16.02.2012
62. Berlinale 2012

Die geheimen Proto­kolle des Jake G.

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
oder: Ich bin ein Star, holt mich hier raus

Notizen von der 62. Berlinale

Von Thomas Willmann

Vorbe­mer­kung: Es war ein kleines, schwarzes Notizbuch, über das unser artechock-Reporter Thomas Willmann buchs­täb­lich stolperte, als er eben den Berlinale Palast verlassen wollte. Es lag vor der Sessel­reihe auf dem Boden, in der die Inter­na­tio­nale Jury zu sitzen pflegt. Und da auf dem Leder­ein­band die Initialen »J.G.« prangten, war nicht schwer zu raten, wem von den promi­nenten Preis­rich­tern die kleine Kladde grade aus der Tasche geglitten sein musste.

Just in dem Moment war die Jury dabei, wieder auf ihren Geheim­gängen hinter den Kulissen des Festivals zu verschwinden. Da aber das Gemüt unseres Bericht­erstat­ters verschattet war von bald einer Woche zerknir­schender Sozi­al­dramen und trost­loser Kino­kunst­ver­suche, reichte die Geis­tes­ge­gen­wart nicht, mit dem Notiz­büch­lein hinterher zu hecheln. Statt also nach­tra­gend zu sein, behielt er das wertvolle Dokument in seinem Besitz. Und präsen­tiert hier bei artechock welt­ex­klusiv eine (von ihm zusam­men­ge­stellte und übersetzte) Auswahl des brisanten Inhalts!

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AUS DEM NOTIZBUCH VON »J.G.«

Ich habe den ganzen Flug über dieses seltsame Grinsen nicht aus dem Kopf bekommen, dass sie in Hollywood alle hatten, als ich ihnen voll Stolz erzählt habe, dass ich in die Jury der Berlinale berufen wurde. »Toll, Jake!,« hat Renée gesagt, die schon mal hier war. »Da wünsche ich Dir ganz viel Spaß!« Und ich schwöre, sie hat hinter meinem Rücken Willem zuge­zwin­kert. Und als ich Roland gefragt habe, ob er irgend­welche Tipps hat, wo er doch sogar schon mal Jury­prä­si­dent war, hat er auch nur so komisch geguckt, lange geschwiegen, und dann gemeint: »Denk dran, dass 2012 die Welt untergeht.« Nur Ang hat mir Mut gemacht. Der ist ja so ein lieber Kerl. Nein, nein, hat er dann auch immer beteuert, das gelte nicht mir, dass die anderen auf der Party danach immer wieder aufge­lacht haben. Aber ich habe sie aus den Augen­win­keln erwischt, dass sie dabei zu mir rüber­ge­schaut und auf mich gezeigt haben. Was wissen sie, was ich nicht weiß?

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Also, ange­fangen hat es schon mal gar nicht schlecht. »Revo­lu­tion«, hat's geheißen, sei ja eins der großen Themen hier, bei diesem Festival. Zum Auftakt gab's also Fran­zö­si­sche Revo­lu­tion. Da hab ich meine Politik, und schöne Kostüme hab ich auch. Und guck, wie clever: 14. Juli 1789 ist, und kaum wen inter­es­siert's, in Versailles. Wo man sich mit Stech­mü­cken, Ratten und Stoff­mus­tern beschäf­tigt. Und weil die Nach­richten aus Paris langsam sind, und man eh noch nicht kapiert, was sie bedeuten. Tanz auf dem Vulkan, quasi. Dekadente Vergnü­gungen, während die Welt­ereig­nisse schon das große Gewitter zusam­men­brauen. Wir haben danach beim Cham­pa­gner­emp­fang lange darüber disku­tiert.

Was mich aber wirklich scho­ckiert hat an Les adieux à la reine: Diane Kruger kann schau­spie­lern!?

Memo: Muss nach­fragen, ob in Hollywood schon mal jemand aufge­fallen wäre, dass Diane Kruger schau­spie­lern kann.

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Asghar hat auf seiner Schreib­mappe lauter Aufkleber mit kleinen, goldenen Bären. Asghar hat hier letztes Jahr gewonnen, was er gerne und oft erwähnt. Er scheint sich zu freuen, wieder hier zu sein. Viel­leicht freut er sich aber auch nur, grad nicht in Teheran zu sein.

