67. Filmfestspiele Cannes 2014
Sophia Loren und der Neorealismus des Lebens |
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Nur Klischees? Sophie mit großem Decollté, in Hochzeit auf italienisch | ||
(Foto: Interfilm) |
»You live and you suffer«
Antonio Ricci, in Fahrraddiebe
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In David Cronenbergs Maps to the Stars wird eine Schauspielerin mit einer Oscarstatue erschlagen – die Zuschauer applaudieren zumindest innerlich, weil sie zuvor ihre Assistentin brutal gedemütigt hat. In Relatos salvajes fliegt eine staatliche Behörde in die Luft. Bei Godard in seinem neuen Film Adieu au langage erklingt an durchaus entscheidender Stelle Pino Masis gesungene Aufforderung zum Widerstand (La caccia alle streghe), die den Refrain »Violenza, violenza« hat.
Die Lust auf grundsätzlichen Widerstand gegen die Verhältnisse nimmt zu, die Bereitschaft auch, im Kino Sympathie für Gewalt zu zeigen. Erkennbar fällt denn Leuten auf der Leinwand wie hinter der Kamera nichts anderes mehr ein, als Gesellschaftsfeinde und böse Kapitalisten zumindest virtuell umzubringen, Banken und andere institutionalisierte Feinde des Gemeinwohls in die Luft zu sprengen.
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Eine zentrale politische Frage, der auch hier in Cannes täglich in den Gesprächen der Festivalbesucher auftaucht, und an dem sich die Freiheit Europas, nicht zuletzt auch den europäischen Kinos entscheiden wird, ist das sogenannte »Freihandelsabkommen« (TTIP) zwischen der EU und den USA. Hinter dem Wort verbirgt sich de facto eher ein Angriff auf die Freiheit und die europäische Zivilisation, dort, wo sich noch nicht restlos von den USA und dem american way of life kolonialisiert wurde.
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Das geplante Abkommen TTIP dient den Interessen der Konzerne und nicht uns Bürgern. Was unter anderem gegen TTIP spricht: TTIP höhlt Demokratie und Rechtsstaat aus: Ausländische Konzerne können Staaten künftig vor nicht öffentlich tagenden Schiedsgerichten auf hohe Schadenersatzzahlungen verklagen, wenn sie Gesetze verabschieden, die ihre Gewinne schmälern. TTIP untergräbt die Freiheit: Es droht noch umfassendere Überwachung und Gängelung von Internetnutzern. Exzessive Urheberrechte erschweren den Zugang zu Kultur, Bildung und Wissenschaft.
Last not least: TTIP ist praktisch unumkehrbar: Einmal beschlossen, sind die Verträge für gewählte Politiker nicht mehr zu ändern. Denn bei jeder Änderung müssen alle Vertragspartner zustimmen. Die Bundesrepublik allein könnte aus dem Vertrag auch nicht aussteigen, da die EU den Vertrag abschließt.
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»Wenn ich mal nicht weiter weiß, gründe ich nen Arbeitskreis« – die alte Regel des Politikbetriebs befolgt auch die SPD in dieser Frage. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat jetzt so etwas ins Leben gerufen. Sein Beirat ist plural besetzt. Ihm gehören Unternehmervertreter wie der BDI-Chef Ulrich Grillo und der IHK-Chef Eric Schweitzer an. Von Gewerkschaftsseite sind Ver.di-Chef Frank Bsirske und der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel vertreten. Neben Verbandsvertretern, etwa aus der Ökolandwirtschaft, zählen auch Edda Müller (Transparency International) und der Künstler Klaus Staeck zu dem Gremium.
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Es gibt also einen Kampf der Demokratien. Hinter den vier kleinen Buchstaben versteckt sich der mögliche Untergang der europäischen Kultur. Die deutsche Kulturszene, auch wir Cinephile und Blogleser, täten gut daran, endlich aus unserem Schlaf zu erwachen und geschlossen gegen den transatlantischen Ausverkauf die Stimme zu erheben, zu wählen, zu demonstrieren.
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»There is no crisis in cinema. There are negative periods. There are times when some films are received well and others aren’t. The past teaches us that some films were received badly, while others go sailing on. ... Let television do television, let them do documentaries, but cinema as such should be shown on screens, because there’s no one more lazy than the public.«
Vittorio de Sica
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Sophia Loren stellt noch immer alle in den Schatten: Ob Julianne Moore, Mia Wasikowska oder Robert Pattinson, um mal nur einige zu nennen, die in den letzten Abenden über den roten Teppich von Cannes flanierten. Allenfalls die Anwesenheit vom allerneuesten Damenschwarm, dem Amerikaner Ryan Gosling provozierte ähnliches Fan-Geschrei und -jubel, später allerdings auch heftige Pfiffe. Gosling stellte in der Sektion Un Certain Regard nämlich seine erste Regiearbeit vor, und um Lost River für einen guten Film zu halten, musste man schon ein echter Fan sein.
