Cinema Moralia – Folge 65
»Ich habe nachgedacht.« |
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Oh Boy: Niko (Tom Schilling) mit seinem Vater (Ulrich Noethen) | ||
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH) |
»In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.«
Franz Kafka: »Das Urteil«
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Immer wieder Oh Boy. Immer wieder in Gesprächen mit Filmemacher, Kollegen und »normalen« Zuschauern, in denen es eigentlich um ganz anderes geht, kommt das Gespräch auf diesen Ausnahmefilm. Wo liegen die Qualitäten? Warum funktioniert der Film so großartig? Ist er denn wirklich so gut? Und ist der Preisregen berechtigt? Ist dies eigentlich ein Jungs-Film? Man kann über so etwas ewig nachdenken und debattieren.
Wer den Film von Jan Ole Gerster immer noch nicht gesehen hat, oder ihn noch einmal sehen will, hat dazu jetzt am kommenden Mittwoch in München Gelegenheit. Um 10.30 im Cinema gibt es eine Sondervorstellung des Films – das ganze ist zwar offiziell eine Schülervorstellung des Kulturreferats – also eine offizielle Unterrichtsveranstaltung, liebe Lehrer, für die ihr die Mathestunde abblasen dürft –, neben Schülern sind aber auch alle anderen Zuschauer willkommen.
Dieser Hinweis ist nicht völlig uneigennützig, denn zusätzlich zum Film gibt es auch noch eine kurze Einführung und eine Diskussion, an der die Filmwissenschaftlerin Fabienne Liptay und der Psychoanalytiker Andreas Hamburger teilnehmen, und die von mir moderiert wird. Wer also endlich einmal über »Cinema Moralia« diskutieren möchte, darf das dann nach Veranstaltungsende im Biergarten auch tun.
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Einen interessanten Text zu Oh Boy hat Constantin von Harsdorf auf »Cult« geschrieben . Darin reflektiert er darüber, was eigentlich mit der Generation der Endzwanziger, Anfang-Dreißiger los ist, die die von Tom Schilling gespielte Hauptfigur verkörpert? Die »Generation Y« (sprich: »Why?«), die alles zergrübelt, hinterfragt, nicht wirklich arbeiten will, aber auch nicht nur hedonistisch in den Tag rein leben, sondern mitunter Gutes und Wichtiges tun. Vor allem aber nichts Falsches. Das wäre meine Antwort: Sie wollen alles richtig machen, und bevor das schief geht, machen sie lieber gar nichts. Die Jugend von heute!
Harsdorf betont eher die Bedeutung der »Work-Life-Balance« und charakterisiert sie als Drifter: »Man muss sich einfach mal treiben lassen und nicht immer gleich festlegen müssen, das kommt früh genug. Dreißig ist das neue Zwanzig und so.« Wenn das stimmt, dann wäre ich ja auch ein »Generation Y«-Angehöriger. Dafür aber bin ich zehn Jahre zu alt – ich würde daher eher formulieren »44 ist das neue 29«.
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Ganz so neu ist das Dandyhafte und das Flanieren ja auch nicht. Sofia Coppola beschäftigt sich damit seit 15 Jahren, und The Virgin Suicides ist doch eigentlich auch ein Referenzfilm für Oh Boy, oder? Und wenn ein paar der Schüler am Mittwoch vielleicht im Englisch-LK Oscar Wildes Bildnis des
Dorian Gray gelesen haben, dann wissen sie, dass das Viktorianische Zeitalter auch schon ihren Oh Boy hatte.
Coppola habe ich übrigens vor ein paar Tagen interviewt – und im Gespräch, das hier nachzulesen sein wird, hat sie ihr Tun sehr treffend als das Schaffen von atmosphärischen Räumen beschrieben. Eine Art Chill-Out-Zimmer – so könnte man auch über Oh Boy sprechen.