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Ja, Berlin! Muss ja ehrlich zugeben: Das war einer der Haupt­gründe, diesem Gig zuzusagen. Sind ja immer alle so begeis­tert von Berlin. Weltstadt, und so. »Viva Berlin!« hab ich dann auch gleich neben mein Autogramm geschrieben, unter dem großen Porträt­foto, was sie von jedem von uns gemacht und im Berlinale Palast aufgehängt haben.

Mann, was war ich voreilig! Berlin im Februar hat -15°C. Es ist grau. Und ich habe eben erfahren, dass ich jeden Morgen um 9 Uhr im Kino sitzen muss. Und dort wach­bleiben. 9 Uhr! Soviel zum Thema Berliner Nacht­leben... Berlin zieht selbst Shah Rukh Khan runter. Er ist auch hier, sie lieben ihn. (Sie lieben ihn mehr als mich hier, aber hey...) Er hat hier gedreht. Hat mir den Film gezeigt – Don 2 – The King Is Back. Können schon was, diese Inder. Beim Anfang, noch in Asien, hab ich mir ehrlich gesagt schon Sorgen gemacht: Die wollen doch nicht unserem schönen ameri­ka­ni­schen Action-Kino den Rang ablaufen?
Aber eben: Berlin! Dachte immer, diese Bolly­wood­filme müssten bunt, überbor­dend und dauernd mit Musik sein. Denkste. Die Deutschen haben die da aber ordent­lich runter­ge­holt von dem Trip. Eng, grau, ernst, das ist's. Aber Neid: Ein, zwei Dutzend Titel­ta­feln nur mit Geld­ge­bern und Sponsoren am Anfang! Da können wir noch was lernen. Das haben diese Inder drauf.

Memo: Hab ich eigent­lich auch schon einen Uhren­ver­trag? Agenten fragen!

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Na ja, die ersten Filme, über die wir wirklich zu urteilen hatten, waren jetzt schon etwas mühsam. Wegge­sperrtes Mädchen im Keller – aber NICHT diese Öster­rei­cherin. Sondern eine reine Fantasie des Regis­seurs. Was er am Anfang schrift­lich groß betont. Weil: Auch Rechts­an­wälte gehen mal ins Kino. Wäre aber, ehrlich gesagt, auch sonst wenig Verwechs­lungs­ge­fahr. Yup, À moi seule ist eine reine Fantasie.
Weil: Das Opfer ist ja fast der domi­nan­tere Teil in der Beziehung zu dem Täter, gell! Und mit Sex hat die ganze Sache für den Täter ja auch fast gar nichts zu tun. M-hmm. Aber vom Tempo her, da hat der Film einem schon mehr auf Opfer-Seite verortet, das muss man ihm lassen.

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Angelina hat's gut! Die fliegt hier mit ihrem eigenen Film für ein paar Tage ein. Ist der einzige Hollywood-Star hier, um den sich die ganze Stadt wirklich schert. Kann machen, was sie will, muss nicht mal zur Eröff­nungs­gala, wenn sie lieber im Hotel mit den Kindern Lego spielt. Und hat dann noch diesen Film über den Bosni­en­krieg, den bei uns daheim keiner recht mochte oder ange­schaut hat, den sie hier aber lieben. Und der sie zum guten Menschen des Festivals macht.

Dieter zumindest sah ziemlich glücklich aus. Angelina mit einem Polit-Drama und Publicity-Bedarf – wenn es ein Berlinale-Kit von Lego gäbe, würde er sich genau das basteln.

Hab mich mit Angelina und Brad getroffen und ihnen Briefe für die Leute daheim in L.A. mitge­geben. »Bleib tapfer,« haben sie gesagt, mir in die Augen geschaut und die Hände gehalten. Ich sei dort nicht vergessen! Ein paar Momente später schon hatten sie sich wieder lachend unter die Menge gemischt.

Meine Betreuerin hat mich höflich, aber entschieden zurück ins Jury­zimmer gebeten.

