Cinema Moralia – Folge 70
Koolhaas oder die Ungerechtigkeit der Dinge |
||
Ein Held unserer Zeit Michael Kohlhaas | ||
(Foto: Polyband / 24 Bilder Film GmbH) |
»Was ist das für ein System, das nicht mehr fragt nach den Wünschen? Das Wünschen ist gestorben. Das Wünschen ist ein Störfaktor. Aber ich glaube, das Politik ohne Wünschen nicht funktioniert.«
Filmregisseur Andres Veiel an der Berliner Akademie der Künste am 11.9.2013
+ + +
In zehn Tagen sind Bundestagswahlen. In der »Akademie der Künste« gab es dazu im Rahmen des 50.Akademiegesprächs die interessante Veranstaltung »Wählen gehen!«, die trotz – oder wegen? – ihres arg sozialpädagogischen Ausrufezeichens und einer desaströsen Moderation sehr lohnenswerte Einsichten zum Zustand von Gesellschaft und Politik zutageförderte. Auf dem Podium saß unter anderem der Filmemacher Andres Veiel. Veiel klagte unter anderem über die
»Geschichtsvergessenheit« der deutschen Gesellschaft und über eine politische Bewusstseinsindustrie, die durch PR-Manipulation, das Bewusstsein der Krise aus der Öffentlichkeit heraushält.
Und das liegt nach seiner Ansicht klar an Kanzlerin Merkel: »Es hat doch auch ganz viel mit einer Physikerin zu tun, die uns allen das Gefühl gibt, die Krise sei weit weg, habe mit uns nichts zu tun. Das ist ein wohliges Gefühl, sediert zu sein ... sie macht ihre Versuche, fährt auf
Sicht und kriegt den Karren schon irgendwie aus dem Dreck – dieses falsche Grundgefühl ist ja in den letzten vier Jahren erfolgreich vermittelt worden.«
Zugleich konstatierte Veiel auch einen »Souveränitätsverlust« der Politik, ihre Unterminierung durch die Herren des Geldes.
+ + +
Die kommenden Wahlen haben natürlich auch etwas mit dem Kino zu tun. Sie betreffen zum einen die konkrete Film- und Kulturpolitik, zum anderen die geistige Situation in der Bundesrepublik, durch Politik- und Medienzusammenhänge, durch gesetzte Prioritäten und nicht zuletzt durch den Denk- und Handlungsstil der politischen Klasse.
+ + +
Natürlich geht es bei den Wahlen auch ums Geld. Um filmpolitische Verteilungsfragen: Wieviel ins Kino fließt und wohin? Da ist entgegen der Behauptungen des Kulturstaatsministers Bernd Neumann einiges im Argen. Denn Neumann ist, bei aller Mühe, ein einsamer Kämpfer, der von seiner Fraktion und Kanzlerin oft genug im Stich gelassen wurde. Erreicht hat er etwas im Bereich der Filmförderung und auf der Ebene der Prestigeprojekte, mit denen sich auch CDU/CSU-Hinterbänkler beeindrucken lassen.
+ + +
Was dagegen völlig fehlt, und was ein unverzeihlicher Mangel ist, machte ein hochinteressantes Gespräch deutlich, dass jetzt im deutschlandfunk die Redaktion von »Kultur Heute« mit Michael Hollmann, dem Präsidenten des Bundesarchives in Koblenz führte. Dort lagern neben vielem anderen etwa eine Million Filmrollen und Videokassetten – darunter wertvolle kulturelle Schätze. Aber die Archivtechnik ist in die Jahre gekommen, das Geld mehr als knapp, und so droht die
Zerstörung unwiederbringlichen Materials.
