12.01.2012
Cinema Moralia – Folge 43

Prime time, second hand

Essential Killing
Essential Killing von Jerzey Skolimowski
(Foto: Ascot Elite)

Just gossip: Christian Wulff als Filmstar, eine Jerzey-Skolimowski-Retro und ein Film auf »arte« – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 43. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Eine brandneue, sehr schlechte Nachricht erreicht uns aus Spanien: Das erste Opfer der neuen poli­ti­schen Mehr­heiten – für die mehr oder weniger reak­ti­onäre post­fran­quis­ti­sche PP (Partido Popular) – ist das Film­fes­tival von Gijon, das renom­mier­teste und älteste spanische Festival nach San Sebastián, das Anfang Dezember immer eine Art »Hofer Filmtage« Spaniens war. Dort ist nach sechzehn Jahren der Direktor José Luis Cien­fuegos auf eine überdies ziemlich rüde Art entlassen worden, die recht kenn­zeich­nend für den Brutalo-Stil der PP ist: Aus der Presse erfuhr er von der Benennung eines Nach­fol­gers. Dieser Nach­folger, ein unbe­schrie­benes Blatt, gegen den vor allem spricht, dass er sich vor den Karren der PP spannen lässt, kündigte an, das Festival »allen Publi­kums­typen« zu öffnen »nicht nur den erlesenen und intel­li­genten«. Sein Programm soll um Fern­seh­pro­duk­tionen und Anima­ti­ons­filme ergänzt werden. Na dann! Diesen kaum verbrämten Popu­lis­mus­kurs kennen wir ja von manchen unserer Festivals. Das lässt Schlimmes befürchten.

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Der Preis eines Doku-Formats für die Prime Time liegt beim ZDF derzeit bei etwa 220.000 Euro. Das sind knapp 5000 Euro pro Minute. Legt man bei der ARD etwa den gleichen Betrag zugrunde, dann kostete das Interview mit Noch-Bunde­sprä­si­dent Wulff, das vor einer Woche gleich­zeitig auf ARD und ZDF gesendet wurde, ungefähr 150.000 Euro. Dafür hätte man einen schönen Studen­ten­film drehen können, der sich im Zwei­fels­fall besser verkaufen und jeden­falls öfters wieder­holen ließe. Aber von der Verwen­dung kostbarer öffent­lich-recht­li­cher Sendezeit einmal abgesehen – wer zahlt diese Kosten eigent­lich? Und wer hat eigent­lich entschieden, dem Bunde­sprä­si­denten dieses Forum zu geben? Wer entscheidet, dass es in beiden Sendern gemeinsam, also gewis­ser­maßen »alter­na­tivlos«(Angela Merkel) gesendet wird? Wer trägt die Kosten für die Verschie­bung/Verspä­tung und damit einher­ge­henden Zuschau­er­ver­luste/Quoten­ein­brüche der nach­fol­genden Sendungen? Für die Zuschau­er­ver­luste/Quoten­ein­brüche der konkur­rie­renden (zum Teil auch öffent­li­chen) Sender? Kann eigent­lich jeder Politiker bei ARD/ZDF Sendezeit bestellen? Wenn nicht, welche Politiker können dies unter welcher Voraus­set­zung?

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Man kann sich den Film vorstellen, den Lubitsch, Wilder oder sogar Helmut Dietl aus der Mail­boxKredit-Affaire des noch amtie­renden Bunde­sprä­si­denten machen würden.

