Cinema Moralia – Folge 97
Neue Grenzen und alte Instinkte |
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Hundert Jahre türkischer Film – Aus der Ausstellung »One Hundred Years of Love« in der Istanbul Modern |
Jedem, der es noch nicht gemacht hat, kann ich nur dringend raten, in Interstellar zu gehen – den leider in Deutschland besonders zahlreichen Kritikern zum Trotz. Am letzten Wochenende habe ich ihn zum zweiten Mal gesehen, diesmal auf IMAX-Leinwand, und diese Entscheidung keine Sekunde bereut. Im Gegenteil: Der Film verträgt gut das mehrmalige Schauen, und ein Effekt ist natürlich auch der, dass man den Film beim zweiten Mal etwas analytischer sieht, und beginnt zu verstehen, wie er gemacht ist. Viel deutlicher wird dabei dann, wie Nolan die Tempi wechselt, wie genau und klug die Zeitökonomie von Interstellar gebaut ist. Und IMAX ist für den Film ideal – weil Interstellar auf Filmmaterial gedreht wurde. Spätestens hier sieht man das. Ein derartiges Spiel mit Unschärfen wäre digital meines Erachtens gar nicht hinzubekommen. Jedenfalls habe ich es noch nie gesehen.
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2001: A Space Odyssey, Stanley Kubricks ausgezeichneter Film, ist natürlich eine offenkundige Referenz für diesen bisher besten Film Nolans. Nolan ist ja mehr als Kubrick durchaus ein Filmemacher, über den man streiten kann. Interstellar aber ist hervorragend, auch weil man über ihn
produktiv streiten kann, weil er überhaupt Gespräche ermöglicht, die von Inhalten handeln. Zum Beispiel auch darüber, ob es nicht höchste Zeit wäre für eine Renaissance des Fortschrittsdenkens.
Darüber sprach neulich auch der Philosoph Slavoj Zizek in einem – übrigens auch witzigen – Vortrag an der »London School of Economics«. Zizek bemerkt die absurde Gleichzeitigkeit zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, die Tatsache, dass wir in Zeiten leben, in denen
einerseits Unglaubliches technisch möglich zu sein scheint, kaufen kann man auch alles Mögliche, sofern man das Geld hat, in der der Politik ist aber gar nichts mehr möglich. Das System wirkt dysfunktional, die diversen Krisen scheinen unlösbar.
Vom Ausbruch aus solcher Situation handelt Interstellar, von den »New Frontiers«, die John F. Kennedy einst beschwor. New Frontiers, die würden
uns allen gut tun.
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Ein schöner Fund – merci, Martina! – auf der Seite des »British Film Institute«: Dort wurde gerade ein Brief erstmals veröffentlicht, den Stanley Kubrick vor 50 Jahren an den Schriftsteller Arthur C. Clarke schrieb, und in dem er diesem vorschlug, mit ihm bei einem »richtig guten« Science-Fiction mitzuarbeiten. Der Beginn einer Männerfreundschaft: Kubrick gesteht seine Bewunderung für Clarkes Bücher, und auch Clarke flirtet: In seiner Antwort sagt er, Kubricks »Lolita« habe er zweimal gesehen, »the first time to enjoy it, the second time to see how it was done.« Mit diesen Sätzen begann ihre Zusammenarbeit.
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»Quo vadis deutsches Kino?« fragt wieder das Festival »Around the World in 14 Films« von Bernhard Karl, den man auch in München kennt, nicht zuletzt als kompetenten Programmmacher des Filmfests. Auch ich bin auf dem Podium dabei, und freue mich auf die gewohnt streitbare Standortbestimmung des deutschen Films.
Leider ist immer alles etwas zu knapp gerechnet, und gerade wenn es richtig spannend wird, müssen alle ins Kino. In der Einladung verlinkt war außer einem »Cinema
Moralia«-Artikel auch ein Text aus der Welt. Als ich zuerst nur die Überschrift mit dem Titel »Bei Amtsantritt fand ich eine katastrophale Lage« las, fragte ich mich, wer das jetzt wohl gesagt hatte? Wer würde wohl derart alarmistisch formulieren? Dieter Kosslick? Der neue Chefredakteur der »Welt«? Oder der ehemalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann?
Aber nein – ausgerechnet Neumanns Nachfolgerin Monika Grütters. Da wollen wir doch mal gleich nachlesen, wie sie das
denn gemeint hat: Welt-Interview.