Die Loren dagegen wird in diesem Jahr für ihr Lebenswerk geehrt. In der Klassiker-Schau stellte sie den frischrestaurierten Hochzeit auf italienisch von Vittorio de Sica vor, in dem sie an der Seite von Marcello Mastroianni einen glanzvollen Auftritt hat. Und zur anschließenden Wettbewerbs-Premiere kam sie als »einfache Zuschauerin« und stellte in der Gunst der Paparazzi selbst Frankreichs Star Marion Cotillard in den Schatten. In einer Masterclass wird sie dann noch über ihr Leben im Scheinwerferlicht berichten – Lorens Schnellkurs in der alten Schule des Star-Glamours riss zur Halbzeit des Festivals auch hartgesottene Cinephile mit.
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»I consider Sophia a great... a good actress and a great personality. Because she is a Neapolitan. Like me.«Vittorio de Sica
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Am Mittwoch wollte sich Violeta aus Barcelona im Salle Debussy hinsetzen, doch wenige Sekunden zuvor warf eine italienische Kritikerin über drei Sitze noch schnell einen Rucksack auf den Platz, um ihn für Kollegen zu reservieren, die noch gar nicht da waren. Ein kurzer Blickwechsel – dann nahm sie den Rucksack weg, lächelte schüchtern und sagte: »I feel ashamed. Cannes brings our worst parts out of us...«
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»Shit, ich glaube die haben mein Fahrrad gestohlen!« rief Martina am Morgen nochmal an. Es folgten drei Stunden Polizei und über 200 Euro Kaution waren auch futsch. Am nervigsten: Es ist ganz gut möglich, dass der Verleih seine eigenen Fahrräder auf diesem Weg nachts wieder einsammelt und sich auf diese Weise ein Zubrot verdient und ein zweites mit dem Geld der Versicherung. Denn das Festival ruft vielleicht auch bei den Einheimischen die schlechtesten Eigenschaften hervor.
Das alles war natürlich nicht lustig, aber es passt dann doch ganz gut zu einem Filmfestival – denn auch das Leben ist manchmal neorealistisch. Und aus Vittorio de Sicas Film wissen wir schließlich, dass Schwarz und Weiß manchmal täuscht, dass Grau in Grau der Wahrheit näher kommt, und dass manche Fahrraddiebe ihre sehr guten Gründe haben, Fahrräder zu stehlen, oder einfach Not leiden. Was die Sache nicht unbedingt besser macht, aber wenn wir uns jetzt mal vorstellen, dass der Dieb nicht ein böser versicherungsbetrügender Fahrradverleih war, sondern ein Bruder im Geiste von Antonio Ricci, dem Filmhelden bei de Sica, dann geht es einem gleich besser. Kino, auch das ist eine neorealistische Einsicht, kann trösten, selbst außerhalb des Kinosaals.
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Cannes ist sowieso ein fast italienischer Ort im Guten wie im Schlechten. Früher gehörte es mal zu Italien, man spricht von der »französischen Riviera«, und außer Sophia Loren und italienischen Filmen, ziert diesmal das Festivalplakat Marcello Mastroianni in voller Schönheit. Cannes, das ist italienisches Frankreich, so wie auch das Festival von Locarno vielleicht nicht zufällig in der italienischen Schweiz stattfindet.
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Außer dem Wettbewerbsbeitrag Le meraviglie von Alice Rohrwacher, den ich am Wochenende nachholen muss, gibt es hier nur einen italienischen Film: Incompresa von Asia Argento. Der war bei aller Liebe zur Regisseurin, leider eine Enttäuschung. Argento kann großartig Kinder inszenieren und hat viel Sinn für Pop-Glamour und Musik, aber das ist es dann eben auch.
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Alles spielt 1984 in einer dysfunktionalen Familie, und ist in einem Candy-bunten Comic Stil erzählt. Die Hauptfigur ist ein 9-jähriges Mädchen aus Rom namens Aria, der Vater ein berühmter Schauspieler, die Mutter Künstlerin und Hippie und jetzt kann sich jeder selbst überlegen, ob das irgendetwas autobiographisch mit der Regisseurin zu tun hat, deren Vater ein berühmter Filmemacher war, die Mutter Hippie und Schauspielerin und die 1984 neun Jahre alt war, in Rom aufwuchs und mit zweitem Vornamen Aria heißt.
Die Mutter wird in diesem Fall von Charlotte Gainsburg gespielt, die reichlich vollgedröhnt und verpeilt wirkt, was vielleicht ja wirklich nur gut gespielt ist, aber im Film mag man sie kaum angucken. Toll dagegen Giulia Salerno in der Hauptrolle. Argento entwirft ein Traumreich der Kindheit mit schlechten eigensüchtigen Eltern, die getrennt sind und sich nicht um ihre Kinder kümmern, auch wenn ein kleiner Selbstmordversuch Wunder bewirkt. Aria schreibt in der Schule die besten Aufsätze, hat eine beste Freundin, mit der sie sogar zusammen aufs Klo zum kotzen geht. Sonst allerlei Girls-Stuff, denn unsereiner gern sieht und sofort glaubt. Auch wer ein bisschen älter ist, hat Spielchen gespielt, wie Post klauen und öffnen, Nachbarn anrufen und zur Polizei schicken. Aber alles trägt nicht weit, ist nett anzusehen – kann aber in der Reizüberflutung nach einer Woche Festival keinen eigenen Reiz mehr entfalten.
