Cinema Moralia – Folge 64
Tage des Zorns |
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Innenansicht des Emek-Kinos, Istanbul |
»Der Aufstand beginnt als Spaziergang.«
Heiner Müller
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»Emek bisim, Istanbul bisim!« – so ging es los, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen. Als vor acht Wochen in Istanbul das Emek-Kino, eines der schönsten und ältesten Kinos der Stadt, abgerissen werden sollte, unbedachterweise während des Internationalen Filmfestivals, gab es laute Proteste. Sie mündeten in zwei große Demonstrationen, an denen auch berühmte Gäste des Festivals teilnahmen, wie etwa Costa-Gavras. Über 1000 Menschen demonstrierten. Von der Polizei gab es Pfefferspray und Tränengas, noch nicht, wie jetzt CS-Gas. Es gab Wasserwerfer und Prügel mit Knüppeln. Es gab also zumindest einen ganz zarten Vorschein dessen, was seit über zwei Wochen jetzt in Istanbul los ist.
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Mit einem Kino hat alles begonnen. Und dieses Kino war die Anstrengung fraglos wert. Über Jahrzehnte war es »das« Festivalkino, ein festlicher Ort, ohne Zuckerbäckerromantik, aber erfüllt vom Charme der alten Zeiten mit seiner feierlichen Atmosphäre, seinem marmornen Vorraum, seiner prächtigen Bühne. Der Bauherr, ein Spekulationsunternehmen, dass auch in Deutschland Shopping-Malls baut, und dort ebenfalls, als ob es nicht genug gäbe, statt des Kinos ein weiteres straßenblockgroßes Kaufhaus errichten will, sprach schönfärberisch von »Umbau« – statt Abriss. Irgendwann trat Attila Dorsay, Doyen der türkischen Filmkritik, aus Protest zurück. Und bekam daraufhin sofort Angebote von den Bauherren zu Gesprächen. Es gab einen Baustopp. Wer könnte und würde bei uns eine solche Rolle spielen?
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»Emek«-Kino heißt »Arbeiter«-Kino. Abgerissen wurde es dann natürlich doch, ein paar Wochen nach dem Festival. Und machen wir uns nichts vor: Was da in der Türkei gerade passiert, ist ein Zerstörungsunternehmen. Es geht Premierminister Erdogan seit Jahren darum, die türkische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu zerstören, abzurechnen mit dem Laizismus, mit dem französisch vorgeformten Republikanismus Atatürks. Machen wir uns nichts vor: Es geht Erdogan um ein Roll-Back, um eine Revolution von Rechts. Und machen wir uns auch sonst nichts vor: Die Zerstörung des Emek, das geplante Abriß des Kulturzentrums und die Verwandkung eines Parks in eine Shopping-Kaserne hängt zusammen mit der gerade bekannt gegebenen Zerstörung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Griechenland – als ob man durch das Ende der Nachrichten den Haushalt sanieren könnte. Das hängt auch zusammen mit den völlig überproportionalen Protesten gegen die gleichgeschlechtlichen Ehen in Frankreich – der ja nichts anderes war, als ein Protest gegen die Grundlagen, gegen die »Raison d’être« der Fünften Republik, ein gefährliches Verhalten – und man könnte hier andere Beispiele nennen – das uns zurückführt in Zustände, die wir aus den Dreißiger Jahren kennen. Ein Regime der »Sachzwänge« und ein schlechter, schmutziger Pragmatismus verbünden sich mit medienangeheiztem Populismus, während die republikanischen Ideale, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte zu rhetorischen Floskeln verkommen.
