28.05.2014
67. Filmfestspiele Cannes 2014

Jane Campion und die Frau­en­frage

Sils Maria
Die große Juliette Binoche. Ja. In Sils Maria von Olivier Assayas
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH)

Und Olivier Assayas' großartiger Film über Frauen, Philosophie und den Medienboulevard – Cannes-Notizen, sechste Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Alle Moral­pre­diger, wie auch alle Theologen, haben eine gemein­same Unart: Alle suchen den Menschen aufzu­reden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. ... sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts mehr am Leben zu finden und mitein­ander betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer auszu­halten sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt ... Es will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer über­trieben geredet werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu über­treiben: man schweigt dagegen geflis­sent­lich davon, dass es gegen den Schmerz eine Unzahl Linde­rungs­mittel giebt, wie Betäu­bungen, oder die fieber­hafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, oder gute und schlimme Erin­ne­rungen, Absichten, Hoff­nungen, und viele Arten von Stolz und Mitgefühl, die beinahe die Wirkung von Anäs­the­ticis haben...« Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissen­schaft; §326

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Kristin Stewart und Juliette Binoche, dazu eine ganze Handvoll bekannter deutscher Darsteller, darunter Angela Winker, Hans Zischler, Lars Eidinger und Nora von Wald­stätten in einem Film – einer unge­wöhn­li­chen Mischung aus europäi­schen wie ameri­ka­ni­schen Stars begegnet man in Sils Maria, dem in Leipzig und Berlin, in der Schweiz, und in Italien gedrehten neuen Film des Franzosen Olivier Assayas (Carlos), mit dem am Frei­tag­abend in Cannes der Wett­be­werb um die Goldene Palme zu Ende ging. Ein Film, der wie gemacht war für den Abschluss der Konkur­renz – geht es hier doch ums Kino, um Schau­spie­ler­ma­cken, um echte Kunst und falschen Star­be­trieb – in gewissem Sinn also um Cannes selber

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Binoche und Stewart spielen Maria Enders, eine berühmte Film-Schau­spie­lerin und ihre Assis­tentin Val, die immerzu mit Black­berry in der einen und iPhone in der anderen Hand die Termine des Weltstars koor­di­niert, Pres­se­an­fragen abwimmelt und PR-Mittei­lungen verfasst. Auf der Fahrt zu einer Preis­ver­lei­hung in die Schweiz stirbt der Regisseur und Entdecker von Maria – und das Stück, mit dem diese beiden einst zusammen berühmt wurden, soll nun von einem deutschen Regisseur neu insze­niert werden. Im Stück geht es um das Verhältnis zwischen einer älteren mächtigen und einer jüngeren, ihre Karriere und ihr Leben erst findenden Frau, das zwischen Freund­schaft und Konkur­renz, Anziehung und Rivalität schwankt. Kunst und Leben vermi­schen sich auch für Maria und Viv zusehends. Auf einem Chalet nahe bei Sankt Moritz bereitet sich Maria auf die nur wider­willig ange­nom­mene Rolle vor. Während sie bei Berg­wan­de­rungen Erholung suchen, kommt noch eine dritte Frau in ihren Blick und den des Zuschauers: Das Hollywood-Starlet Joe-Ann, das in der Neuauf­lage die jüngere Frau spielen und damit Marias alte Rolle über­nehmen soll. Sie ist absolut modern, wozu gehört, dass sie auf Schritt und Tritt von Paparazzi verfolgt wird.

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Fast wirkt diese Joe-Ann wie eine Kinokopie von Kristin Stewart, was den Charme dieser Konstel­la­tion noch zusätz­lich erhöht. Stewart hatte beim Dreh, wie der Nachspann verrät zusätz­lich zu einer eigenen Assis­tentin auch noch einen persön­li­chen Bodyguard – auch hier kopiert Kino das Leben und umgekehrt. Zugleich ist Stewart die Über­ra­schung des Films: Sie spielt, ausge­zeichnet, intensiv, und man erwischt sich dabei melan­cho­lisch zu werden ob der hunderten von Chancen die das ameri­ka­ni­sche Kino jährlich verschenkt: Durch­for­ma­tiert und über­scripted hat im US-Kino die künst­le­ri­sche Freiheit kaum eine Chance.

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Sils Maria ist erstaun­li­cher Film: Überaus gelassen, ruhig, ohne abgeklärt zu sein, sinnlich und schön. Eine tolle Reflexion über das Kino, auf die wir in den nächsten Tagen bestimmt noch zurück­kommen. Der Film ist auch amüsant, klug, ironisch, überaus witzig und strotzt nur so von scharf­sin­nigen, sarkas­ti­schen Sottisen über den heutigen Star­be­trieb. Denn dies ist ebensogut, wie er ein Film über den Boulevard ist, den Star­be­trieb, der auch von seinen Feinden noch zu ernst genommen wird, auch ein Film über das Kino. Er handelt von ähnlichen Fragen, wie sie Godard und Cronen­berg aufgreifen, und steht damit auch dem mit Sils Maria untrennbar verknüpften Deka­denz­phi­lo­so­phen Friedrich Nietzsche nahe – und Cronen­berg wie Godard sind Nietz­scheaner des Kinos.

