­ckung des Kinos, seinen persön­li­chen Bildungs­roman.

Nur nebenbei soll erwähnt sein, dass Fanny und Alexander auch in der Hinsicht eine Summe von Bergmans Lebens­werk zieht, als das der Regisseur hier fort­wäh­rend Motive aus eigenen Werken zitiert: Den Tod, den Ehekrieg, Angst und Welt­flucht, das mora­li­sche Desaster der Gesell­schaft und den fehlenden spiri­tu­ellen Trost, die tran­zen­den­tale Obdach­lo­sig­keit.

»Alles ist möglich«

Diese Motiv­kette verbindet beide Filme. Bergman unter­s­tützt seine Erzäh­lungen durch die Belebung der Natur: Hitze und jugend­liche Aufbruchs­stim­mung des Sommers kontras­tieren mit der Melan­cholie Isaks genauso wie der eisige Weih­nachts­winter mit der Fami­li­en­feier der Ekdahls. Bäume im Wind, das Spiel des Wassers wie der Wolken. In beiden Filmen unter­nimmt Bergman in ganz unter­schied­liche Weise auch den Versuch, der Vergan­gen­heit ihren Schrecken auszu­treiben – indem er benannt wird, indem ihm das Kino und die Figuren auf der Leinwand direkt ins Auge sehen. Eine Art Exor­zismus. Falls der Filme­ma­cher Bergman eine mora­li­sche Utopie hat, dann tritt sie hier zutage: Sie liegt im Ausspre­chen der Wahrheit. In der Wendung gegen Lüge, Heuchelei und Verschweigen. In dem Augen­blick, in dem eine Wahrheit ausge­spro­chen wird, werden viele Wunden geheilt. Isak wird dazu fähig, noch mehr aber hat Alexander die Eigen­schaft der Wahrheit auch dort ins Auge zu sehen, wo es schwer­fällt, und auch dort zur Wahrheit zu stehen, wo er dafür bestraft wird – der Zwölf­jäh­rige ist in all seinen träu­me­ri­schen und passiven Zügen ein Held des Wider­stands, ein großer Revol­tie­render in der Tradition der für Bergman so entschei­denden Philo­so­phie des Exis­ten­tia­lismus. Die Strafe für den, der der notwen­digen Konfron­ta­tion ausweicht, wurde schon in Wilde Erdbeeren verkündet: »Einsam­keit.«

Zwei unter­schied­liche Wege, das Verges­sene wieder­zu­finden, und die verlorene Zeit zu rekon­stru­ieren. In Wilde Erdbeeren beob­achten wir eine Figur bei diesem Prozess, der immer wieder durch alte Fotos, oder Objekte, oder Räume ausgelöst wird, in Fanny und Alexander fungiert der Film selbst als ein solches Memento. Beide Male entfaltet das Kino ein Feld aus Metaphern und Sehn­süchten. In ihm ist das Phan­tas­ti­sche glei­cher­maßen Fluchtort wie Bedrohung. Es nimmt aber nie den Figuren den Zwang zur Entschei­dung, ihre Freiheit ab. Man ist geworden, was man ist, weil man sich entschied, es zu sein.

Am klarsten sieht das in Fanny und Alexander das Kind, mit dessen Augen man, immer wieder staunend, immer wieder verwun­dert, auf die Welt blickt. Die letzten Zeilen des Films, der schon mit dem unmiss­ver­s­tänd­li­chen program­ma­ti­schen Satz eröffnet wurde: »Nicht fürs Vergnügen allein«, stammen aus Strind­bergs »Traum­spiel«, verkünden aber auch Bergmans Moral und ästhe­ti­sches Vermächtnis: »Alles kann passieren, alles ist möglich und wahr­schein­lich. Raum und Zeit exis­tieren nicht. Gegen die unbe­deu­tende Realität erstreckt sich die Phantasie und webt neue Muster.«