Ein paar nette Szenen, wie eine Punk-Verwüstung der Eltern-Wohnung sind alles was von dieser Geschichte eines unglücklichen Mädchens im Gedächtnis bleibt, das sich am Schluß dann wirklich vom Balkon stürzt, und wie Schnitzlers »Fräulein Else« in einem unklaren Zwischenstockwerk zwischen Tod und Leben den Film beendet.
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Ein weiblicher Don Quixote, allein gegen die ganze Welt: Nira ist eine junge Kindergärtnerin und liebt Poesie. Eines Tages bemerkt sie, dass Yael, eines der von ihr betreuten Kinder, wie selbstverständlich dichtet. Offensichtlich eine Naturbegabung. Der Junge wird aber von seiner Umgebung und den auf begabte Kinder kaum eingestellten Institutionen nicht zureichend gefördert, und darum beschließt die junge Frau, sich auf eigene Faust des Kindes anzunehmen.
Nadav Lapid, einer der begabtesten Nachwuchsregisseure des israelischen Kinos, erzählt diese Geschichte – in seinem zweiten Spielfilm The Kindergarden Teacher, der in Cannes seine Premiere feierte. Der Film lief aber nicht im Wettbewerb, sondern in der Sektion Semaine de La Critique. Wie es sich anfühlt, wenn man Preise gewinnt, weiß Lapid bereits: 2011 gewann er den Silbernen Leopard bei den Filmfestspielen von Locarno für sein Spielfilmdebüt Ha-shoter (Policeman). »Mir ging es um die Verteidigung der nutzlosen Dinge« erzählte Lapid im Vorab-Interview: »Poesie verweigert sich den Zwängen des Ökonomismus«. Sein Film erzähle auch von einem Mysterium, denn wie ein 5-jähriger dazu komme, Gedichte zu erfinden, sei unerklärlich. Der Film sei sogar zu Teilen autobiographisch: »Im Alter zwischen 4 und 7 Jahren schrieb ich etwa 100 Gedichte« behauptet er. Obwohl Policeman, der auch in Deutschland startete, auf den ersten blick sozial-realistischer wirke, als diese Fabel, sieht der Regisseur große Ähnlichkeiten zwischen beiden Werken: »Beide Filme handeln von jungen Frauen, die sich im Krieg mit der 'Welt wie sie ist' befinden.« Auf originelle Weise fasst der Film eine sympathische Botschaft in Bilder: Die Poesie an die Macht!
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Insgesamt sechs israelische Filme liefen in Cannes, noch ein zweiter in der Semaine: Self-Made (Boreg) von der 1971 geborenen Shira Geffen. Der Film erzählt die Geschichte zweier Frauen, einer Israelin, einer Palästinenserin, deren Leben nichts miteinander gemeinsam hat. Eines Tages kommt es an einem Grenzübergang zu einer folgenschweren Verwechslung – plötzlich muss jede der jungen Frauen das Leben der anderen leben.
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Eine tolle Geschichte war die von Menahem Golan und Yoram Globus. Die beiden überaus ungleichen Cousins, die in Israel in armen Verhältnissen aufgewachsen waren, wollten diesem Leben mit aller Kraft entkommen und wagten die ungewissen Reise ins Gelobte Land – die USA der späten Sechziger. Das amerikanische Filmstudiosystem war gerade am Boden, und das so hochbegabte wie geschäftstüchtige israelische Duo wurde eher durch Zufall zu Begründern des Hollywood-Studios Cannon Films und damit einer Variante des amerikanischen Independent-Kinos. Sie produzieren Billig-Filme, darunter Schlüpfriges und Schrilles, verdienten in den 80er Jahren mit Chuck Norris und Charles Bronson-Filmen viel Geld, und verantworteten den 80er-Hit Fool for Love. So rollten sie Hollywood gewissermaßen von unten auf: Eine sehr persönliche Variante des »American Dream«. Irgendwann waren Golan und Globus so bekannt und reich, dass sie sogar mit der Queen von England verkehrten. Inzwischen ist es um die beiden stiller geworden. Hilla Medalia’s Dokumentarfilm The Go-Go-Boys, der in den »Cannes Classics« gezeigt wurde, erzählte die ungewöhnliche Geschichte der Cousins. Die israelisch-amerikanische Regisseurin war bisher für schwerere Kost bekannt: To Die in Jerusalem handelte 2007 von Selbstmordattentätern, Dancing in Jaffa erzählt von Tanzunterricht in den besetzten Gebieten – ein Film, der um die Welt ging. The Go-Go-Boys bot eine nostalgische Reise in die Vergangenheit des Kinos – die Gegenwart erscheint demgegenüber natürlich weniger romantisch, und viel viel unsicherer.