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»Die Dekoration ist ein Denkmal. Es stellt in hundertfacher Vergrößerung einen Mann dar, der Geschichte gemacht hat. Die Versteinerung einer Hoffnung. Sein Name ist auswechselbar. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Das Denkmal liegt am Boden, geschleift drei Jahre nach dem Staatsbegräbnis des Gehaßten und Verehrten von seinen Nachfolgern in der Macht. Der Stein ist bewohnt. In dem geräumigen Nasen- und Ohrenlöchern, Haut- und Uniformfalten des zertrümmerten Standbilds
haust die ärmere Bevölkerung der Metropole. Auf den Sturz den Denkmals folgt nach einer angemessenen Zeit der Aufstand. Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstandes statt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Straße gehört den Fußgängern. Hier und da wird ein Auto umgeworfen ... Polizisten, wenn sie im Weg stehen, werden an den Straßenrand gespült. Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel
nähert, kommt er an einem Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlecht sitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden. Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei drei Gebäude, ein Gefängnis eine
Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei, hängt ein Dutzend Handlanger der Macht an den Füßen auf, die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß.«
Heiner Müller,
»Hamletmaschine«
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Anlässlich der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der osmanischen Kaserne im Gezi-Park erklärte der Kulturstaatsminister: »Der Wiederaufbau der osmanischen Kaserne – das bedeutendste Kulturvorhaben der Türkei – wird Istanbul seine historische Mitte zurückgeben. Während das Äußere der Kaserne an die klassische arabeske Baukultur des osmanischen Reichs anknüpft, wird das Innere ein neues Kulturwarenzentrum beherbergen und sich mit der Präsentation außereuropäischer Kulturen dem interkulturellen Dialog öffnen. Mit der heutigen Grundsteinlegung wird die Realisierung dieses großen Kulturvorhabens nun endlich für alle sichtbar.«
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Da stimmt doch was nicht – genau: Das war nämlich eigentlich die Pressemitteilung des Kanzleramts aus Anlass der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau des alten Preußischen Stadtschlosses, in der wir nur ein paar Worte ausgetauscht haben. So unterschiedlich sind die Verhältnisse nämlich gar nicht: Unser osmanisches Reich ist nämlich Preußen, unser Gezi-Park das Stadtschloss. Mit dem Unterschied, dass in der Türkei die Polizei noch so vollidiotisch herumdrischt und verhaftet wie bei uns seinerzeit an der Startbahn-West oder in Wackersdorf. Oder beim »Münchner Kessel« falls sich noch jemand erinnert. Aber die Türkei ist uns noch viel näher – oder was war mit »Stuttgart 21«?
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Der Hamburger Regisseur Fatih Akin hat zu all dem am Wochenende einen offenen Brief an den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül formuliert. Darin heißt es:
»An den Staatspräsidenten der Republik Türkei.
Sehr geehrter Herr Gül,
ich schreibe Ihnen, um Sie über die Ereignisse vom Samstagabend zu informieren, da die türkischen Medien kaum bis gar nicht darüber berichtet haben.
Samstagabend wurden in Istanbul erneut hunderte von Zivilisten durch Polizeigewalt
verletzt. Ein 14-jähriger Jugendlicher wurde von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen und hat Gehirnblutungen erlitten. Er ist nach einer Operation in ein künstliches Koma versetzt worden und schwebt in Lebensgefahr.
Freiwillige Ärzte, die verletzten Demonstranten helfen wollten, wurden wegen Terrorverdacht festgenommen. Provisorische Lazarette wurden mit Tränengas beschossen.
Anwälte, die gerufen wurden, festgenommene Demonstranten zu verteidigen, wurden
ebenfalls festgenommen.
Die Polizei feuerte Tränengaspatronen in geschlossene Räume, in denen sich Kinder aufgehalten haben.
Die bedrohten und eingeschüchterten türkischen Nachrichtensender zeigten währenddessen belanglose Dokumentarfilme. Diejenigen, die versuchen über die Ereignisse zu berichten, werden mit hohen Geldstrafen und anderen Mitteln versucht, zum Schweigen zu bringen.
Eine Trauerfeier für Ethem Sarisülük, der bei den Demonstrationen ums Leben
gekommen ist, wurde verboten!
