65. Filmfestspiele Cannes 2012
Filmemacher erzählen nicht immer die Wahrheit |
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Thomas Vinterbergs Jagten: Missbrauch des Missbrauchthemas | ||
(Foto: Wild Bunch) |
Gespräch mit der Wiener Kollegin Alexandra über Reygadas Post Tenebras Lux, den sie ungemein prätentiös findet. »Wie Murnau« sage ich. »Meinetwegen« sagt sie, »aber eben nur wie Murnau, nicht Murnau.« »Murnau ist auch überschätzt« antworte ich, »Fritz Lang ist viel besser.« Sie: »Natürlich ist er das. Warum sagt das eigentlich keiner?« Müssen wir’s halt tun. Hiermit wäre das also jetzt auch gesagt.
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Zum Ausklang des Festivals lief noch Le Serment de Tobruk vom französischen Starintellektuellen Bernard Henri Levy – ein schlichter, aber eindeutigen Dokumentarfilm, in dem die Geschichte des Befreiungskampfes von Libyen und der westlichen Unterstützung erzählt wird.
Zwar ist dies ein erkennbar eitles Werk, in dem BHL, wie man ihn in Frankreich nur nennt, immerzu blendend angezogen, im weit offenen weißen Hemd zwischen Ruinen, Schützengräben und Flüchtlingslagern flaniert, um in der nächsten Szene wieder an der Seite von Sarkozy oder Hilary Clinton Weltpolitik zu betreiben. Aber immerhin ist ihm das auch gelungen. Der Film hält mit nichts hinterm Berg, er ist offen und klar – und er zeigt, wie die Anti-Ghaddafi-Koalition geschmiedet wurde, und welche Opfer die lybische Bevölkerung zu erleiden hatte. Es ist ein aufrüttelndes, emotionales Kinodrama, das Pathos nicht scheut, das uns Gleichgültigen in den westlichen Metropolen klarmachen möchte, dass es an uns selber und nur an uns liegt, ob der Westen für den Rest der Welt ein Stück Hoffnung verkörpert – oder nur das Objekt von Verachtung.
Zudem ist Le Serment de Tobruk ein Hohelied auf einen Typus des engagierten Intellektuellen, der persönlich mutig und bewusst subjektiv eingreift – einen Typus, wie es ihn bei uns gar nicht gibt, neben dem ein Günter Grass wie ein politischer Clown und eine Farce wirkt.
Schade, dass den deutschen Kollegen zu BHL nichts Besseres einfällt, als nachzuzählen, wieviel Knöpfe seines Hemds er gerade offen hat.
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Da sitzen wir nun im »Salle Soixantieme« und warten gespannt. Immer mehr Kollegen strömen herein. Ein mysteriöses »Mystery-Screening« wurde uns angekündigt. Irgendjemand erzählte: Zehn Minuten von Malick und von Tarantino. Ein anderer meint Refn und Wong Kar-wai. Schaun wir mal. »Weinsteins Resterolle, nein danke.« lehnte Guiseppe Rapido kühl ab, als ich ihm noch eine SMS schrieb.
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Dann tritt Thierry Fremaux vors Publikum und zeigt wieder mal seine Fähigkeiten als guter Gebrauchtwagenverkäufer: Halb französisch halb englisch moderiert er elegant eine Trailershow, die ganz offenkundig auch den Zweck hat einigen Sponsoren – »cheres amis de Cannes« – einen Gefallen zu tun. Es beginnt mit 5 Minuten Gutmenschlichem: Sean Penn und Paul Haggis tun Gutes in Haiti, Penn vor allem ist offenbar ein Tausendsassa, der überall selbst mit anpackt, Sandsäcke schleppt und Kubikmeter vermisst, baggert und dabei das große Wort führt. Fehlt nur noch, dass man ihn im OP das Skalpell führen sieht. Dazu läuft schlechte Musik, und unwillkürlich frage ich mich, ob es in Haiti eigentlich schon McDonalds gibt.
Dann ist Disney mit seinen Verkaufsfilmchen an der Reihe: Chinpanzès geht über Schimpanse – »Sie sind wie wir.«, dann zwei Pixarfilme: Rebelle heißt einer.
Dann legt Fremaux wieder los: »What is coming now, is subtitled. But it’s very french, what we will be seeing now – I am very sorry for that.« Lachen im Saal. Es folgt ein längerer Trailer zu Porn in the Hood, bestimmt eine ziemliche Dödelkomödie, die ich trotzdem witzig finde, weil da von einem Porno die Rede ist, der »Anal-Quaida« heißt…
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Dann wird’s ernst: Ein paar Minuten aus Spring Breakers von Harmony Korine, bei dem es in sehr sehr poppigen Farben offenbar um vier leichtbekleidete Ami-Mädels geht, die einen Bankraub begehen, du auch sonst ihren Spaß haben. Man sieht viel nackte Haut und alles wirkt eher wie ein Film von Larry Clark.