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Da wir an diesem Ort immer gern (und oft mit guten Gründen) über das Fernsehen schimpfen, wollen wir an dieser Stelle einmal loben: Letzte Woche stießen wir eher zufällig bei arte, der nach seiner aller­neu­esten Programm­re­form im Gegensatz zur ARD wieder stärker auf den Doku­men­tar­film setzt, auf Jerome de Missolz' Film David Bailey, eine Foto­le­gende. Wahr­schein­lich weiß jeder unserer klugen Leser, wer Bailey war, wir wussten überhaupt nichts: David Bailey, Mode­pho­to­graph unter anderem für die »Vogue« war eine der schil­lernden Figuren des »Swinging London« der 1960er-Jahre. Er war der Entdecker von Jean Schrimpton, einem der ersten Super­mo­dels, und das reale Vorbild für den von David Hemmings gespielten Photo­gra­phen in Anto­nionis Blow Up (1966). Im Film erzählt er, dass Freunde manche private Details ohne sein Wissen an Antonioni und seinen Dreh­buch­autor verraten hatten. Zugleich legt er großen Wert darauf, dass die Idee zu dem Film nicht von Antonioni gekommen sei, sondern von dessen Produzent Carlo Ponti. Bailey, 1938 geboren, photo­gra­phierte in seinem ziemlich einzig­ar­tigen Stil Dutzende Filmstars und Regis­seure vor allem der großen Periode des europäi­schen Autoren­films. Man sieht ihn mit Visconti, Romy Schneider und Helmut Berger, mit Michael Caine. Und natürlich ausführ­lich mit Catherine Deneuve, mit der er sieben Jahre verhei­ratet war. Deneuve kommt ausführ­lich zu Wort. Ein paar Mal drehte Bailey auch eigene Filme, zwei Kurzfilme, einen Doku­men­tar­film über Cecil Beaton (Beaton By Baily) und einen über Andy Warhol (In Bed With Warhol), sowie seine Mystery-Romanze The Intruder von 1999, die man schon deshalb gern sehen würde, weil dort Charlotte Gains­bourg, Nastassja Kinski und Molly Parker mitge­spielt haben.
Den Film kann man zum einen zur Zeit noch auf arte+7 angucken [http://videos.arte.tv/de/videos/david_bailey_eine_fotolegende-6302134.html], im Fernsehen kann man ihn aber auch nochmal sehen (und aufnehmen): am 19.1. um 2.50 Uhr.

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Das Leben von Jean Schrimpton wird übrigens jetzt von der BBC verfilmt. Sie verließ Bailey 1964 für Terrence Stamp, und der wiederum hätte, wie das Leben so spielt, um ein Haar Bailey verkör­pert – in Anto­nionis Film. Erst zwei Wochen vor Dreh­be­ginn gab der die Rolle David Hemmings. Aber das alles ist natürlich »just gossip.« Und wo wir beim Klatsch sind: Wussten wir, dass Cary Grant einmal eine Affaire mit Sophia Loren hatte? Sie hat ihn erstaun­li­cher­weise verlassen weil sie Carlo Ponti heiraten wollte. Viel­leicht auch, weil Grant noch verhei­ratet war. Neulich habe ich Hausboot wieder­ge­sehen, aller­dings nur auf DVD. Das hätte man auch lassen können, so unglaub­lich schlecht ist der Film gealtert. Selbst als erklärter Cary-Grant-Fan ist das schwer erträg­lich, allen­falls inter­es­sant, weil er eine Menge über das Italie­ner­bild Amerika verrät.

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In Berlin und München, viel­leicht noch der einen oder anderen kleineren Stadt ist man ja in punkto Kino eini­ger­maßen gut bedient. Natürlich gibt es immer Grund, zu meckern, aber seien wir ehrlich: Wer kann schon alles das gucken, was man sich eigent­lich ansehen müsste und wollte? Trotzdem führt das Herum­streunen im Internet immer wieder zu Entde­ckungen, die neidisch machen: In Zürich läuft im Kino Xenix gerade eine wirklich inter­es­sante Retro­spek­tive: Zum Werk von Jerzey Skoli­mowski, dem coolsten, aber auch unbe­kann­testen polni­schen Filme­ma­cher Skoli­mowski ist der Agnos­tiker neben den Heiligen Drei Königen des polni­schen Kinos Waijda, Kies­lowski und Polanski. Wer beim letzten Filmfest die restau­rierte Fassung von dem in München gedrehten Deep End oder seinen letzten, 2010 in Venedig urauf­ge­führten Film Essential Killing gesehen hat, konnte sich selbst über­zeugen. Und auch wer es nicht schafft, sollte den ziemlich schönen, auch inter­es­santen Text [http://www.xenix.ch/programm/zyklus/-/id/436] lesen, den Barbara Wurm über sein Werk geschrieben hat.

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Über­le­gung. Bei der Betrach­tung eines viel­ge­lobten deutschen Films: Die Krankheit deutscher Dreh­bücher ist das, was in den Dreh­buch­schulen »Moti­va­tion« genannt wird. Diese hat persön­lich zu sein, jeden­falls bei Haupt­fi­guren, und darum sind Politik und Moral oder gar Ästhetik nie zurei­chende Moti­va­tionen für die Handlung von Figuren. Deswegen ist jeder deutsche Film – Ausnahmen bestä­tigen die Regel – im Kern ein Melodram.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.