Cinema Moralia – Folge 74, Teil 1
Unser dummes Publikum |
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Deutsch und Doof – Stan Laurel und Oliver Hardy in A Chump in Oxford | ||
(Foto: United Artists) |
»Das Publikum fällt durch« – so schrieb man in den zwanziger Jahren in einer populären Zeitschrift über die Kinozuschauer. Genauer gesagt eine Frau, Lucy von Jacobi. Die kennt heute keiner mehr, zu Unrecht. Jacobi war Filmkritikerin im Berlin der besten Zeit des deutschen Films, während der Weimarer Republik. Knapp vier Jahre, die letzten vor dem 30.Januar 1933, als alles anders wurde, schrieb sie für das Magazin »Tempo«, den Vorgänger der Zeitgeist-Gazette der Achtziger. Die
Texte von Jacobi sind kurz, sie war nicht fest angestellt, konnte als Freie aber so gut leben, dass sie sich eine 7-Zimmer-Wohnung leisten konnte – am Potsdamer Platz!
Diese Zeiten sind vorbei, heute ist die deutsche Filmkritik auch nicht besser als das deutsche Kino, und gerade Filmkritiker gelten als das neue Kulturprekariat. Das ist zwar nicht ganz richtig, aber die ökonomische Lage der Filmkritik ist schändlich, und auch ihre gesellschaftliche Achtung lässt zu wünschen
übrig.
Über Filmkritik und ihr Publikum diskutierte man jetzt in der dritte Folge der Debatte-Reihe »Film und Kritik« des Filmkritikerverbands (VDFK) gemeinsam mit der Akademie der Künste (AdK). Thema »Wer liest das? Die Filmkritik und ihr Publikum«.
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Heute, Donnerstag, können zumindest die Berliner einen ausgezeichneten Film angucken. Einer der wieder mal in Deutschland keinen Verleih, also keinen Filmstart hat. In den »Kunstwerken« kann man den Film heute Abend um 20 Uhr sehen. Vor einem guten Jahr hatte ich zu LEONES nach seiner Venedig-Premiere auf artechock geschrieben: »LEONES ist herausragend, ein
faszinierender Film. Es ist das Regiedebüt der Argentinierin Jazmin Lopez, die kein völlig unbeschriebenes Blatt ist, und mit ihren Bildern schon in Istanbul und Mexiko auf Ausstellungen vertreten war. Im Presseheft steht der Satz, die fünf streunten im Wald herum, ›wie ein Löwenrudel‹. Meinetwegen. ... phantastische Reise ins Innere eines traummatisierten Bewusstsseins; LEONES ist Gedankenpuzzlekino, das in seiner Mischung aus Neugier und Reflexion
gleichermaßen an Van-Sants-Jugendstudien und einen Hitchcock-Thriller erinnert, wie, vor allem in seinen letzten atemberaubenden Szenen, und einer achtminütigen Einstellung, die uns vom Wald über wüstenartige Dünen ans Meer führt, an einen Film von Antonioni.«
Jazmin Lopez ist heute Abend da, wird den Film persönlich vorstellen, und danach Fragen beantworten. Wenn man irgendwann genug hat, kann man mit ihr auch gut über Fußball reden, im Vorfeld der WM nicht unwichtig. Ein
Finale Argentinien – Deutschland wäre in Brasilien doch schön.
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Es ist wahrscheinlich die falsche Herangehensweise und irgendwie schnöselig, aber ich geb’s zu: Ich finde, an der Kleidung erkennt man schon die Kritiker, die guten, wie die schlechten. Wie jede Aussage stimmt dieser Satz natürlich nicht immer. Aber meistens. Gertrud Koch zum Beispiel war am Abend in der Akademie hervorragend angezogen. Sie sagte dann auch die klügsten Sachen bei einer insgesamt gelungenen Diskussion, die auch dort, wo man mit den Antworten nicht
einverstanden war.
Dem voraus ging eine Einführung von Claudia Lenssen, in der sie die Tradition der Kritik seit der Aufklärung rekapitulierte, daran erinnerte, dass es sich einst um einen subjektiveren Diskurs gehandelt hat, in der die Kritiker als Personen sichtbar wurde, und sich auch persönlicheren Formen bedienten, wie der Brief-Form und der Ich-Form.
