61. Berlinale 2011
Träume aus Freiheit und Terror |
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Fanny und Alexander: Am klarsten sieht das Kind | ||
(Foto: Universum) |
»Wie bin ich geworden, was ich bin?« fragt der alte Isak Berg, die Hauptfigur in Bergmans Wilde Erdbeeren (Smultronstället) von 1957 sich selbst einmal. Von Friedrich Nietzsche stammt die moralische Aufforderung »Du sollst der werden, der Du bist«, und es ist sozusagen diese zur Frage gekehrte Forderung des Philosophen, die zum Leitmotiv dieses Films wird, einem in vieler Hinsicht zentralen Werk in Bergmans Oevre. Wilde Erdbeeren, 1958 bei der Berlinale mit dem »Goldenen Bären« ausgezeichnet, beschreibt einen Tag im Leben Isaks, eine Reise von seinem Wohnort Stockholm ins südliche Lund, wo der bekannte Professor zu seinem 50-Promotionsjubiläum ein Ehrendoktorat erhält. Diese Reise wird zur Passage in die Vergangenheit, begleitet von vielen mitunter schmerzhaften Erinnerungen und – nicht immer angenehmen – Träumen, unterbrochen von kleinen Ereignissen und neuen Begegnungen, und mündet in eine Art Lebensbilanz des alten Mannes, der sich mit dem nahenden Tod konfrontiert sieht, in Versöhnung mit dem eigenen Sohn und eine Form von Erlösung, die hier allerdings auch identisch wird mit der Aufgabe des Kampfes gegen den Tod, dem Einverständnis mit dem Sterben.
Diese Passage ist auf verschiedene Art zu verstehen: Zum einen liegt es nahe, die Hauptfigur direkt mit dem Regisseur gleichzusetzen. Neben offenkundigen Namensparallelen (Berg = Bergman, den Initialen IB) ist auch die sympathisierende Identifikation des Films/des Regisseurs mit Haltung und Perspektiven seiner Hauptfigur deutlich. In seinen Erinnerungen bemerkt Bergman, er habe sich als Kind mit dem alttestamentarischen Isaak identifiziert. Zugleich ist die Reise Isaks nur oberflächlich realistisch gemeint. Formal in der Struktur eines Roadmovie gehalten, wird sie immer wieder unterbrochen durch das Hervortreten des hier aus Erinnerung, Phantasie und Traum zusammengesetzten Imaginären. Schon zu Beginn des Films steht eine überdeutlich symbolisch ausgestaltete Traumsequenz, in der Isak in einer menschenleeren und zeitlosen – die Uhren haben keinen Zeiger – Stadtlandschaft seinem eigenen Leichenzug und sich selbst als Totem begegnet. Im Folgenden verschmelzen dann Phantasie und Wirklichkeit wie so oft in den Filmen Bergmans, bis beide Ebenen stellenweise ununterscheidbar sind. So wird ein junges Mädchen, das Isak anhält und dann gemeinsam mit zwei Freunden im Auto mitnimmt, von der gleichen Schauspielerin (Bibi Andersson) gespielt, wie seine in Erinnerungen auftauchende Jugendliebe, die er verfehlte, und die einen anderen heiratete. Beide tragen auch denselben Namen Sara. Die Erzählgang von Wilde Erdbeeren erinnert an die Gedankenbewegung der Psychoanalyse: Es geht um das Umkreisen der Erinnerung und ein behutsames Eindringen in deren schmerzhaft besetzte Bereiche, um die Deutung der Träume, die als Signale des Unbewussten verstanden werden, und die Wiederkehr des Verdrängten durch sein aktives Freilegen. Dies geschieht im Falle Isaks durch die Begegnung mit Räumen die durch bestimmte Erinnerungen geprägt und besetzt sind. Isak reist in diesem Film gedanklich in die Zeit seiner Jugend zurück, in die Jahre um seine Promotion, in denen sich sein berufliches und – im Verfehlen der Liebe seines Lebens – sein persönliches Schicksal entschied.