Harsdorf verknüpft Oh Boy sehr einleuchtend mit Francis Ha, der auf der Berlinale lief, und im August ins Kino kommt. Die Hauptfigur sei so »etwas wie eine entfernte New Yorker Seelenverwandte von Schillings Tagedieb Niko – und damit unzähligen Twentysomethings in den Kinosesseln. Auch sie versucht sich irgendwo in der Zeit festzuklammern, hält sich die Augen zu während sie herumalbernd durch die Straßen rennt, Hauptsache in Bewegung bleiben. Prokrastination nennt man so etwas heute so gern. Sie teilen diese schwelende Sehnsucht, die irgendwo in die Ferne zielt, gehen aber unterschiedlich mit ihr um.«
Man müsste jetzt vielleicht einmal darüber nachdenken, was diese Figuren und ihre Inaktivität – Passivität ist etwas anderes – über die Gegenwart sagen. Handelt es sich um »Oblomowerei«, um einen willensschwachen Charakter, der neurotisch und apathisch ist? Vielleicht ein bisschen. Aber warum ist er das? Die Frage ist die wichtigere, denn wenn man den Oh Boy-Niko schon verurteilen will, muss man auch die Gesellschaft richten, aus der er stammt.
Ich will es eigentlich nicht. Denn in Nikos Haltung steckt zuviel Klugheit und Opposition, zuviel Gesundheit, um ihn als Kranken abzutun. Noch ein schönes Harsdorf-Zitat über das Wunderbare dieser beiden Filmfiguren: »Man braucht sich keine Sorgen machen, dass sie irgendwann einmal mit beiden Füßen auf dem Boden landen. Es ist Empathie, kein Mitleid, das diese wunderbaren Charaktere hervorrufen. Manchmal möchte man ihnen zurufen, sie anschreien, doch schnell überlegt man es sich anders, es hätte doch keinen Sinn. Sie herumtapsen zu sehen, ist auch einfach schön.«
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Unsterblich ist übrigens natürlich die Antwort von Tom Schillings Niko auf die Frage des Vaters, was er denn die letzten zwei Jahre getan hätte. »Ich habe nachgedacht.«
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Magdalena Taube von der – im Übrigen überhaupt großartigen – unabhängigen Netzzeitung »Berliner Gazette« verdanke ich den Hinweis auf die Wiener Veranstaltung »Shared Digital Futures«, einen Workshop für Kulturinstitutionen, in dem es um die Zukunft der Archive und die Folgen der Digitalisierung für die Archive ging. Das Thema betrifft natürlich das Kino ganz besonders.
Denn wenn die Digitalisierung die Archive erreicht hat, ist die Frage, was in Zukunft mit dem Nachlass von Filmemachern geschieht. Sowohl mit dem der längst Toten, mit den Nitro- und Filmkopien, als auch mit den noch Lebenden. Denken wir mal an Filmemacher wie Werner Herzog, Alexander Kluge oder Rudolf Thome, die auf verschiedenen Materialien arbeiten – 16mm bis digital. Welches Archiv wird die Schätze, die das im Zweifelsfall auch noch zu entdecken sind, aufnehmen, wie werden sie gelagert, und wer wird das bezahlen? Die Erfahrung lehrt, dass gerade Nachlässe von Filmemachern – im Vergleich zu Schriftstellern, Philosophen oder Malern und Musikern – von der Nachwelt sehr schlecht und mit Geringschätzung behandelt werden. Wenn sie nicht zufällig Fassbinder heißen. Oder Orson Welles? Bei deutschen Filmemachern wäre da natürlich erstmal der Bund gefordert.
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Die Fragen der Wiener Veranstaltung gingen aber darüber hinaus: Wie kann ein erweiterter Zugang zu digitalen Netzwerken eine diversifizierte Kulturlandschaft fördern? Welche Möglichkeiten ergeben sich durch die Auflösung der Grenzen zwischen KünstlerInnen und Publikum? Was bedeutet es, wenn kulturelle Arbeiten als fertiggestelltes Werk und gleichzeitig als Basis für neue Arbeiten aufgefasst werden?
