16.01.2012
Cinema Moralia – Folge 44

Feuchte Höschen beim ZDF

Amer
Amer von Hélène Cattets und Bruno Forzani
(Foto: Koch Media / Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Gute Unterhaltung, ein wirklich toller Film, warum Ziemlich beste Freunde Gift fürs Kino ist, und die Oscars – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 44. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Gute Unter­hal­tung!« wünscht die unbe­fan­gene Ansagerin vor der Vorfüh­rung beim Film­fes­tival von Saar­brü­cken (nächste Woche mehr darüber). Sie meint es sicher gut. Bloß, dass dann gleich drei Kurzfilme kommen über Krieg und über trau­ma­ti­sierte Bundes­wehr­sol­daten. Und dann denkt man doch nicht nur, was für eine doofe Mode­ra­torin, die besser mal darüber nach­ge­dacht hätte, was sie da moderiert, sondern man denkt noch etwas anderes: Warum eigent­lich? Warum muss es immer Unter­hal­tung sein, die uns verspro­chen wird, wo doch das Kino ganz andere Dinge verspricht? Bessere Dinge, die man erlebt, wenn man diese Woche in Filme wie Drive geht, und auch The Artist, und zum Beispiel in Amer.

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Ein Auge. Drei Augen. Eine gleißende Sonne. Wie ein Skalpell zerteilt der Split­screen das Bild in drei. Ein Skalpell wird in diesem Psycho­thriller später noch eine zentrale Rolle spielen... Hélène Cattets und Bruno Forzanis Film Amer, der in Frank­reich entstand, aber eher eine Hommage an die Erzähl­sprache des italie­ni­schen B-Movies der 70er-Jahre ist, reiht Urszenen des Kinos anein­ander: Das Auge und das Skalpell; ein kleines Mädchen in einem großen Haus, nachts, mit einem Kerzen­licht; Blicke durch Türen, um die Ecken; Angst, und Erin­ne­rung. Dieser Tryp­ti­chon um eine erwach­sene Frau, die an den Ort zurück­kommt, an dem sie einst dem größten Schrecken ausge­setzt war, ist eine Fabel, die von Poe oder Baude­laire sein könnte, eine Traum­no­velle mit Gothic-Elementen. Amer strahlt etwas ganz Unzeit­ge­mäßes aus, entfaltet aber gerade damit größt­mög­liche Wirkung: Es erinnert uns an das verlorene Kino, das nur noch in unserem Unter­be­wusst­sein haust, in dem eigenen dunklen Begehren, das uns ins Kino treibt. Ein Film also über Schaulust und Feti­schismus, der diese selbst bedient. Eine Liebes­er­klärung mit der Kamera. Tolles Kino!

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Ganz im Gegensatz zu Offroad. Nora Tschirner im deutschen Kino – das ist, wenn man kein Kein­ohr­hasen-Fan ist, immer noch ein unein­gelöstes Verspre­chen. Ihre Fähig­keiten und ihre Wirkung stehen außer Zweifel, sie macht jeden Film besser, in dem sie mitspielt, aber bisher spielt sie eben auch nur in Filmen mit, die das bitter nötig haben. Man möchte Elmar Fischers zweiten Spielfilm mögen, schon weil hier ein Regisseur versucht, einen passablen Genrefilm zu drehen. Das misslingt aber leider sofort, weil der Krimi mit einer deutschen Bezie­hungs­komödie kombi­niert wird: Die von Tschirner gespielte Maike hat ein lang­wei­liges Leben, dem sie gern entfliehen möchte. Dazu rafft sie sich aber erst auf, als sie ihr Freund betrügt. Nach ein paar konstru­ierten Wendungen hat sie ihr Provinz­kaff gegen die Wüste und den Lang­wei­liger gegen einen attrak­tiven Südländer getauscht und wird von Gangstern gejagt. Wäre alles noch akzep­tabel, hätte es Charme und wäre nicht so ungemein bieder, vorher­sehbar und über­flüssig. Und Darsteller wie Max von Pufendorf, Leslie Malton und Axel Milberg haben auf der Kino­lein­wand rein gar nichts verloren. So bleibt nur die Hoffnung, dass sich Nora Tschirner endlich ein guter Regisseur wie Dominik Graf oder Christian Petzold erbarmt, und sie aus der Hölle des deutschen Quatsch­films erlöst.

