06.12.2012
Cinema Moralia – Folge 53

Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine...

Herr der Ringe
Der Gollum: Hat er Angst vor uns,
oder Warner Bros. vor ihm?
(Foto: Warner Bros. Entertainment GmbH)

Viel geben, wenig nehmen: Das Doppelgesicht des deutschen Films, Boxen und schlechte Vorahnungen für The Hobbit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 53. Folge

Von Rüdiger Suchsland

An der Berliner Volks­bühne, dem film­freund­lichsten Theater der Haupt­stadt, wehen nicht nur rote Fahnen, was besonders Münchner Besucher immer merk­würdig anmutet, immer noch gibt es dort auch Menschen, die noch von früheren Tagen erzählen können. Die sympa­thischste ist Elke. Sie erzählt vom »Umbruch«, der Volks­bühnen-Zeit vor 22 Jahren, als Frank Castorf den Laden übernahm. Eines morgens kam sie ins Vorzimmer des neuen Chefs. Zigar­ren­ge­ruch, Whis­key­duft im Raum. Plötzlich geht die Tür auf, drei nackte Mädchen kommen raus, fragen Elke, wo denn hier die Toilette sei? »Jetzt wusste ich: Andere Zeiten haben ange­fangen.«

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Gestern zufällig spät­nachts auf 3sat: Dr. Jekyll und Mr. Hyde, auf deutsch »Arzt und Dämon« von 1941. Regie in dieser Stevenson-Verfil­mung führte Victor Fleming, der in den Jahren zuvor mit The Wizard of Oz und Gone with the Wind den Gipfel­punkt seines Schaffens erlebt hatte. Nun hatte er noch acht Jahre und vier schlech­tere Filme zu leben. Dieser aber ist ziemlich gut: Surreale Phan­ta­sien, durch­ge­knalltes Drogen­rausch­kino in Schwarz­weiß, und eine sehr psycho­ana­ly­ti­sche, fast ratio­na­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tion der Vorlage. Spencer Tracy spielt die Doppel­rolle, viel eindrucks­voller aber sind die beiden Frauen, in die sich die Hälften dieser gespal­tenen Persön­lich­keit verlieben: Ingrid Bergman, vulgär ange­haucht, und eine gerade 20-jährige Lana Turner, die ihr einmal wenigs­tens die Schau stiehlt. Toller Film, erst recht aber nicht nur um 3 Uhr nachts.

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Ein Doppel­ge­sicht hat auch der deutsche Film, gerade 2012. Morgen gibt es beim von Münchner-Filmfest-Programmer Bernhard Karl voller Herz und Passion und mit viel Intel­li­genz im siebten Jahr gemachten Festival »Around the World in 14 Films« im Berliner Babylon, direkt gegenüber der Volks­bühne, wieder die tradi­tio­nelle Jahres­bi­lanz des deutschen Films. Wir reden da, hoffent­lich mit einem Vertreter der Deutschen Film­aka­demie, streiten viel­leicht auch, aber bestimmt freund­schaft­lich. Am Jekyll-Hyde-haften Erschei­nungs­bild gibt es aber nichts zu rütteln. Die erfolg­reichsten deutschen (Kunst-)Filme sind wohl Anonymous und Cloud Atlas, der beste ist Oh Boy, der in seiner Klugheit und Sensi­bi­lität, seinem Mut und seiner Wahr­haf­tig­keit noch gar nicht genug gewürdigt wurde.
Ansonsten geht den Zahlen nach wieder alles bergauf. Von den Grenzen des Wachstums, von Nach­hal­tig­keit hört man im neurei­chen Film­busi­ness noch immer zu wenig.

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A propos: Das Desaster für Cloud Atlas spiegelt sich am besten im Vergleich mit Oh Boy. Gleiche Firma, gleicher Verleih. Mit weniger als einem Zehntel der Kopien hat Oh Boy fast genau­so­viel Zuschauer pro Kopie.

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Die »besten« – sprich: kassen­er­folg­reichsten – deutschen Filme des Jahres sind Türkisch für Anfänger und Rubbel­die­katz. Die Leute haben das Kino, dass sie verdienen.

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Für eine Münchner Veran­stal­tung an diesem Wochen­ende – leider exklusiv – schreibe ich ein Statement zum Sujet »Bega­bungen erkennen, Bega­bungen fördern«: Bega­bungen zu erkennen ist schwer. Wenn es glücken soll, braucht man dafür nicht nur Kennt­nisse, sondern auch Mut, den Mut zur Subjek­ti­vität und zum Irrtum – und Diskus­sions- und Streit­kultur, ein Klima, das Subjek­ti­vität und Irrtum auch zuläßt, ja: wünscht. Weil nur aus Freiheit etwas entstehen kann, das dauerhaft von Belang ist.
Die diversen Facetten der Begabung, also Formen der Indi­vi­dua­lität auch zu fördern und zuzu­lassen, ist im Grunde leicht: Aufgabe einer Hoch­schule, erst recht einer künst­le­ri­schen, ist es in meinem Vers­tändnis, Frei­heits­räume für indi­vi­du­elle Bega­bungen zu schaffen, und diese Bega­bungen dann in die richtigen Bahnen zu lenken. Das ist nicht nur, aber auch eine Frage des Geldes. Denn es geht um Wert­schät­zung und Aufmerk­sam­keit, und Geld ist in unserer Gesell­schaft auch Indikator der Wert­schät­zung, die wir einer Sache entge­gen­bringen.
Den wirklich schweren Part haben die Förderer – Hoch­schul­lehrer, Film­för­derer, Redak­teure in den Sendern –, denn sie müssen immer wieder die Fähigkeit haben, zu erkennen, wo jemand begabter ist, als sie selbst. Und die Größe, das dann auch zuzu­lassen.
Wer kann schon von sich sagen, dass er hier immer alles richtig macht?