Auch wenn Isak an einer Stelle des Films darauf hinweist, dass er an Abenden, in denen er traurig oder sorgenvoll sei, die Gewohnheit habe, sich Kindheits-Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, um sich zu beruhigen, so hat die Vergangenheit hier im Prinzip keinen tröstenden, sondern eher einen beunruhigenden Charakter: Sie stört die Gegenwart, ruft verdrängte Schuld ins Gedächtnis und fordert zu Sühne und Wiedergutmachung auf. Und sie enthält Traumata, die schwer heilbar sind, die ihr Träger allenfalls aushalten kann. Erst am Ende des Films schläft Isak am Abend ein, noch einmal träumt er, diesmal friedlich, und reist auf diesem Weg in die verlorene Zeit des Sommers seiner Jugend. Sein Lebenszyklus hat sich geschlossen.
Es gibt einen zweiten Film im Werk Bergmans, den mit Wilde Erdbeeren vieles verbindet. Es ist nicht zufällig sein programmatisch als »letzter« Kinofilm bezeichneter Fanny und Alexander (Fanny och Alexander) von 1982. »Programmatisch« deshalb, weil Bergman bekanntlich danach sehr wohl weiter auch mit der Kamera gearbeitet und eine Handvoll Filme gedreht hat, wenn auch »nur fürs Fernsehen«. Freilich kam zumindest Sarabande (2003) noch zu seinen Lebzeiten auch auf Kinoleinwände, und andererseits war schon Fanny und Alexander ursprünglich als Miniserie für das schwedische Fernsehen produziert worden. Daher hat Bergman selbst auch die Langfassung des Films, in vier Teilen zu je 78 Minuten ein wahres Mammutwerk, als die eigentliche, künstlerisch verbindliche bezeichnet. Der »letzte Film« ist Fanny und Alexander mehr in einem grundsätzlichen Sinn: Hier schließt sich ein Zyklus, noch nie war Bergman, der Regisseur der Seelendramen der Erwachsenenwelt derart tief in die Urgründe der Kindheit eingedrungen, in früheste Erinnerungen, noch nie hatte er sich so ausgiebig auf die Phantasie der Kinder eingelassen. Auch hier sind die Grenzen zwischen Phantasie und der Welt der Tatsachen nicht klar gesteckt, auch hier sind die Übergänge fließend. Während das Phantastische in Wilde Erdbeeren allerdings mehr den Charakter des Surrealen besitzt, des kurzfristigen Einbruchs des Unbewussten, Traumhaften oder Spirituellen in eine grundsätzlich realistisch gezeichnete Welt, so kann man bei Fanny und Alexander von magischem Realismus sprechen: Selbst banale Gegenstände wie ein Stuhl tragen Geheimnisse in sich, und können plötzlich belebt werden; die ganze Welt ist grundsätzlich aufgeladen mit Märchen- und Geisterhaftem, mit Zeichen und Signalen aus einer Welt jenseits der »objektiven« Tatsachen. Diese ist auch hier allerdings keineswegs nur friedlich und versöhnlich, im Gegenteil – das Märchen kennt immer auch das Grauen. Und so muss man Fanny und Alexander streckenweise einen Horrorfilm nennen: Schon in der Auftaktsequenz begegnet der zwölfjährige Alexander während er in Erwartung des Heiligabends allein in der Wohnung der Großmutter herumstöbert, dem Tod. Immer wieder begegnet er später dem Geist des kürzlich verstorbenen Vaters – und ist in diesem Sinn natürlich auch ein Verwandter Hamlets, des Kronprinzen, der mit dem Geist seines Vaters kommuniziert, der den verhassten neuen Mann der schnell wieder verheirateten Mutter tot sehen möchte, und darüber fast wahnsinnig wird. In einer der letzten Szenen des Films taucht aus dem Nichts dann der grausam gestorbene verhasste Stiefvater auf, und sagt diesem, während Alexander seinen harten Griff spürt, voller Eiseskälte: »Mich wirst Du nie los.«
Auch sind in diesem Film die Verbindungen zu Bergmans eigener Biographie und seiner Selbstdarstellung in seinen autobiographischen Schriften zahlreich. Vor allem das Portrait des Stiefvaters, des ebenso bigotten, wie sadistischen, inhumanen Heuchlers Edvard Vergerus, des lokalen lutherischen Bischofs ist insbesondere in seinen asketischen Idealen und autoritären Erziehungsmethoden Bergmans Vater Erik, einem protestantischen Pastor nachempfunden. Das gilt auch für die Großmutter Helena, und ihr zwar formal strenges, aber immer wohlwollendes, freundliches Matriarchat über den Rest der Familie, das für Fanny und Alexander zur Zuflucht und zum Ort des Friedens wird. Und Alexander, seine Neugier, seine Sensibilität, sein Interesse für Kunst, insbesondere Theater und die Laterna Magica, mit der er zum Geschichtenerzähler für die anderen Kinder wird, folgt in vielen Zügen Bergmans Selbstportraits. Der Filmwissenschaftler Thomas Koebner urteilt überzeugend, dass die Lektüre von Bergmans Lebenserinnerungen erhelle, »wie viele Episoden und Eindrücke der eigenen Jugendzeit in den Film übertragen worden sind, so dass Alexander zu Recht als ein zweiter Ingmar angesprochen werden könnte.