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Man hüte sich vor der Erfüllung seiner Wünsche! »Mal ein Genre-Film zwischen­durch, das wär's!« Hab ich gestern noch gedacht. »Ich hoffe, die zeigen uns nicht nur so irrele­vantes Relevanz-Kino?« Oh je! Wünsche dir nie Genre-Filme von Leuten, die keinen Bezug dazu haben! Die setzen dir dann so Zeug vor wie Dictado. Ich mein: Wie schwer kann's sein, einen brauch­baren spani­schen Psycho­thriller aus dem in dem Feld ja nicht kleinen Angebot zu picken? Zu schwer für die Leute hier, offenbar...
Wahr­schein­lich waren sie begeis­tert, dass dieses Ding auch so einen bleiernen, bedeu­tungs­schwan­geren Tonfall hatte. Sah in ihren Augen wohl nach Gewicht und Kunst aus. Und wenn man sonst nie Genre-Filme guckt, findet man vermut­lich die Story ganz neu und überra­schend, mit dem toten Mädchen, das seine kind­li­chen Mörder im Erwach­se­nen­alter heim­zu­su­chen scheint. Aber halt nur: Wenn man sonst nie Genre-Filme guckt.

Nun denn – einer für die Liste: »Warum zwingen sie uns, das anzu­schauen?«

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Wie gut werde ich hierfür eigent­lich bezahlt?

Memo: Muss meinen Agenten fragen, wieviel das einbringt.

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Peinliche Situation. Habe diesen Mann im Jury­zimmer gebeten, mir eine Wasser­fla­sche zu bringen. Wäre viel­leicht gut gegangen – wenn ich dann nicht versucht hätte, ihm Trinkgeld zu geben.

Memo: Boualem. Er heißt Boualem, er ist Schrif­steller, und er ist mit uns in der Jury.

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Anton wirkte heute Mittag sehr bleich. Hab versucht, ihn in ein Gespräch zu verwi­ckeln. Aber er stammelte immer nur »35mm, 35mm« vor sich hin. Ihn scheint dieser grie­chi­sche Film Metéora sehr mitge­nommen zu haben.
Ich glaube, diese Foto­grafen sind manchmal echt überemp­find­lich. Ich mein, was war da schlimm dran, dass der Regisseur nur seine nied­rig­auf­lö­sende Video­ka­mera hatte? Soll er deswegen die Land­schaften mit diesen spek­ta­kulär isolierten Berg­klös­tern anders filmen, als wenn er David Lean wäre? Das bisschen braune Pixel-Matsche­pampe mit den Kontrast-Arte­fakten wirkt jetzt doch echt nicht sooooo viel weniger überwäl­ti­gend, oder? Ich mein, wollen wir von Regis­seuren jetzt auch noch verlangen, dass sie sich Gedanken machen über den Zusam­men­hang von tech­ni­schen Möglich­keiten und ästhe­ti­schen Absichten? Hey, sind wir hier bei Kubricks, oder im Kino, oder was? Als ob Bilder da einen Unter­schied machen...

Barbara hat versucht, Anton aufzu­bauen. Sie hat ihm das erklärt, warum nicht genug Budget für richtigen Film da war. Hat irgendwas mit dem Euro zu tun. Und dass man Griechen aus Prinzip zu möglichst schmerz­haften Spar­maß­nahmen zwingen muss.

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Mein Agent meint, nun ja, so direkt BEZAHLT... also... »Aufwands­ent­schä­di­gung«... Ich mach das quasi umsonst! Ich fasse es nicht.

Memo: Brauche einen neuen Agenten.

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Mir hat mal einer eine Tasche geklaut. Da war nicht viel Geld drin, aber ich mochte die Tasche, und hing an einigen der persön­li­chen Dinge drin, und es war wahn­sinnig nervig, alles an Papieren wieder zusam­men­zu­be­kommen, und teuer, die Schlösser an der Haustür auszu­wech­seln. Ich will kein Vers­tändnis haben für Leute, die anderen Menschen Taschen klauen. Oder Skier. Wir haben diesen schweizer Film gesehen, L'enfant d'en haut, über so einen Buben in einem Skiort, der Taschen, Skier, Brillen, Hand­schuhe klaut.
Armer Bub! Weil: Keine Eltern! Probleme mit der vom Leben überfor­derten Schwester, mit der er zusam­men­lebt! Buhuu! Ich musste immer an die Leute denken, die Skifahren wollten, und es nicht konnten. Weil man ihnen ihr Zeug geklaut hatte. Warum darf ich mit denen kein Mitleid haben? Na ja, es war dann alles nicht ganz so klar und einfach, wie's anfangs schien. Schon okay, der Film. Aber ich will trotzdem mal ein Sozi­al­drama sehen über normale, halbwegs gutsi­tu­ierte Menschen in stabilen persön­li­chen Verhält­nissen, deren einziges Problem ist, dass man ihnen den wohl­ver­dienten Urlaub versaut hat, indem man ihnen ihr Zeugs klaut. Auch das ist ein Problem unserer Tage!