Stattdessen darf ein Staatssekretär hervortreten und alle Demonstranten, die am Taksim Platz erschienen sind, als Terroristen bezeichnen.
Und Sie, verehrter Staatspräsident, Sie schweigen!
Vor zehn Jahren sind Sie und Ihre Partei mit dem Versprechen angetreten, sich für die Grund- und Bürgerrechte eines jeden in der Türkei einzusetzen.
Ich möchte nicht glauben, dass Sie sich um der Macht wegen von Ihrem Gewissen verabschiedet haben. Ich
appelliere an Ihr Gewissen: Stoppen Sie diesen Irrsinn!
Fatih Akin«
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Hier auch die türkische Version des offenen Briefes:
»Sayin Cumhurbaskanim,
Belki duymamissinizdir diye dusunerek yaziyorum.
Dun aksam saatlerinde yeniden baslayan polis siddeti sonucunda yuzlerce insan yaralanmistir.
14 yasinda bir cocuk, polisin attigi biber gazi mermisiyle beyin kanamasi gecirdi. Ameliyatin ardindan simdi uyutuluyor. Hayati tehlikesi yuksek.
Yaralilara yardim etmek isteyen gonullu doktorlar, terorist diye gozaltina aliniyor. Revirlere gaz
bombalariyla saldiriliyor.
Gozaltina alinanlarin haklarini savunmak isteyen avukatlar gozaltina aliniyor.
Polis, kapali alanlarda gaz bombasi kullaniyor. Bu yetmezmis gibi, insanlarin kendilerini korumak için taktigi basit gaz maskelerini cikarttiriyor. Sularina el koyuyor.
Tehdit ve gozdagiyla susturulan medya, belgesel yayinlamaya devam ediyor.
Gercekleri gostermeye calisanlar agir para cezalari ve baskilarla susturulmaya calisiliyor.
Milletvekilleri
de polis siddetinden payina duseni aliyor.
Gosterileder polis kursunuyla oldurulen Ethem'in cenaze torenine bile izin verilmiyor.
Bir bakan cikip, Taksim Meydanda olan herkesi terorist ilan edebiliyor.
Polis hicbir ayirim gozetmeden halka tonlarca biber gazi, gazli su, plastik mermiyle mudahale etmeye devam ediyor.
Ve siz, susuyorsunuz..
Cok degil, on yil once, temel hak ve ozgurlukleriniz icin mucadele eden siz ve sizin partiniz... Bu halki en iyi sizin anlamaniz
gerekmez mi?
Iktidar gomlegini giyen digerleri gibi vicdaninizi soyunup bir tarafa biraktiginizi dusunmek istemiyorum.
Vicdani olanlara sesleniyorum; bu vahseti durdurun!
Fatih Akin«
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Am Mittwoch gab es in Berlin die Obama-Rede auf dem Pariser Platz, der seit gestern zur Hochsicherheitszone umgebaut worden ist. 4000 feinst ausgelesene und mit Anmeldung und Eintrittskarte akkreditierte »Bürger« hatten Zugang und wurden fürs Fernsehen zum Obama-Publikum. Zuvor wurde der Platz umgekrempelt. Alle Ein- und Ausgänge der Gebäude am Pariser Platz waren verrammelt. Zwischen 12.30 und 13.00 Uhr wurden die Gäste vom Bhf Friedrichstraße aus zum Pariser Platz geschleust.
Man darf nichts dabei haben außer seinem Ausweis und einem Sonnenhut. Angeblich würde es Wasserspender auf dem Platz geben, aber keine Schattenspender. Es wurden 35 Grad erwartet.
Die Rede von Obama begann erst um 15 Uhr. Bis dahin würde »ein abwechslungsreiches musikalisches Programm«, so steht’s auf der Einlasskarte, die Zeit überbrücken. Die A-Promis kamen natürlich erst kurz vor Beginn. Mindestens zwei Stunden Rumstehen in der gärenden Sonne, bevor es überhaupt
losgeht.