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Darf man heute als seriöser Kritiker »Ich« sagen? In der Zeitung nicht, im Blog schon, aber das nicht inflationär. Man weicht dann aus, schreibt »man«, was nicht richtig gut ist, aber sprachlich besser, oder »wir«. Christiane Peitz, die auf dem Podium war, meinte zwar nach der Veranstaltung, das ginge »gar nicht«, aber ich bin davon nicht überzeugt. Ein »Wir« ist nicht notwendig autoritär, es kann auch integrieren, die Leser zu Teilnehmern machen, wo das »ich« nur ungehobelt wirkt, und das »man« unangemessen objektivierend.
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Besonders interessant waren dann die Fragen an die Filmwissenschaft (und deren Antworten). Etwa: Gertrud Koch begann als Kritikerin und wurde dann Wissenschaftlerin, anstatt wie Godard und Truffaut 20 Jahre zuvor Regisseurin. Warum eigentlich wurden in Deutschland die Kritiker so gut wie nie Regisseure? Ganz wird man den Eindruck nicht los, dass der Weg in die Wissenschaft eine Flucht vor der ökonomischen Situation der Filmkritik ist. Der Filmkritik drohen auch andere Gefahren: Wen und was betrifft sie? Betrifft Filmkritik womöglich auch Film im weiteren Sinn – Fernsehen, Internet, Games – also bewegte Bilder im allgemeinsten Sinn? Oder verschwindet Filmkritik womöglich zugunsten einer anders gearteten Bildkritik? Wozu dienen Grenzziehungen?
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Im Gespräch mit einer Filmförderin kommen wir anderentags auf einen weiteren Aspekt: Die Filmkritik, meint sie, darf alle Filme hart kritisieren, sollte aber immer irgendwie Lust aufs Kino machen. Fußballreporter – ich das vorher als Vergleich angesprochen – würden ja auch wieder über die Nationalmannschaft schreiben, obwohl sie schlecht gespielt habe.
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Meine private Vermutung zur sogenannten Krise der Filmkritik ist die, dass das Problem der Filmkritik ja das Problem des ganzen sogenannten Qualitätsjournalismus ist – dass er nämlich nicht mehr genug Qualität bietet. dass er zu sehr aufs Publikum schielt, dass er seinen erzieherischen Auftrag aufgibt. Wer nichts mehr will, außer Zeitungen verkaufen, den nimmt man nicht ernst.
Darum muss der sogenannte Qualitätsjournalismus verschwinden zugunsten neuer, wirklich
unabhängiger, freier, qualitativer Formen. Müsste er aber nicht.
Man muss aber schon sichtbar sein wollen: Früher war Filmkritik sichtbar, heute ist sie unsichtbar. Und die Deppen, pardon: zu viele Kollegen, sind froh damit. Dieses Verschämte, Gschamige der heutigen Filmkritik. Wir sollten ein Denkmal für den »unbekannten Filmkritiker« errichten.
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Darf man das Kino nicht mehr als moralische Anstalt betrachten? Als Ort zur intellektuellen und sinnlichen, am Ende existentiellen Erziehung des Menschengeschlechts? Doch das muss man sogar. Das Kino ist ein Ort des Denkens, nicht nur ein dunkles Labor, in dessen betäubenden Düfte man sich vor dem Leben zurückziehen kann. Wer etwas anderes behauptet, wer Film als intellektuelles Medium verabschieden will, der hat Filmemacher wie Bergman und Antonioni, Kubrick und Ford,
Truffaut und Godard, Haneke und Cronenberg nicht begriffen.
Über den Rest der AdK-Veranstaltung schreiben wir dann nächste Woche – denn die Deadline naht. Auch das gehört zu den Bedingungen der Filmkritik, und damit notgedrungen ihrer Leser.
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»Zuschauer« soll man ja übrigens eigentlich nicht schreiben, erklärt mir jemand. Denn Zuschauer hat man zuhause vor dem Fernseher. Im Kino aber sitzt das »Publikum«. Eine Gemeinschaft, zumindest des Augenblicks und bestünden sie noch so sehr aus Einzelnen.