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François und Barbara hängen die ganze Zeit zusammen. Heute hat er sie mit Handkuss begrüßt. Und ich schwöre, sie hatte einen neuen Lippen­stift und hat nicht aufgehört, ihre Lippen bei jeder Gele­gen­heit zu schürzen, bis François endlich meinte: »Ma chère Barbara, Du hast eine neue Lippen­stift? Erinnert er mich an Lola?«

Die ganze Zeit reden sie von einem Rainer. Rainer hier, Rainer da, und immer: »Also RAINER hätte das ganz anders gemacht.«

Memo: Muss raus­finden, wer dieser Rainer ist.

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Vorhin gab's einen Film über eine Gruppe von harm- und ahnungs­losen, inter­na­tio­nalen Touristen, die auf den Phil­ip­pinen von einem Terror­kom­mando entführt werden. Und die dann mona­te­lang schlimme Entbeh­rungen ertragen, sich durch einen unwirt­li­chen Dschungel schlagen müssen.Captive hieß er, und ich mochte ihn. Auch wenn ein, zwei Feuer­ge­fechte weniger gut gereicht hätten.

Irgendwie konnte ich mich sehr gut in die Situation hinein­ver­setzen.

(Memo: Muss heraus­finden – sind unsere Betreuer eigent­lich bewaffnet?)

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Gestern waren wir beim Deutschen Präsi­denten einge­laden. Hände­schüt­teln, Smalltalk. Von mir wollte er wissen, wo und wie ich denn in Los Angeles so wohne. Und ob es da Gäste­zimmer gibt. Falls er mal da sein sollte. Charlotte hat ihn mit Frei-CDs abgelenkt, bevor ich antworten musste.

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Jetzt verar­schen sie uns. Ich schwöre, jetzt sitzen sie irgendwo, klopfen sich auf die Schenkel und schließen Wetten ab, wie lange wir noch bereit sind, das alles ernst zu nehmen. Heute haben sie uns einen portu­gie­si­schen Film gezeigt, wo ich mir bei den Schwarzweiß-Bildern im 4:3-Format schon dachte: »Na, wenigs­tens kein Stummfilm.« Tja, das war die erste Hälfte! Über eine alte Frau und ihre schwarzen Pflegerin. Die zweite Hälfte WAR dann ein Stummfilm. Fast. Dieser alte Portu­giese hat uns die Geschichte erzählt, aus seiner Jugend, zu sprach­losen Bildern. Wenigs­tens: Afrika! Und ein Baby-Krokodil. Aber halt auch: Afrika! Und ein Baby-Krokodil.

Mike meinte, er würde mir das alles erklären, wenn zwischen den Filmen mal länger Zeit ist. Hm. Cannes hatte The Artist, wir haben Tabu.

Was mich aber wirklich verun­si­chert hat: Das war irgendwie einer der hübschesten Filme bisher.

Memo: Immer wieder dran denken – Ich bin ein Holly­wood­star, ich bin ein Holly­wood­star, ich bin ein Holly­wood­star...

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Ich darf nicht unfair sein. Es ist wirklich nicht so, dass auf der Berlinale nur so depri­mie­rende, realis­ti­sche, kritische Filme über Massen­ver­ge­wal­ti­gungen laufen. Es laufen auch herz­er­wär­mend-versöhn­liche, roman­tisch-erhebende, natio­na­lis­ti­sche Filme über Massen­ver­ge­wal­ti­gungen.

Ist das nicht wunderbar, wenn inmitten des Massakers von Nangking sich für ein Dutzend katho­li­scher Kirchen­schü­le­rinnen ein Dutzend prak­ti­scher­weise im Keller geparkter Prosti­tu­ierter opfern dürfen?

Immerhin: Hat mir meine Lage erträg­li­cher gemacht. Hätte es schlimmer erwischen können. Christian Bale wurde von den Chinesen gekid­nappt! Und war da sicher länger als zehn Tage. Genug für Stockholm Syndrom, scheint mir: Macht da mit, als hätte er richtig Spaß dran.

Was ich Zhang Yimou aber am meisten vorwerfe: Flowers of War ist der falsche Titel.
Der Film sollte natürlich einzig und allein War Whores heißen.