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Wahr­schein­lich ist das zu pathe­tisch. Aber wenigs­tens ehrlich.

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Viel geben, wenig nehmen – was für Boxer richtig ist, ist falsch für Film­pro­du­zenten, wie für ihre Förderer. Das dachte ich am letzten Frei­tag­abend. Da war ich beim »Kiezboxen« im »Festsaal Kreuzberg«. Hier wird noch geboxt »wie früher«, was man in München schon seit Jahren nicht mehr tut. Eine durchaus künst­le­ri­sche Tätigkeit, auch wenn man sich nicht mehr an den Satz aus den Tagen Siegfried Kracauers erinnert: »Dichter sollen boxen.« Orga­ni­siert wird das Ganze von einer Regis­seurin, zwischen den Reihen lernt man auch ihre Cousine kennen, die prak­ti­scher­weise für die EU-Film­för­der­behörden tätig ist. Eine eindrucks­volle, trotzdem auch merk­wür­dige Veran­stal­tung: Weimar pur, krasse german whiteness, erst die Boxer sind Migranten – und dann aber alle. Brecht meets Jünger, das neue Berlin tanzt den Schmeling. Man könnte auch titeln: Faschismus mit mensch­li­chem Antlitz, aber da klänge doch zu negativ, allemal aber ist das Männer­me­lan­cholie, Käptn Blaubeer und Rammstein mit Akkordeon. Also unbedingt eindrucks­voller und bewe­gender als die aller­meisten deutschen Filme, aber doch recht humorlos. In England, denke ich, wär’s viel lustiger, auch selbst­iro­ni­scher. Hier singt man Azurro, aber viel zu langsam.
Dann wird geprügelt, für Ehre und 100 Euro, sieben Kämpfe, ein K.O., ein gescho­bener, aber weil ein Ersatz­mann einspringen musste, denn der ursprüng­liche Kämpfer hatte offenbar gekniffen.

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Man muss entsetz­liche Angst haben im Hause Warner Bros., den neuen Peter-Jackson-Tolkien-Film The Hobbit der Presse zu zeigen. Erst ab kommenden Montag, drei Tage vor dem Start, gibt es die ersten Pres­se­vor­füh­rungen. In München und Berlin, wo mit Abstand die meisten Freien leben, ist er als aller­letztes angesetzt, in Berlin erst am Diens­tag­abend – auch keine sehr glück­liche Entschei­dung des Verleihs, und jeden­falls nicht gerade mitge­dacht, egal, wer und was am Ende daran Schuld trägt. Denn im Ergebnis kann kein Kollege in Berlin vor Mittwoch einen Beitrag produ­zieren, schon gar keinen Radio­bei­trag, und auch dann muss man erst mal ein freies Studio bekommen.
Die offi­zi­elle Begrün­dung für all dies ist »die späte Fertig­stel­lung« und »die neue HFR Technik«. Na dann? Aber da die Vorfüh­rungen so spät angesetzt sind, drängt sich doch der Verdacht auf, es gehe vor allem darum, die Pres­se­be­richte auf den Starttag zu ballen, und wenig Zeitraum zu lassen, in der sich schlechtes »Word of Mouth« entwi­ckeln kann. Der Film muss so wirklich schlecht sein, wenn man das nötig hat. Der Eindruck wird verstärkt dadurch, dass die für mich in Berlin zustän­dige Pres­se­agentur auch nach einer Woche nicht in der Lage, besser vermut­lich: nicht willens ist, mir den zustän­digen Ansprech­partner beim Verleih zu nennen.
Also eher eine Pres­se­ver­hin­de­rungs­agentur.

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Aus dem Alltag der PR-Gesell­schaft: Es sagt schon viel aus, wie unter­schied­lich trans­pa­rent die Agenturen mit sich selber umgehen. Ein positives Beispiel ist etwa die Website von Just Publicity, denen bestimmt keiner mangelnde Profes­sio­na­lität nachsagen würde. Jede Mitar­bei­terin ist dort nament­lich mit Foto und CV aufge­führt, sowie fast immer eine persön­liche Mail­an­schrift verlinkt. Es muss also nicht immer alles über die Chefs gehen. Bei anderen Agenturen stehen aber nur die – also ob da keiner sonst arbeiten würde. Wenn sich eine Pres­se­agentur aller­dings schon das Motto »Creating Culture« anheftet... Dann zeigt das die Haltung: Selb­stü­ber­schät­zung pur. Wie schrieb Brecht über solche Leute: »Wer baute das sieben­to­rige Theben?/ In den Büchern stehen die Namen von Königen./ Haben die Könige die Fels­bro­cken herbei­ge­schleppt?«

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.