Der nächste Film spielt in Thailand. Es ist Nacht, man sieht einen langen Gang, eine Table-Dance-Bar, rotes Neonlicht, es läuft der Song: »Stay away from me«, und auf einer Couch sitzt einsam Ryan Gosling. Dann steht er auf und prügelt zwei Asiaten brutal zusammen. Alles sehr 80er, handfest, wirkt wie eine Fortsetzung von Drive und ist tatsächlich ein ungeschnittener Auszug aus Only God Forgives, dem neuen Film des ungewöhnlichen Dänen Nicholas Winding Refn, der uns alle hier vor einem Jahr mit offenem Mund staunend zurückließ.
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Zumindest um den letzten Ausschnitt darf Guiseppe Rapido dann doch etwas neidisch sein (und war er später auch): Eis und Schnee über Pflanzen, alles Grau, Weiß, Blau, eine Tochter redet aus dem Off über ihren Vater. Gespielt wird sie von Zhang Ziyi. Dann sieht man einen Alten, bei Kampfkunst-Übungen im Innenhof eines alten chinesischen Hauses. »It’s a pity, I am not a man.« sagt Zhang Ziyi, dann übt sie selbst, und die Kampfbewegungen sehen aus wie ein Tanz, draußen im Schnee, im
blauen Kleid. Ein Girl, das aus der Kälte kam. Das Wichtigste sagt sie, sei der »Code of Honor«…
Das seien, so Fremaux, exklusiv für heute Abend geschnitten, 5 Minuten aus The Grandmaster, dem neuen Film von Wong Kar- wai. Den wollen wir sofort sehen. Ganz!
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Die ersten Preise in Cannes wurden schon am Samstag vergeben: Den Preis der »fipresci«, der Internationalen Filmkritikerjury, gewann Sergei Loznitsas V tumane. Das überrascht mich gar nicht, zum einen weil die fipresci-Jurys in Cannes in der Regel eher staatstragend mit alten, verdienten Kollegen besetzt sind, und entsprechend einen antiquierteren Geschmack hat, als auf anderen Festivals. Entdeckungen gemacht oder gar radikale, aufregende Entscheidungen haben die Kritikerjurys hier schon lange nicht mehr.
Und V tumane ist, wie ich bereits geschrieben hatte in seiner überlangen schwerblütigem Bedeutungshuberei und seinem altbacken-konservativen Stil genau, was hier gute Preischancen hat.
Was mir aber Sorgenfalten auf die Stirn schiebt, ist, dass der Kritikerpreis in den letzten Jahren oft identisch war mit der Goldenen Palme – was auch nicht für die Besetzung der
fipresci-Jury spricht.
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Die Preise für die anderen Sektionen gingen in der Sektion »Un Certain Regard« an Ben Zeitlin’s Beasts of the Southern Wild, der schon den »Grand Jury Prize« beim Sundance Film Festival bekommen hatte. In der Quinzaine gewann Rachad Djaidani’s Hold Back, den ich nicht gesehen habe.
Die Ökumenische Jury gab ihren (Gutmenschen-)Preis an Thomas Vinterbergs Jagten und eine lobende Erwähnung nochmal an Beasts of the Southern Wild.
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Kurz habe ich mich gewundert, warum die Ökumenische Jury ihren Preis denn nicht an Haneke gegeben hatte. Aber ich bin eben offenbar einfach zu gottlos, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Gutkatholische Aufklärung kam dann gerade noch rechtzeitig aus Deutschland: Natürlich darf ein Film, in dem der Ehegatte die Ehefrau mit einem Kopfkissen erstickt, keinen Kirchenpreis bekommen. Jedenfalls nicht, wenn er das auch noch als Liebeshandlung versteht. Hätte der Gatte die Alte wenigstens aus Habgier oder wegen einer Jüngeren kalt erdrosselt, und wäre dann ein wenig von Teufeln gezwickt, von Dämonen gejagt und vom eigenen Gewissen gemartert worden, dann wäre das natürlich etwas anderes. Aber ein glücklicher Tod im Angesicht tödlicher Krankheit darf nicht sein. Da hat man auszuhalten, und bitteschön anständig hart zu sterben. Glückliche Tode, die erlaubt die Kirche nur am Kreuz.
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Wahrscheinlich liegt die Ökumenische Jury damit im Fall von Haneke sogar richtig, denn was man so »einen guten Christen« nennt, ist der vermutlich nicht. Eher schon denkt man bei Amour an den Skeptiker Montaigne. Filme gucken, heißt sterben lernen. Die Menschen sind zärtliche Monster, wie es im Film einmal heißt.
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Vinterbergs Jagten der den Kirchenpreis schließlich bekommen hat, habe ich am Sonntag kurz vor der Preisverlehung noch nachgeholt. Das hätte ich mir sparen können. Ein aufgeblasener überflüssiger Film, bei genauerem Nachdenken sehr unsympathisch. Oberflächlich gesehen geht’s um etwas Ähnliches wie seinerzeit in Das Fest, Vinterbergs bisher einzigen wirklich guten Film. Kindesmissbrauch. Diesmal aber statt Verdrängung ein falscher Verdacht und eine Hexenjagd. Mads Mikkelsen überdeutlich »gegen den Strich« besetzt, also als sensibler Softie, Kinder- und Frauenversteher, und damit man das auch glaubt, bekommt er eine runde Brille auf die Nase.