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Asghars Lächeln ist in den letzten Tagen immer krampf­hafter geworden. Habe beob­achtet, wie er während der Vorfüh­rungen Bären-Aufkleber von seiner Schreib­mappe pult. Er erwähnt nicht mehr ganz so oft, dass er hier letztes Jahr gewonnen hat. Dafür betont er bei unseren Bespre­chungen immer häufiger, dass letztes Jahr der Wett­be­werb ja VIEL stärker gewesen sei. Und es für einen Film echt nicht leicht war, sich da durch­zu­setzen. Und dass so ein Goldener Bär schon mehr bedeutet, als dass man den dem einzigen Film gibt, der nicht ganz peinlich ist.

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Charlotte hat bei Postcards From the Zoo die ganze Zeit verzückt »Awwwwww...!« gehaucht, wenn süße Tiere zu sehen waren. Beim Babytiger, beim kleinen Elefanten, beim lustigen Hippo, bei dem Nasen­bären. (War es ein Nasenbär? Keine Ahnung. Für mich sah es aus wie ein Nasenbär. Ich bin Schau­spieler, kein Zoologe.)
Und dann gab's da einen Typen, der Geräusche aus dem Zoo aufge­nommen hat, und sie mit Minimoog-Sounds zu einem Song gemacht hat. Ich fürchte, der Film hat Charlotte auf Ideen gebracht.

Ansonsten weiß ich wieder nicht, warum der hier im Wett­be­werb lief. Mir hat mal jemand gesagt, die Berlinale hätte für solche Filme die Forums-Reihe. Aber wenigs­tens war dies ein lehr­rei­cher Film. Wusste nicht, dass »Giraffe« ursprüng­lich aus dem Arabi­schen kommt. Sollte mehr Wikipedia lesen.

Es lohnt auch, Abspänne zu lesen: Die einsame Giraffe aus dem Zoo von Jakarta heißt in echt gar nicht so, wie sie im Film heißt! Können wir ihr einen Darstel­ler­preis geben? Ich möchte bitte gerne der Giraffe einen Darstel­ler­preis geben. Charlotte ist auch dafür.

(Memo: Beim nächsten Film mit Baby­ti­gern besser aufpassen, dass keiner merkt, dass ich auch dauernd »Awwwwwww...!« gemacht habe.)

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Welch Schreck! Vorhin hat mich ein fremder Mann plötzlich mit sich gezerrt, und ich dachte schon, ich werde entführt. (Captive wirkt nach.) Er hat mich aber nur in einen stillen Winkel gedrängt, um auf mich einzu­flüs­tern.
Dann hab ich ihn erkannt! Boualem.

(Memo: Muss mir merken, dass er in unserer Jury ist.)

Er hat mir dann gesagt, dass er nach den letzten Filmen, die wir anschauen mussten, nach der Website von Amnesty Inter­na­tional gesucht habe. Aber die sei vom Netz­zu­gang seines Hotel­zim­mers aus gesperrt gewesen. Wir haben beschlossen, in einem unbe­ob­ach­teten Moment Asghar zu fragen, wie man (mit) sowas umgehen kann.

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Charlotte wirkte heute in den Vormit­tags­vor­stel­lungen völlig teil­nahmslos und abwesend. Den Weg vom und in den Juryraum hätte sie ohne Hilfe gar nicht gefunden. Mike hat uns heimlich Zettel zuge­steckt, auf denen er erklärt hat, was geschehen war: Charlotte hat heute Nacht versucht zu fliehen. Sie ist nicht weit gekommen. Man hat sie noch im Tier­garten in einem Erdloch gestellt. Ihre Teil­nahms­lo­sig­keit ist eine Nach­wir­kung von den Betäu­bungs­pfeilen.

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Keiner unserer Betreuer hat ein Wort über den Vorfall verloren. Aber sie weichen uns jetzt gar nicht mehr von der Seite. Sie tarnen das als Zuvor­kommen. Egal, mit welchem Grund du dich von der Gruppe entfernen willst: Sie erledigen das für dich.

Dann aber große Aufregung! Einer der Betreuer hat heute einmal durch­ge­zählt. Und es fehlte jemand aus der Jury! Völlige Verwir­rung, auch bei uns. Hektische Tele­fo­nate, Funk­sprüche. Freilich die Frage: Wie konnte jemand entkommen? Vor allem aber: WER? Keiner wusste das! Drei Stunden hat es gedauert, bis es jemandem ein- und aufge­fallen ist: Es ist Boualem!

Renn, kleiner Boualem, flieh! Das Glück sei mit Dir. Ich habe Dich kaum gekannt.