Aktuelle Businessmodelle der kulturellen Verwertung geraten in eine Sackgasse. Das bestehende Urheberrecht wirkt sich zunehmend als Behinderung von Kultur, von neuen Werken aus. Die jahrtausendealte Praxis der Kopie und Umarbeitung wird durch Rechte-Inhalber, Kunst-Auswerter und Content-Händler zunehmend erschwert bis unmöglich gemacht. Und komplett auf sich selbst fixierte Archivare klammern sich an ihre Schätze, stellen sie selbst im eigenen Haus nur höchst eingeschränkt zur Verfügung. Auch das, nicht nur das alltägliche Piratieren der User ist eine Bedrohung der Basis westlicher Kultur.
Ein neuer Umgang mit Werken muss auf den Prinzipien Zugang, Interaktivität und Solidarität zwischen Künstlern und Publikum, zwischen innovativen KulturproduzentInnen und einer interessierten Öffentlichkeit, basieren.
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Am 13. Juli 2013 veranstalten die Digital Media Women Berlin ihren ersten Workshop zum Thema Podcast. Podcast-Expertin Brigitte Hagedorn erklärt dort, was Podcasts eigentlich sind und wie man Audio-Beiträge fürs Web mit kleinem Budget selbst aufnehmen, schneiden, veröffentlichen und verbreiten kann. Anmeldung unter: digitalmediawomen.mixxt.de.
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Wie die Zukunft der Archive ist auch die des Fernsehens ein Thema, das uns nicht loslassen kann, und das natürlich etwas mit Kino zu tun hat. Denn das Fernsehen ist nicht nur Financier, sondern auch Abspielgerät für Filme – und zwar dreifach: als Fernsehprogramm, als Internet-Angebot, als DVD-Bildschirm.
Im engeren Sinn aber lautet die interessanteste Frage: Hat das Fernsehen als Fernsehen – also als Programmangebot, das sich von dem anderer Medien unterscheidet – noch eine Zukunft?
Wohl eher nicht. Die gegenwärtige Entwicklung muss einen ja mehr als nachdenklich machen. Die Studie »Digitales Deutschland« – die man hier nachlesen und downloaden kann – liefert dazu wichtige Zahlen: fast 77
Prozent der erwachsenen Bevölkerung nutzen das Internet regelmäßig. Für das Jahr 2020 prognostiziert die Studie einen Anteil von 90 Prozent. Weltweit werden derzeit pro Minute 48 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen. Soziale Netzwerke wie Facebook haben sich als digitale Kommunikationsplattformen etabliert. Computer und Internet sind zunehmend nicht mehr Medien neben Hörfunk, Fernsehen, Zeitungen, sondern die zentrale Medien-Plattform. Wir hören über Internet Radio,
sehen fern, sehen Filme, lesen, organisieren alles »on demand«.
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Was aus dieser Entwicklung folgt, ist klar: Ausdifferenzierung und Individualisierung werden zunehmen. Das Leben verspartet sich, es wird Leben »on demand«.
An Stelle komplexer Gesellschaften werden simple Gemeinschaften treten, eine Provinzialisierung des Geistes, eine digitale Stammesgesellschaft wird die Folge sein. Das sind die »digital natives«, die man auch unter »Generation Y« versteht. Vom kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan stammt die Formel
vom »Global Village«. Das stimmt nur zum Teil, denn es sind eher viele Dörfer, als das die Welt ein Dorf ist. Und man muss hinzufügen, dass in den Hütten dieses Dorfes Kannibalen leben.
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In Zukunft gilt: Die Grenzen meiner Freundes-Liste sind die Grenzen meiner Welt. Das ist keine gute Nachricht. Wenn wir das ändern oder vermeiden wollen, müssen wir uns verändern. Wir müssen Fernsehen, Kino, Medien überhaupt neu erfinden.
Wir müssen mehr nachdenken.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.