Dazu Hollmann: »Das ist jetzt die Frage, ob Digitalisierung da der richtige Weg ist. Zunächst haben wir für diese Nitrofilme, die eigentlich – und das verlangt das deutsche Gesetz von uns – auf nicht brennbare, nicht explosive Materialien umkopiert werden müssen, ... spezielle Magazine, die tiefgekühlt sind, so dass die Explosionsgefahr sehr stark reduziert ist. Bis auf einen Fall in den 80er-Jahren hier in Koblenz haben
wir da noch nie Probleme mit gehabt. Aber das Problem besteht auch darin, dass die Kenner und Liebhaber des Filmes normalerweise sehr großen Wert darauf legen, die Filme auch auf ihrem ursprünglichen Material zur Kenntnis zu nehmen beziehungsweise Umkopierungen auf Film zur Verfügung zu haben, die dem Ursprungsmaterial möglichst nahe kommen. Da ist die Digitalisierung eine noch umstrittene Methode, weil wir im Rahmen der heutigen Technik andere Anforderungen haben, als es
eigentlich an die Liebhaber alter Filme gerichtet ist. Es ist so eine Verkettung von Problemen, die dann im Bereich des Neubaus dazu geführt haben, dass sich Verzögerungen ergeben. Ich will jetzt nicht in das gleiche Horn wie alle blasen, aber in Berlin wird viel gebaut und Archive sind nicht immer die erste Priorität im öffentlichen Bauen. Und auf die Art und Weise haben sich Verzögerungen ergeben, die uns schmerzen.«
+ + +
Ebenso schlimm: Die riesigen Mengen unerschlossener Filme. Und wenn man sich dann klarmacht, dass das Bundesarchiv gerade mal 300.000 Euro im Jahr für Ankäufe zur Verfügung hat, dass die Murnau-Stiftung für das komplette Filmerbe vor 1945 gerade einmal 1 Million Jahresetat hat – mit dem Ergebnis, dass sie noch nicht mal genug Geld hat, um Fachleute dafür zu bezahlen ihren Bestand komplett und sachgerecht zu sichten, dass sie also überhaupt nicht feststellen kann, was sie hat, und eventuell restaurieren muss, und ob sich in ihrem ungesichteten Besitzt womöglich verschollene Filme befinden (was angesichts der Masse sehr wahrscheinlich ist), dann ist es obszön, 500 Millionen – also den Murnau-Etat des nächsten halben Jahrtausends –, davon rund 400 Millionen (am Ende mehr) vom Bund allein für den Wiederaufbau des preußischen Stadtschlosses auszugeben. Für ein Preußen-Disneyland und Prestigeprojekt der Restauration. Wer hat diesen Wiederaufbau vorangetrieben? Schwarzgelb!
+ + +
Die Piraten werden wohl nicht in den Bundestag einziehen. Entgegen der Ansichten mancher Freunde habe ich sie auch nicht gewählt, aber sympathisiere mit einigen ihrer Ansichten,
+ + +
Im »Spiegel« gibt der israelische Regisseur Ari Folman ein Interview, das viel interessanter ist, als sein neuer Film The Congress. Hätte der doch mal ähnlich eindeutige Positionen und weniger Moralismus: Auf die Frage, ob das Zeitalter der digitalen Stars begonnen habe antwortet er: »Die technischen Voraussetzungen dafür sind jedenfalls schon da. Für Filme wie Avatar oder Man of Steel wurden die Schauspieler von Kopf bis Fuß eingescannt und digitalisiert. Manche Szenen kann man mit echten Schauspielern gar nicht mehr drehen, weil dies viel zu gefährlich wäre. Digitale Stars können sich nicht die Knochen brechen.
›Spiegel‹: ›Aber fehlt
ihnen nicht die Aura, die einen Schauspieler erst zum Star macht? Folman: Schauen Sie sich mal die Gesichter mancher Stars an, die gezeichnet sind von Schönheitsoperationen und von Botox. Finden Sie da noch eine natürliche Aura? Hollywood ist vom Jugendwahn besessen, es geht nicht um das Wahre und Echte. Ich glaube, Hollywood wünscht sich digitale Stars, weil man ihnen die Falten nicht wegspritzen oder wegschminken muss. Keine schöne Perspektive... Leonardo DiCaprio hat immer noch fast
ein Babyface, dabei ist er nun fast 40. Wenn Sie eine 40-jährige Schauspielerin an seine Seite stellen, könnte sie wie seine Mutter wirken. Das ist wirklich brutal.‹«
+ + +
Heinrich von Kleists Novelle »Michael Kohlhass« ist ein Held unserer Zeit. Einer in dem man den Gerechtigkeitskämpfer ebenso erkennen kann, wie den Terroristen, den nervigen Furor des Gewissens ebenso erkennen kann wie das Feuer der Revolution, die Hoffnung auf einen Umsturz und großen Kladderadatsch, die heimlich viele von uns hegen und vor der wir auch alle Angst haben, nagen wir doch mit an den Knochen des Ancien Regime.
Nun ist der Stoff nach Aaron Lehmanns Aktualisierung
Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel vor ein paar Wochen ein weiteres Mal verfilmt worden.
Der Franzose Arnaud des Pallières mischt einen Historienfilm mit Abstraktion zu einem Zen-Kohlhaas, einem Coolhaas, der manchmal an einen Western von Anthony Mann und John Ford erinnert, manchmal an Werner Herzogs besten Film Aguirre, der Zorn Gottes, auch in kurzen Müdigkeitsmomenten.
Man sollte sich Michael Kohlhaas ansehen, und natürlich Kleist lesen, wenn man noch Anregungen sucht, wie man auf Ungerechtigkeit und die Kumpanei von Politik, Geld und Justiz reagieren müsste, damit die Mächtigen es sich vielleicht doch noch mal überlegen. Außer durch sein
Wahlkreuz an der richtigen Stelle
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.