67. Filmfestspiele Cannes 2014
Jane Campion und die Frauenfrage |
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Die große Juliette Binoche. Ja. In Sils Maria von Olivier Assayas | ||
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH) |
»Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart: Alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. ... sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts mehr am Leben zu finden und miteinander betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer auszuhalten sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt ... Es will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer übertrieben geredet werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu übertreiben: man schweigt dagegen geflissentlich davon, dass es gegen den Schmerz eine Unzahl Linderungsmittel giebt, wie Betäubungen, oder die fieberhafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, oder gute und schlimme Erinnerungen, Absichten, Hoffnungen, und viele Arten von Stolz und Mitgefühl, die beinahe die Wirkung von Anästheticis haben...« Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft; §326
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Kristin Stewart und Juliette Binoche, dazu eine ganze Handvoll bekannter deutscher Darsteller, darunter Angela Winker, Hans Zischler, Lars Eidinger und Nora von Waldstätten in einem Film – einer ungewöhnlichen Mischung aus europäischen wie amerikanischen Stars begegnet man in Sils Maria, dem in Leipzig und Berlin, in der Schweiz, und in Italien gedrehten neuen Film des Franzosen Olivier Assayas (Carlos), mit dem am Freitagabend in Cannes der Wettbewerb um die Goldene Palme zu Ende ging. Ein Film, der wie gemacht war für den Abschluss der Konkurrenz – geht es hier doch ums Kino, um Schauspielermacken, um echte Kunst und falschen Starbetrieb – in gewissem Sinn also um Cannes selber
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Binoche und Stewart spielen Maria Enders, eine berühmte Film-Schauspielerin und ihre Assistentin Val, die immerzu mit Blackberry in der einen und iPhone in der anderen Hand die Termine des Weltstars koordiniert, Presseanfragen abwimmelt und PR-Mitteilungen verfasst. Auf der Fahrt zu einer Preisverleihung in die Schweiz stirbt der Regisseur und Entdecker von Maria – und das Stück, mit dem diese beiden einst zusammen berühmt wurden, soll nun von einem deutschen Regisseur neu inszeniert werden. Im Stück geht es um das Verhältnis zwischen einer älteren mächtigen und einer jüngeren, ihre Karriere und ihr Leben erst findenden Frau, das zwischen Freundschaft und Konkurrenz, Anziehung und Rivalität schwankt. Kunst und Leben vermischen sich auch für Maria und Viv zusehends. Auf einem Chalet nahe bei Sankt Moritz bereitet sich Maria auf die nur widerwillig angenommene Rolle vor. Während sie bei Bergwanderungen Erholung suchen, kommt noch eine dritte Frau in ihren Blick und den des Zuschauers: Das Hollywood-Starlet Joe-Ann, das in der Neuauflage die jüngere Frau spielen und damit Marias alte Rolle übernehmen soll. Sie ist absolut modern, wozu gehört, dass sie auf Schritt und Tritt von Paparazzi verfolgt wird.
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Fast wirkt diese Joe-Ann wie eine Kinokopie von Kristin Stewart, was den Charme dieser Konstellation noch zusätzlich erhöht. Stewart hatte beim Dreh, wie der Nachspann verrät zusätzlich zu einer eigenen Assistentin auch noch einen persönlichen Bodyguard – auch hier kopiert Kino das Leben und umgekehrt. Zugleich ist Stewart die Überraschung des Films: Sie spielt, ausgezeichnet, intensiv, und man erwischt sich dabei melancholisch zu werden ob der hunderten von Chancen die das amerikanische Kino jährlich verschenkt: Durchformatiert und überscripted hat im US-Kino die künstlerische Freiheit kaum eine Chance.
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Sils Maria ist erstaunlicher Film: Überaus gelassen, ruhig, ohne abgeklärt zu sein, sinnlich und schön. Eine tolle Reflexion über das Kino, auf die wir in den nächsten Tagen bestimmt noch zurückkommen. Der Film ist auch amüsant, klug, ironisch, überaus witzig und strotzt nur so von scharfsinnigen, sarkastischen Sottisen über den heutigen Starbetrieb. Denn dies ist ebensogut, wie er ein Film über den Boulevard ist, den Starbetrieb, der auch von seinen Feinden noch zu ernst genommen wird, auch ein Film über das Kino. Er handelt von ähnlichen Fragen, wie sie Godard und Cronenberg aufgreifen, und steht damit auch dem mit Sils Maria untrennbar verknüpften Dekadenzphilosophen Friedrich Nietzsche nahe – und Cronenberg wie Godard sind Nietzscheaner des Kinos.