« Trotzdem kann die Hauptfigur nicht ohne Weiteres mit dem Regisseur identifiziert werden. Denn die Handlung des Films ereignet sich etwa zehn Jahre vor Bergmans Geburt, zwischen Weihnachten 1907 und 1910. Dies ist exakt die gleiche Zeit, in der die entscheidenden Weichenstellungen im Leben des alten Isak aus Wilde Erdbeeren fallen – der in der Gegenwart des Jahres 1957 angesiedelt ist. Isak hat sein 50. Doktoratsjubiläum, die Promotion fiel also ins Jahr 1907, und kurz darauf weist ihn die begehrte Sara endgültig zurück. Es ist auch genau jene Epoche, in der sich Bergmans eigene Eltern kennenlernten, wie er es in seinem, von Bille August 1992 erfolgreich verfilmten Drehbuch Die besten Absichten beschrieben hat.
Fanny und Alexander ist, erzählt in der gelassenen Ruhe eines jener epischen Romane des 19.Jahrhunderts, auch ein Portrait jener bürgerlichen »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) vor dem Ersten Weltkrieg, die Bergman nur als gerade erst vergangene in ihren Ausläufern, ihrem in seiner Kindheit noch vernehmbaren Echo in den Erinnerungen der Älteren kennenlernte. Bergman zeichnet sie mit viel Wohlwollen, aber ohne deren Schattenseiten zu verleugnen oder irgendwie schönzufärben. Es sind zwar Innenansichten des Großbürgertums, in dem das Proletariat so gut wie gar nicht vorkommt, und die Dienstboten nur als Dabeistehende, die schon fast zur Familie gehören, und das Geschehen sarkastisch kommentieren, oder den Herren verschiedensten Alters als Objekte sexuellen Begehrens zur Verfügung stehen.
Doch die Familie ist hier nie nur Trost, sondern immer auch Terrorzusammenhang, durchsetzt wenn nicht mit dem offenen Sadismus und der Gewalt des Bischofhaushalts, der wie ein schwarzer Spiegel der Verhältnisse der reichen Großfamilie Ekdahl wirkt, dann mit zahlreichen Lügen und Geheimnissen, Affären und Betrug, mit Inkonsequenz, mit kleineren und größeren Sünden, die das Glück, auch das der Ehen dabei keineswegs trüben müssen – ein großes Einverständnis mit dem Leben in all seinen Facetten und seiner Kraft, auch schlimmere Wunden zu heilen, durchzieht diesen Film. Und ein wenig scheint hier, trotz allem, das Vertrauen in jene »bürgerlichen Werte«, die der jüngere Bergman fundamental erschüttert und infrage gestellt hatte, wieder erneuert – gerade indem der Film, die Heuchelei, die ihr untrennbarer Bestandteil sind, gelassen akzeptiert. Bergman rekonstruiert also nicht einfach eine Welt, sondern sein und unser Verhältnis zu ihr. Dazu gehört dann auch, dass viele Figuren hier das Vergehen dieser Welt bereits reflektieren, während sie noch Bestand hat: »Alles wird schlimmer: Leute, Maschinen, Kriege, und sogar das Wetter« sagt der misanthropische Isak, der Hausfreund Helenas, und sie selbst ergänzt: »Das herrliche, fröhliche Leben ist vorbei, das schreckliche hüllt uns ein.« Oder Gustav Adolf Ekdahl gegen Ende: »Das Böse hat sich von der Kette gerissen, und rennt durch die Welt wie ein tollwütiger Hund.«
So steht hier parallel zu Fannys und Alexanders Vertreibung aus dem Paradies ihrer Kindheit auch das Wissen der Zuschauer darum, dass diese Welt, die Welt des langen 19. Jahrhunderts totgeweiht ist. Um so deutlicher ist, dass im Rückblick der Zuschauer, den Charakter einer rückwärtsgewandten Utopie besitzt. Sie erscheint offen verklärt, letztendlich heiter und versöhnlich, paradiesisch eben, also so, wie den meisten Erwachsenen im Rückblick die eigene Kindheit erscheint – auch Bergman, wenn man jene Passagen seiner Erinnerungen liest, in denen er von seiner Großmutter erzählt, von der Entdeckung des Kinos, seinen persönlichen Bildungsroman.
