66. Filmfestspiele Cannes 2013
Poesie, Psychoanlyse und andere Krankheiten |
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Der Film zu Cannes: Seduced and Abandoned von James Toback und Alec Baldwin |
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(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
Von Dieter Wieczorek
Der Presseansturm auf den US-amerikanischen Film Inside Llewyn Davis der Coen Brüder war nach der ersten Durstrecke in Cannes leicht nachzuvollziehen. Die Erwartung eines hohen technischen Niveaus wurde nicht enttäuscht. Darüber hinaus besticht das Werk durch seine szenischen Unvorhersehbarkeit. Im Mittelpunkt steht der gestresste, um sein materielles Überleben kämpfende Sänger und Gitarist Llewyn Davis. Sein Repertoire besteht vorwiegend aus existenziellen, komplexen und poetischen Songs. Verseichenden Kompromisse oder der Mainstream Folk sind keine Option für ihn. Von seiner schwangeren Freundin verstoßen, von Managern vernachlässigt und Kollegen missachtet, hastet er von einer Schwierigkeit zur nächsten. Ethan und Joel Coen bieten kein Happy End, bestenfalls ein offenes. Eine Stärke ihres Werkes ist der verspielte Figurenset, der die Groteske nicht scheut und doch einen Realismus treu bleibt. Die Gestaltung der anhaltenden, angespannten Ausgeliefertheit und Degradierung wird durch immer wieder heitere Sequenzen in Balance gehalten.
In origineller Weise vermischt findet sich ethnologisches Wissen und psychoanalytische Praxis im französischen Wettbewerbsbeitrag Jimmy P. Psychotherapy of Plains Indian von Arnaud Desplechin. Ein verspielter und lebenslustiger Psychoanalytiker – hervorragend dargeboten von dem sich hier für den Schauspielpreis empfehlenden Mathieu Amalric – versucht seine in den Staaten nicht anerkannte Therapieform an einem im kriegtraumatisierten indianischer Herkunft unter Beweis zu stellen, sein einziger Patient, seine einzige Chance. Gewiss wird Psychoanalyse bei Desplechin wieder einmal zum Detektivspiel reduziert. Doch die Dialogsequenzen halten zumindest eine permanente Entdeckungsspannung wach. Situiert ist das Werk in den USA am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Begegnung zwischen dem jungen Gelehrten, der gegen Ignoranz ankämpft und dem entwurzelten, degradierten Mann, der seine Kraft und Würde zurück zu gewinnen sucht, macht den Film sehenswert. Eine kinematographische Besonderheit lässt er jedoch vermissen.
Auf die Frage, wo in der aktuellen Filmindustrie der Wurm steckt, antworten Autoritäten wie Roman Polanski, Bernado Bertolucci, Francis Coppola, Martin Scorsese, Diane Kruger u.a. in dem Dokumentarfilm Seduced and Abandoned von James Toback (USA). Alle sind sich einig: Die großen, visionären, eigenständigen und eigenartigen Filme haben heute kaum noch eine Chance auf Realisierung. Es gibt keine einzelgängerischen Produzenten mehr, die ihrer eigenen Version folgen. Filme entstehen heute in Produzentenkartellen als Mischfinanzierung, wo sich originelle Filmideen schnell verwässern. Werke wie Bertolucchis Der letzte Tango fänden heute schlicht keine Produktionsmittel mehr. Einige der einflussreichsten Produzenten kommen zu Wort, die offen zugestehen, keine Drehbücher mehr zu lesen, dagegen ihr mögliches Budget allein am Marktwert der auftretenden Schauspieler zu kalkulieren.
Die Befragungsstrategie des Dokumentarteams James Toback und Alec Baldwin ist, den Produzenten ein virtuelles Filmprojekt schmackhaft zu machen: Zwei traumatisierte amerikanische Soldaten treffen sich zu befremdlichen Sex. Über dieses Konzept finden dann ernsthafte Diskussionen statt mit verschiedenen nationalen Filmkommissionen und selbständigen Produzenten. Und in der Tat... die Zusagen kommen. Hier könnte ohne große Schwierigkeiten Geld fließen, bis zu fünf Millionen Dollar, vielleicht mehr, da die Schauspielernamen hinreichend Erfolg versprechen. Auch der Festivalleiters Cannes, Thierry Fremeaux, kommt zu Wort. Er verteidigt die große Show um die teuren Filme auch als Protektion der kleineren und unabhängigeren Werke. Doch die Frage bleibt offen, ob man die großen nichtssagenden Filme und den Schauspielglamour wirklich braucht, um eine Filmkunst am Leben zu erhalten, die mit sehr viel weniger Mittel auskommt und nicht von Schauspielerpräsenzen abhängig ist, da sie der Originalität eines Konzepts folgt und Ideen der Bildgestaltung und Sounds in den Vordergrund stellt. Tobacks Werk gewinnt am Ende noch an Intensität. Nahezu allen aufgetretenen Schlüsselfiguren stellt er die schließlich die Frage, wie sie ihrem eigenen Tod entgegensehen. Die Antworten können unterschiedlicher nicht ausfallen.