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Darum dreht sich der Film in seinem Hohngelächter über die Gegenwart doch um ernste Themen, ums Altern, um den Generationskonflikt zwischen den Frauen. Um Frauen überhaupt. Schon vor unseren bald folgenden Cannes-Bilanzen kann man festhalten: Lange gab es nicht so viele Filme mit außergewöhnlichen Frauenfiguren, wie in diesem Jahr.
Sils Maria stellt die Frage, in was für einer Welt wir eigentlich leben, wie Boulevardjournalismus und der alltägliche Medien-Tsunami uns dumm machen, und worauf es im Leben wirklich ankommt.
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»Die Tatsache, dass alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung der Welt des Werdens an die des Seins – Gipfel der Betrachtung.«
Friedrich Nietzsche, wie er dazu notiert »Anfang August 1881 in Sils Maria 6500 Fuß über dem Meer und viel höher über allen Dingen der Menschen.«
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Jane Campion und die Frauenfrage – das wurde an den letzten zehn Tagen oft diskutiert. Wie wird die erklärte Feministin entscheiden? Wäre ein Preis für eine der beiden Regisseurinnen gar eine rein politische Konzession? Branchenmagazin Variety unterstellte so etwas in seinem Abschlußbericht. Als müsse Campion den Preis einem Mann geben, um die Frauen im Wettbewerb gegen Verdacht zu schützen.
Was ist jetzt nochmal die Frage der Frauen? Kann mir niemand beantworten. Diese Frauenfrage stellt sich jedenfalls zu zumindest meiner Überraschung als wichtiger heraus, als man das im 21. Jahrhundert für möglich hält. Allein Campions Präsenz als Jurypräsidentin führt bereits dazu, dass mehr über das Thema diskutiert wird.
Wäre gegen solche »positive Diskriminierung« überhaupt etwas zu sagen? Finde ich gar nicht. Vielleicht ist die Lage der Frauen in der Männergesellschaft tatsächlich derart fatal, dass ihre nahezu einzige Chance auf eine Goldene Palme eine weiblich geführte Jury ist? Jedenfalls finde ich nicht, dass ein solch' politisches Denken »poor feminism« wäre. Einstweilen ist Campion, die einzige Frau, die je die Goldene Palme gewonnen hat. Da wird es Zeit. Und mit Naomi Kawase gibt es eine Kandidatin.
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»Wenn Männer Männern Preise geben, sagt auch keiner was«, meint Martina. Das stimmt zwar, aber wenn Männer Männern Preise geben, dann tun sie es wohl tatsächlich eher selten, weil die Preisträger Männer sind. Eher schon vielleicht, weil sie Frauen keine Preise geben wollen.
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Im Interview mit Ernesto aus Chile hat Thierry Fremaux auf die Frauenfrage erklärt, es sei nicht der Fehler von Festivals, wenn keine oder nur wenige Frauen im Wettbewerb liefen, es sei der Fehler der Industrie. »The festival is just reflecting, what’s happening in the industry.« Da hat er einen Punkt, finde ich.
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Kawase würde ich den Preis jedenfalls sowieso am meisten wünschen. Ich glaube nicht dran. Es gibt ein paar Frauenversteher-Fime, die bestimmt geeignete Kompromisskandidaten wären. Olivier Assayas Sils Maria zum Beispiel, mehr noch aber Xavier Dolan mit seinem prollverherrlichenden, sehr kitschigen, aber schon auch guten Mütterlichkeitsepos Mommy – für mich ist der zu manieriert und affektiert, bei allen guten Ideen. Das wäre eher der Preis für die beste Schauspielerin. Und sogar Tommy Lee Jones The Homesman – obwohl man sich das nicht richtig vorstellen kann.
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Aber was meinen die anderen? Wer führt beim Spiegel von critic.de bei dem ich ebenso mitmache, wie bei dem internationalen vom Argentinier Diego Lerer?