Nur nebenbei soll erwähnt sein, dass Fanny und Alexander auch in der Hinsicht eine Summe von Bergmans Lebenswerk zieht, als das der Regisseur hier fortwährend Motive aus eigenen Werken zitiert: Den Tod, den Ehekrieg, Angst und Weltflucht, das moralische Desaster der Gesellschaft und den fehlenden spirituellen Trost, die tranzendentale Obdachlosigkeit.
Diese Motivkette verbindet beide Filme. Bergman unterstützt seine Erzählungen durch die Belebung der Natur: Hitze und jugendliche Aufbruchsstimmung des Sommers kontrastieren mit der Melancholie Isaks genauso wie der eisige Weihnachtswinter mit der Familienfeier der Ekdahls. Bäume im Wind, das Spiel des Wassers wie der Wolken. In beiden Filmen unternimmt Bergman in ganz unterschiedliche Weise auch den Versuch, der Vergangenheit ihren Schrecken auszutreiben – indem er benannt wird, indem ihm das Kino und die Figuren auf der Leinwand direkt ins Auge sehen. Eine Art Exorzismus. Falls der Filmemacher Bergman eine moralische Utopie hat, dann tritt sie hier zutage: Sie liegt im Aussprechen der Wahrheit. In der Wendung gegen Lüge, Heuchelei und Verschweigen. In dem Augenblick, in dem eine Wahrheit ausgesprochen wird, werden viele Wunden geheilt. Isak wird dazu fähig, noch mehr aber hat Alexander die Eigenschaft der Wahrheit auch dort ins Auge zu sehen, wo es schwerfällt, und auch dort zur Wahrheit zu stehen, wo er dafür bestraft wird – der Zwölfjährige ist in all seinen träumerischen und passiven Zügen ein Held des Widerstands, ein großer Revoltierender in der Tradition der für Bergman so entscheidenden Philosophie des Existentialismus. Die Strafe für den, der der notwendigen Konfrontation ausweicht, wurde schon in Wilde Erdbeeren verkündet: »Einsamkeit.«
Zwei unterschiedliche Wege, das Vergessene wiederzufinden, und die verlorene Zeit zu rekonstruieren. In Wilde Erdbeeren beobachten wir eine Figur bei diesem Prozess, der immer wieder durch alte Fotos, oder Objekte, oder Räume ausgelöst wird, in Fanny und Alexander fungiert der Film selbst als ein solches Memento. Beide Male entfaltet das Kino ein Feld aus Metaphern und Sehnsüchten. In ihm ist das Phantastische gleichermaßen Fluchtort wie Bedrohung. Es nimmt aber nie den Figuren den Zwang zur Entscheidung, ihre Freiheit ab. Man ist geworden, was man ist, weil man sich entschied, es zu sein.
Am klarsten sieht das in Fanny und Alexander das Kind, mit dessen Augen man, immer wieder staunend, immer wieder verwundert, auf die Welt blickt. Die letzten Zeilen des Films, der schon mit dem unmissverständlichen programmatischen Satz eröffnet wurde: »Nicht fürs Vergnügen allein«, stammen aus Strindbergs »Traumspiel«, verkünden aber auch Bergmans Moral und ästhetisches Vermächtnis: »Alles kann passieren, alles ist möglich und wahrscheinlich. Raum und Zeit existieren nicht. Gegen die unbedeutende Realität erstreckt sich die Phantasie und webt neue Muster.«