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Das schrecklichste Ereignis des Films ist aus Sicht der Zuschauer fraglos der Tod des Hundes. Als der Hund, der auf den kapriziösen Namen Fanny hört, tot ist, geht ein Schluchzen durch die Reihen. Ansonsten merkt man am Rutschen auf den Sitzen eine gewisse Unruhe – die Schwäche des Films überträgt sich auf die Körper der Zuschauer.
Der Regisseur verliert die Erzählfäden gleich im Dutzend aus der Hand. Da ist die Geschichte der offenbar ausländischen Geliebten von Lucas, der von Mikkelsen gespielten Hauptfigur. Sie ist eigentlich nur dazu da – ja wozu eigentlich? Wir wissen nicht, woher sie kommt. Wir sehen, wie sie auch Probleme bekommt, als Lucas in Missbrauchsverdacht gerät. Sehen, dass sie offenbar zu Lucas steht, und dann doch nicht richtig, und irgendwann von ihm rausgeschmissen wird. Sie soll also dramaturgisch zum einen klar machen, dass das Geschehen Lucas wirklich mitnimmt, und natürlich, dass er »ein normaler Mann« ist, dass also in den Augen der Zuschauer auch nicht der Schatten einer Distanzierung aufkommt, weil Lucas kleine Mädchen an der Hand nimmt und zum Kindergarten begleitet.
Vinterberg vergießt auch die etwas trutschige Kindergarten-Chefin, die aus der dummen Bemerkung eines kleinen Mädchens sofort eine Staatsaffaire macht. Schließlich hat Vinterberg offenbar die Lust verloren und der Film hört ziemlich aprupt auf. »Ein Jahr später«, eine Jagdgesellschaft, die Welt ist weitgehend wieder in Ordnung.Vor allem aber ist das ein frauenfeindlicher Film. Denn keine einzige Frau kommt wirklich gut weg. Die Frauen reagieren aus Sicht der Zuschauer völlig übertrieben. Was sich bewährt, ist der Männerbund der Jagdgesellschaft. Hier halten einige Freunde zu Lucas. Am Schluss gibt es dann eine Szene, in der Marcus, Sohn von Lucas – offenbar heißen sie alle wie Evangelisten – in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen wird.
Man könnte natürlich auch mal über Puritanismus reden: Vielleicht spinnt nicht nur die Gesellschaft, die aus einem Kindervorwurf heraus ein Leben ruiniert, vielleicht reagiert schon Lucas über, der den Vorwurf unwillentlich provoziert, indem er die sehr unschuldige Zuneigung des Kindes etwas brüsk zurückweist: »Kiss is for Mummy + Daddy only«.
Für die Kirchenjury scheint das alles trotzdem wie gemacht: Ein wichtiges, relevantes Thema, eine tier- und kinderliebe Hauptfigur, die ungerecht zum Opfer wird. Und die große Katharsis kommt zu allem Überfluß am Weihnachtsabend, in der Kirche!
Da sitzt ein geschundener Mikkelsen vor dem Altar, kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Und das Mädchen gesteht, es sei an allem nichts dran gewesen.
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Aber vielleicht ist die Ökumenische Jury da unwissentlich in eine Falle gegangen, die ihr noch unangenehm werden wird: Denn Vinterbergs Position zur Missbrauchsdebatte wirkt nach gewissem Nachdenken doch sehr einseitig. Wir Zuschauer wissen zwar, dass Lucas nichts gemacht hat. Da ist es leicht, auf seiner Seite zu sein. Wir sehen, wie die älteren Frauen dem Kind einreden, es sei »etwas geschehen«, wie sie ignorieren, dass das kleine Mädchen sehr früh mehrfach wiederholt, sie habe etwas Dummes gemacht.
Wir Zuschauer lernen also: Alles Unsinn mit diesem Missbrauchsvorwurf, alles übertriebene Hysterie. Die wahren Opfer sind die vermeintlichen Täter. Und, nicht zu vergessen: Der arme Hund.
Wenn wir dann noch an die aktuelle Missbrauchsdebatte der letzten zwei Jahre denkt – ist es da nicht etwas unsensibel, dass ausgerechnet die Kirchenjury solch einer Abwieglung und Relativierung des Missbrauchsthemas eine Auszeichnung verleiht?
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»Kinder erzählen nicht immer die Wahrheit.« lernen wir. Filmemacher allerdings auch nicht. Worum es in »Jagten« nämlich wirklich vor allem geht, ist noch etwas ganz anderes: Es geht vor allem darum, Tomas Vinterberg zurück nach Cannes zu bringen, seine erschütterte Reputation als Regisseur wiederherzustellen. Ein klarer Missbrauch des Missbrauchsthemas.
Nächste Woche folgt dann eine Bilanz des Festivals mit allerletzten Filmimpressionen und Kommentaren zur Preisverleihung.