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Darum dreht sich der Film in seinem Hohn­gelächter über die Gegenwart doch um ernste Themen, ums Altern, um den Gene­ra­ti­ons­kon­flikt zwischen den Frauen. Um Frauen überhaupt. Schon vor unseren bald folgenden Cannes-Bilanzen kann man fest­halten: Lange gab es nicht so viele Filme mit außer­ge­wöhn­li­chen Frau­en­fi­guren, wie in diesem Jahr.

Sils Maria stellt die Frage, in was für einer Welt wir eigent­lich leben, wie Boule­vard­jour­na­lismus und der alltäg­liche Medien-Tsunami uns dumm machen, und worauf es im Leben wirklich ankommt.

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»Die Tatsache, dass alles wieder­kehrt, ist die extremste Annähe­rung der Welt des Werdens an die des Seins – Gipfel der Betrach­tung.«
Friedrich Nietzsche, wie er dazu notiert »Anfang August 1881 in Sils Maria 6500 Fuß über dem Meer und viel höher über allen Dingen der Menschen.«

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Jane Campion und die Frau­en­frage – das wurde an den letzten zehn Tagen oft disku­tiert. Wie wird die erklärte Femi­nistin entscheiden? Wäre ein Preis für eine der beiden Regis­seu­rinnen gar eine rein poli­ti­sche Konzes­sion? Bran­chen­ma­gazin Variety unter­stellte so etwas in seinem Abschluß­be­richt. Als müsse Campion den Preis einem Mann geben, um die Frauen im Wett­be­werb gegen Verdacht zu schützen.

Was ist jetzt nochmal die Frage der Frauen? Kann mir niemand beant­worten. Diese Frau­en­frage stellt sich jeden­falls zu zumindest meiner Über­ra­schung als wichtiger heraus, als man das im 21. Jahr­hun­dert für möglich hält. Allein Campions Präsenz als Jury­prä­si­dentin führt bereits dazu, dass mehr über das Thema disku­tiert wird.

Wäre gegen solche »positive Diskri­mi­nie­rung« überhaupt etwas zu sagen? Finde ich gar nicht. Viel­leicht ist die Lage der Frauen in der Männer­ge­sell­schaft tatsäch­lich derart fatal, dass ihre nahezu einzige Chance auf eine Goldene Palme eine weiblich geführte Jury ist? Jeden­falls finde ich nicht, dass ein solch' poli­ti­sches Denken »poor feminism« wäre. Einst­weilen ist Campion, die einzige Frau, die je die Goldene Palme gewonnen hat. Da wird es Zeit. Und mit Naomi Kawase gibt es eine Kandi­datin.

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»Wenn Männer Männern Preise geben, sagt auch keiner was«, meint Martina. Das stimmt zwar, aber wenn Männer Männern Preise geben, dann tun sie es wohl tatsäch­lich eher selten, weil die Preis­träger Männer sind. Eher schon viel­leicht, weil sie Frauen keine Preise geben wollen.

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Im Interview mit Ernesto aus Chile hat Thierry Fremaux auf die Frau­en­frage erklärt, es sei nicht der Fehler von Festivals, wenn keine oder nur wenige Frauen im Wett­be­werb liefen, es sei der Fehler der Industrie. »The festival is just reflec­ting, what’s happening in the industry.« Da hat er einen Punkt, finde ich.

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Kawase würde ich den Preis jeden­falls sowieso am meisten wünschen. Ich glaube nicht dran. Es gibt ein paar Frau­en­ver­steher-Fime, die bestimmt geeignete Kompro­miss­kan­di­daten wären. Olivier Assayas Sils Maria zum Beispiel, mehr noch aber Xavier Dolan mit seinem proll­ver­herr­li­chenden, sehr kitschigen, aber schon auch guten Mütter­lich­keits­epos Mommy – für mich ist der zu manie­riert und affek­tiert, bei allen guten Ideen. Das wäre eher der Preis für die beste Schau­spie­lerin. Und sogar Tommy Lee Jones The Homesman – obwohl man sich das nicht richtig vorstellen kann.

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Aber was meinen die anderen? Wer führt beim Spiegel von critic.de bei dem ich ebenso mitmache, wie bei dem inter­na­tio­nalen vom Argen­ti­nier Diego Lerer?