Ich bin nicht überzeugt, und finde das Wort »Gemeinschaft«, wenn wir schon hier über Worte nachdenken, viel gefährlicher als das Wort »Zuschauer«.
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Nein, jetzt zu behaupten, wir wären überrascht, wäre gelogen: Ein Sechstel aller erwachsenen Deutschen liest wie Zehnjährige, so eine OECD-Studie, die die Bildung von Erwachsenen international vergleicht. Bitte jetzt nichts gegen Zehnjährige. Vielleicht liest auch ein Zehntel aller erwachsenen Deutschen wie Sechsjährige. Jedenfalls verfügen sehr viele erwachsene Deutsche nur über erschreckend geringe Basiskompetenzen. Gerade die Fähigkeit, logische Schlüsse zu ziehen, ist
laut der Studie auf einem erbärmlichen Niveau. Sagen wir es frei heraus: Die Deutschen sind doof, doofer als andere Völker.
Wer es mit dem hiesigen Kinopublikum zu tun hat, den kann das nicht wirklich überraschen. Oder erwartet man, das Til-Schweiger-Kartenkäufer daheim plötzlich Tolstoi lesen?
Erwachsenenpädagogen jammern darüber, dass die gesellschaftliche Debatte beim Thema Erwachsenenbildung nur schwer am Leben zu erhalten sei. Im Bereich Kino existiert eine solche
Debatte erst gar nicht.
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Man muss sich nur mal eine ZDF-Doku angeguckt haben, um zu wissen, mit welchen Zuschauern man dort rechnet. Interessant wie aggressiv jetzt auf einmal in Deutschland über die OECD-Studie berichtet wird, gerade von jenen konservativen Medien, die den ganzen Hype um Effizienz, Pisa-Studien und Bologna-Uni überhaupt herbeigeredet haben.
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»Das männlichste, was der deutsche Film heute zustande bringt, ist, wenn ein Mann heult.« Diese Woche aufgeschnappt, von einem Regisseur.
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Am Dienstag wurde nun zum zweiten Mal der Michael-Althen-Preis vergeben. Wir gratulieren! Doch das tun wir schon.
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Allerdings: Schon letztes Jahr hat mich die Entscheidung sehr überrascht. Diesmal ertappe ich mich bei der Überlegung, was dieser Preis eigentlich will? Michael-Althen ehren, natürlich, und wer würde sich nicht darüber freuen? Aber welches Zeichen will er setzen? Was möchte er sagen, uns, die Michael gekannt haben, und seine Texte lesen, und den anderen?
Ich überlege auch, was Michael Althen wohl über die diesjährigen Preisvergabe gedacht hätte? Da Michael ein sehr großzügiger
Mensch war, hätte er sich bestimmt gefreut.
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»Der Willi Winkler ist Journalist im umfassendsten Sinn des Wortes.« kommentiert ein älterer Freund und Vielleser die Entscheidung: »Der kann über alles schreiben. Und es liest sich hervorragend. Aber wenn man’s genau liest und man von der Sache was versteht, merkt man, das es gewaltig hakt.«
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»Das Kino verliert seine Attraktivität für erwachsene Menschen.« hat Willi Winkler mal geschrieben. Zumindest diesem Satz hätte Michael vehement widersprochen.
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Das Wiederlesen lohnt unbedingt ein Text, in dem Julian Hanich vor zehn Jahren einmal den Namensgeber des Preises und den Preisträger miteinander verglichen hat, und die Kinobücher von Althen und Winkler, die fast zeitgleich erschienen waren, zusammen treffend vorstellt. Hanich, selbst aus Bayern stammend kann sich in die jeweilige Wesensart seiner beiden Landsleute gut einfühlen und ist, auf vornehme Art, wie ich finde, ziemlich deutlich.
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Das Schlimmste an der heutigen Filmkritik, ihr größtes Problem: Dass sie sich so klein macht. Ihr fehlt der Stolz. Auch tolle Leute, etwa Andreas Kilb sind im öffentlichen Auftritt zu bescheiden. Aber Bescheidenheit ist keine Zier für Kritiker. Zumindest das konnte man von Marcel Reich-Ranicki lernen: Wenn ein Kritiker kein Großkritiker sein will, wird er kein großer Kritiker.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.