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Bei den Franzosen ist es besser. Wenigs­tens ein bisschen: Ziemlich beste Freunde sind die zwei Elfjäh­rigen, bei deren Eltern­ver­samm­lung sich der allein­er­zie­hende Vater des einen, und die Mutter des anderen kennen lernen: Zuerst mögen sie sich gar nicht, kein Wunder, ist Agathe doch eine kühle Gale­ristin, die im Pariser »rive gauche« ein bourgois ausge­pols­tertes Leben in der Künst­ler­bohème führt, Patrick dagegen, ein versof­fener Ex-Sträfling ohne Manieren und Geschmack, dafür, wie sich heraus­stellt mit Quali­täten im Bett, die Agathes allzu nach­sich­tigem Mann, dem Verleger Francois (von André Dussolier voller Güte gespielt) offenbar abgehen. Und dass die beiden irgend­wann im Bett landen, ist von Anfang an so sicher wie das Amen in der Kirche. Diese Verläss­lich­keit der Drama­turgie erinnert an klas­si­sche Komödien, wie auch die Screwball-Qualität mancher Dialoge. Denn vor das Bett hat der Komö­di­en­gott den Wortkrieg gesetzt. Isabelle Huppert spielt die Agathe mit einer kontrol­lierten Dosis Katherine Hepburn. Und die Huppert wieder einmal in einer Komödie zu sehen, ist ein leider zu seltenes Glück. Regis­seurin (und Ex-Schau­spie­lerin) Anne Fontaine insze­niert Mon pire cauchemar souverän, aber wie ihre Hollywood-Vorbilder nicht ohne Klischees, die dort, wo es um Lebens­phi­lo­so­phie und ums Frau­en­bild gilt, erkennbar ins Konser­va­tive verrut­schen; am Ärger­lichsten: Frauen werden durch Intel­li­genz und beruf­li­chen Erfolg offenbar kalt und frigide. Da muss dann schon das daher­kommen, was man so einen »richtigen Mann« nennt. Ansonsten hat zu diesem Film die bemer­kens­werte Lida Bach in ihrer Kritik bei »negativ« alles geschrieben und ganz recht. Sie hat nur, in diesem Fall, ein weniger großes Herz, als ich.

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Wozu uns dann folgender Dialog­satz aus Under­world 3D einfällt, der nächste Woche ins Kino kommt: »My heart is not cold. It’s broken.«

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Jetzt bekommen wieder alle feuchte Höschen: »Oscar­chancen für das ZDF«! titelt die Pres­se­mit­tei­lung. Man möcht’s nicht glauben. Aber natürlich ist auch das ZDF an Pina beteiligt, und darum muss es eine eigene Pres­se­mit­tei­lung heraus­bre­zeln. So wie gefühlte 50 andere Insti­tu­tionen, die nichts Besseres zu tun haben, als im Minu­ten­takt Oscar-Pres­se­mit­tei­lungen zu verschi­cken. Mit viel zu großen Anhängen und mäßigem Unter­hal­tungs­wert. Besonders gefallen hat uns da die Pres­se­mit­tei­lung der HFF-München: »HFF-Absolvent Wim Wenders für den Oscar nominiert«. Einen Moment dachten wir, für den Studen­ten­oscar. Aber dann werden wir aufge­klärt: »Wim Wenders studierte von 1967 bis 1970 an der HFF München« Und weiter: »München, 24. Januar 2012 – Der Absolvent der Hoch­schule für Fernsehen und Film (HFF) München Wim Wenders ist mit seinem Film Pina für den Oscar in der Kategorie Bester Doku­men­tar­film nominiert. Die Academy Awards werden am 26. Februar zum 84. Mal vergeben. ... Wenders war bereits im Jahr 2000 mit seinem Film Buena Vista Social Club für den Oscar in der Kategorie Bester Doku­men­tar­film nominiert. Am vergan­genen Freitag wurde er beim Baye­ri­schen Filmpreis mit dem Ehren­preis des Minis­ter­prä­si­denten ausge­zeichnet.«

