28. DOK.fest München 2013
Hudekamp / Der große Irrtum |
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Am Rand des Abgrunds in Hudekamp |
Von Natascha Gerold
Hierzulande, heißt es oft, leben die Meister im Jammern. Doch kaum einer beklagt sich über sein Leben, weder in Hudekamp – ein Heimatfilm von Christian von Brockhausen und Pia-Luisa Lenz, der die Bewohner eines Hochhauses im gleichnamigen Stadtteil Lübecks porträtiert, noch in Der große Irrtum, in dem Dirk Heth und Olaf Winkler unter anderem ihre Zustandsbeobachtung der Stadt Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern fortsetzen. Menschen in prekären Lebenslagen – das sind in Lübeck zum Beispiel die verwitwete Rentnerin Annemarie und Alkoholiker Sebastian. Ihr Zweckbündnis ist kein starkes Band, eher ein löchriger Strumpf, dennoch zollt es Hausmeister Klaus Respekt ab. Er, der Herr über 20 Bildschirme und Etagenkameras, ist Beobachter, Tröster und Vertrauter so manchen Bewohners.
Das Gefühl, dass der eine auf den anderen aufpasst, ist dies kein gesamtgesellschaftliches Gut? Zumindest reicht es nicht für eine Verbesserung des eigenen Marktwerts, wie man in Der große Irrtum sieht. Noch nicht. Vielleicht wäre das anders, wenn es einen alternativen Markt für Arbeit gäbe, die ausschließlich den Anderen nützt – Der Film erzählt von dieser zunächst erfolgreichen Idee der Bürgerarbeit, die in Magdeburg mit 20 »Bürgerarbeitern« in einer Behindertenwerkstatt startete und als gezähmter Tiger als bundesweites Projekt 2014 für beendet erklärt werden soll. Und bietet die reizvolle Frage an, wo wir hinkämen, wenn Menschen ihren Hartz-IV-Bezug durch gemeinnützige Arbeit verdienen und dabei auch noch glücklich werden könnten. Und wo Zeit für den Nächsten zur neuen Währung wird, die man in einen Tauschring investieren kann. Die Eggesiner, filmische Großfamilie von Heth und Winkler seit mittlerweile zehn Jahren, tüfteln an solchen Ideen wie letzterer und bleiben Überlebenskünstler – ob als Mini-Jobber, Hartz-VI-Aufstocker oder Umschüler mit sehr langem Atem.
»Das Papier zählt, sonst bist du nichts in Deutschland«, sagt Student Adnan aus dem Hudekamper Wohnblock, der für sein Lehramtsstudium auf vieles verzichtet. Die Wahrheit ist noch bitterer, denn das Stigma des »sozial Schwachen« kann jeden treffen – ob in Ost, West, bildungsfern oder -nah, schleichend oder im Handumdrehen und manchmal, wie in Der große Irrtum, während der Dreharbeiten. Doch »sozial schwach«, schrieb Heribert Prantl 2010 in der »SZ«, seien nicht die Menschen, sondern der Staat, dem nichts einfalle, um sie aus ihrer Armut herauszuholen. Beide Filme – die einen Pflichtplatz in deutschen Lehrplänen verdient hätten – zeigen Bürger, die ihrem Staat die Ideen bieten und/oder das Potenzial zur Umsetzung hätten. Und lassen den Schluss zu, dass wir längst reif sind für den Paradigmenwechsel, in dem Geltung nicht mehr nur mit Geld zu tun hat.
Hudekamp Sa., 11.05., 17:00 Uhr, City 3
Der große Irrtum, So., 12.05., 19:00 Uhr, City 3.