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»Kino-Deal wie bei Gordon Gekko« hieß jene SZ-Schlagzeile, unter der berichtet wurde, dass Deutschlands zweitgrößte Kinokette bereits seit Juli 2012 für 175 Millionen Euro der Investmentfirma Doughty Hanson aus London gehört. Doch Mitgründer Richard Hanson will die Kette mit den 34 Centern verkaufen. Im Juli wird er die Firma an Eigner jenseits des Atlantiks weiterreichen. Käufer sind die kanadischen Pensionsfonds Omers Private Equity und Alberta Investment Management. Das teilt Hanson auf seiner Website mit. »Die Nachricht liest sich wie eine Fortsetzung des Kinofilms Wall Street, in dem Michael Douglas als Finanzhai Gordon Gekko dem Geld nachjagt«, schreibt die SZ.
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Telepool schluckt videobuster.de. Die Telepool GmbH hat die Netleih GmbH und Co. KG, Betreiberin der Onlinevideothek videobuster.de, zu 100 Prozent übernommen. Mit der Übernahme will das Münchner Unternehmen nach eigenen Angaben seine Home-Entertainment-Sparte weiter ausbauen. »Wir freuen uns sehr, unser B2C-Geschäft mit einem so etablierten Partner wie der Netleih ausbauen zu können«, kommentiert Dr. Thomas Weymar, Geschäftsführer von Telepool, den Deal.
Mario Brunow,
Geschäftsführer Netleih, ergänzt: »Es ist sehr vielverspechend, die Geschäfte der Netleih zukünftig unter dem Dach der Telepool führen zu können. Die neu entstehenden Synergien werden uns helfen, die Marktstellung von videobuster.de weiter zu stärken und die Transformation in das Video-on-Demand-Geschäft schneller voran zu treiben.«
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Grund zur Wut gibt es aber auch auf ganz anderen Feldern. Mit der orwellschen Überschrift »ZDF versichert: Kleines Fernsehspiel hält an Kinoengagement fest« wird weiterer Raubbau an einer der letzten Bastionen des Qualitätsfernsehens bekannt gegeben: »Im Laufe der Diskussionen über die kürzlich getroffene Abmachung, dass ZDF und Arte mehr Synergien nutzen sollen, verbreitete sich unter Produzenten das Gerücht, dass ›Das kleine Fernsehspiel‹ sich an keinen
internationalen Koproduktionen mehr beteiligen werde. Das ist nicht richtig«, stellte Redaktionsleiterin Claudia Tronnier in Hamburg klar. »Im Gegenteil: Eine Folge der Diskussion ist sogar, dass dieses Engagement schriftlich festgehalten wurde.« An fünf internationalen Koproduktionen pro Jahr werde sich die Redaktion auch in Zukunft beteiligen.
Auf Deutsch: Das »Kleine Fernsehspiel« co-produziert zwar weiter (international), aber bei ARTE werden mehr »Synergien
genutzt«, also über das bisher bekannt gewordene Maß hinaus gekürzt. Pro Jahr unterstützt die Redaktion »Das Kleine Fernsehspiel« nach eigenen Angaben 15 Kinoproduktionen mit 325.000 bis 350.000 Euro. Ein wichtiger Bestandteil des »Kleinen Fernsehspiels« sind auch zukünftig internationale Koproduktionen.
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»Fernsehen. Der tägliche Ekel. Ekel am präparierten Geschwätz. Am verdorbenen Frohsinn. Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT. Unsern Täglichen Mord gib uns heute. Denn dein ist das Nichts. Ekel an den Lügen die geglaubt werden. Von den Lügnern und niemandem sonst. Ekel an den Lügen die geglaubt werden. Ekel an den Visagen der Macher gekerbt vom Kampf um die Posten Stimmen Bankkonten.«
Heiner Müller, »Hamletmaschine«
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.