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Alle lieben Ziemlich beste Freunde, 20 Millionen Franzosen können nicht irren, und wer nicht mitliebt, ist ein schlechter Mensch. Ok, ok. Was an dem Film aber zumindest nervt, ist dass alle immer betonen müssen, WIE toll und liebens­wert der Film ist, und überhaupt. Und dass dauernd Unbe­ru­fene, also keine Film­kri­tiker, sondern das verdammte normale Publikum in Gestalt verdammt normaler Promis das auch noch vers­tärken müssen. Ausnahms­weise ist es jetzt mal nicht Amelie Fried, sondern Best­sel­ler­autor Jan Weiler, was auch nicht besser ist, zumal Weiler dann popu­lis­tisch so einsteigt: »Endlich mal wieder im Kino gewesen. Wir sahen Ziemlich beste Freunde an und fühlten uns gut unter­halten.« und mit dem immerhin seriösen Vorwurf des Rassismus so umgeht: »In dem Film, den ich gesehen habe, gingen so ziemlich alle Pointen auf Kosten des weißen Behin­derten und seiner spießigen Umgebung.«

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Wer wissen will, was an dem Film aber vor allem blöd ist, der sollte sich mal mit Produ­zenten und Verlei­hern von halbwegs anspruchs­vollen Filmen, von soge­nanntem Arthouse- und Kunstkino unter­halten. Die erklären einem nämlich, dass die Kino­be­treiber, eigent­lich keinen anderen Film mehr spielen wollen, als diesen noch wochen­lang rauf und runter. Und das darum jeder andere Film, der nicht von Hollywood stammt, in den nächsten Wochen große Probleme hat, gute Kinos und damit Zuschauer zu finden. Ziemlich beste Freunde müllt, mit anderen Worten, die Kinos voll.

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Eine ambi­va­lente Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. Das nicht immer der Erwach­sene der Verführer sein muss, mag manche provo­zieren, wirkt in Marco Bergers Film aber alles andere als unrea­lis­tisch. Was beginnt wie eine schwule Variante des Lolita-Motivs wird zum Psycho­thriller. Sebastián ist ein Lehrer, der einfach etwas sensibler is, als andere, und sich daher besonders um seine Schüler kümmert. Aus irgend­einem Grund weckt er Martins Interesse, und der benutzt auch ziemlich unfaire Mittel, um den Lehrer für sich zu gewinnen – obwohl der eigent­lich glücklich verlobt ist. So ist Ausente keines­wegs eine Love-Story, sondern das Portrait eines zu passiven Mannes, und eine Darstel­lung der viel­schich­tigen Bedrohung, die Homo­se­xua­lität in einer latein­ame­ri­ka­ni­schen Macho-Gesell­schaft bedeutet. Von Martin, dem Stalker, erfährt man zuwenig, um sich wirklich für ihn zu inter­es­sieren. Er ist »ausente«, abwesend.

Ausspa­rungen prägen auch das »nuevo cine argentino«, die aktuelle Bewegung des argen­ti­ni­schen Autoren­kinos, der Berger zuzu­rechnen ist. Die Atmo­sphäre ist wichtiger als die Story und so überzeugt Ausente vor allem als exis­ten­zia­lis­ti­sches Drama.

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Anne Sewitskys zweiter Spielfilm Anne liebt Philipp ist zwar ein Kinder­film, aber da er aus Norwegen stammt, werden sich auch erwach­sene Begleiter hier nie lang­weilen. Der Plot steckt im Titel, entschei­dend ist wie bei allen guten Filmen das Wie: Mit schnellem Schnitt, virtuoser Kamera und groß­ar­tigen Kinder­dar­stel­lern wird alles aus der Perspek­tive der Haupt­figur Anne erzählt, einer unge­wöhn­lich wachsamen und eigen­sin­nigen Zehn­jäh­rigen, die aber auch manche Dummheit macht, die sie selbst später am meisten bereut. Mit bösem Witz wird die Erwach­se­nen­welt aus Kinder­sicht geschil­dert. Falls man es vergaß, wird man erinnert, wie gemein Kinder zuein­ander sein können, und daran, wie das die Erwach­senen nie verstehen können. Wunderbar an dieser Geschichte vom ersten Verliebt-sein ist, dass sich keines der Kinder so brav und politisch korrekt benimmt, wie neuer­dings in vielen deutschen Kinder­büchern und -filmen: Man darf alles essen, rote Haare doof finden und muss sich nicht um die Umwelt kümmern. In seiner anti­pu­ri­ta­ni­schen Grund­hal­tung offenbart sich die Herkunft des Stoffes nach Vigdis Hjorts erfolg­rei­cher Buch­vor­lage aus den frühen 80er Jahren. Über­flüssig sind nur ein paar Klischees, wie die, dass das Kinder-Model auch die Doofe sein muss. Und die Synchro­ni­sa­tion ist, wie leider oft, ziemlich blöd.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.