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Ein paar interessante Fakten sollten ja nicht übersehen werden: Filmkunst zieht in Deutschland nämlich immer mehr Heavy User an. Mehr als jeder vierte Besucher sogenannter »Arthouse«-Filme (26,4%) war 2013 nämlich mindestens siebenmal im Kino, und damit fast so oft wie ein durchschnittlicher Däne. Insgesamt wurden im letzten Jahr 777 Kinosäle – davon 645 in reinen Programmkinos und 132 einzelne Programmkinosäle – von ihren Betreibern als Studio-, Programm- oder Filmkunstkino klassifiziert. Das sind 16,9 Prozent aller Leinwände und 6 weniger als im Jahr davor. Programmkinoleinwände generierten 12,2 Prozent des gesamten Besucheraufkommens und erwirtschafteten bei einem durchschnittlichen Eintrittspreis von 6,87 Euro (Gesamtmarkt 7,89 Euro) einen Ticketumsatz von 108,3 Mio. Euro.
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Bezweifeln oder besser für Wunschdenken halten darf man dagegen die Behauptung, die Zuschauer entschieden sich für einen Kinobesuch »wegen einer guten Geschichte«, wie der AG Kino-Vorsitzende Christian Bräuer neulich bei einem Panel meinte. Die Zuschauer kennen ja diese Geschichte gar nicht, haben allenfalls eine Vorstellung davon. Was sie kennen, sind die Stars, den Filmtrailer und die Kinoplakate.
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Wer das nicht glauben will, der sollte bis Anfang Januar nach Istanbul fliegen. Dort läuft derzeit im Museum »Istanbul Modern« eine hochinteressante Ausstellung – »One hundred years of love« – zum Verhältnis zwischen Kino und Publikum. Dargestellt wird darin zwar einerseits die Filmvermarktung – Premieren und Galas, Trailer und Plakate, Festivals und die früher aufwendige Gestaltung der Kinopaläste –, andererseits all das, was das Publikum selbst daraus macht: Fanzines, Sammlungen von Fotos, Autogrammkarten, Poster, der Fetischismus mit dem unsereins bestimmte Eintrittskarten und Programmhefte aufbewahrt.
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Der eigentliche Anlass der Schau ist das hundertjährige Jubiläum des türkischen Kinos. Es wird derzeit überall gefeiert, und als der Türke Nuri Bilge Ceylan im Mai in Cannes die Goldene Palme für Wintersleep gewann, widmete er den Preis in seiner Dankesrede dem »hundertsten Geburtstag des türkischen Kinos«. Das Problem bei der Sache: Jenen angebliche erste türkische Film, der vor hundert Jahren, im November 1914 gedreht wurde, hat nie jemand gesehen. Es gibt
keine Augenzeugenberichte, keine Rezensionen, keine verzeichnete Kinopremiere. Selbst die Töchter des Regisseurs wissen nicht, ob der Film je existierte. Falls er es tat, ist er verschollen. Um was, aber handelt es sich? Der Film heißt The Demolition of the Russian Monument at St Stephen (Ayastefanos'taki Rus abidesinin yikilisi), und ist ein Dokumentarfilm. Regisseur, besser Kameramann war der Offizier Fuat Uzkinay.
Unklar
ist, ob der Film überhaupt je existierte. Erst recht bizarr wird es durch die Tatsache, dass die Bewertungen durch 81 Personen dem Film auf der »Internet Movie Database« eine Bewertung von 8.5 verschaffen. Was haben sie gesehen?
Ein Märchen aus 1001 Nacht? Natürlich möchte man jetzt gleich eine Mockumentary drehen, in der man jene 81 zu ihren Eindrücken befragt. Was hätten sie zu erzählen? Was wissen sie, was wir nicht wissen?
Und dann einen zweiten Film: Darin müsste es um einen
Regisseur gehen, der im Auftrag der Regierung die Lücke füllen und den fehlenden Film fälschen, also nachdrehen soll.
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Berlin kann sich vor Festivals gar nicht retten. Neben »Around the World in 14 Films«, einem echten Publikumsfestival wo jenes geneigte Publikum, zumindest das Berliner Filme gucken kann, die Cannes und andere Festivals der Berlinale abgeluchst haben, und die meilenweit besser sind, als das, was da im Februar als »A-Wettbewerb« präsentiert wird.
Es gibt aber auch die französische Filmwoche, die morgen beginnt
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Die Kampagne gegen TTIP geht weiter. TTIP bekommt neue, mächtige Gegner. Gegen die Beschlusslage seiner Partei will der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Konzernen Milliardenklagen vor Schiedstribunalen erlauben. Die Parlamente in den Niederlanden, Österreich und Frankreich haben dagegen Schiedsgerichte bereits abgelehnt.
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Nicht viel anders geht es beim Urheberrecht – außer dass die Dinge da etwas komplizierter liegen, und die Menschen schlechter informiert sind. Das sehr verdienstvolle »Erich Pommer Institut« hat gerade einen »Kongress Urheberrechtspolitik« veranstaltet, mit interessanten Fragen und Themen, nur leider etwas einseitig besetzt. Denn die Position der EU-Kommission und die Agenda der Bundesregierung sind ja glücklicherweise nicht alles.
Bei der Veranstaltung waren
dann nur parlamentarisch etablierte Parteien und Institutionen anwesend, aber weder Vertreter der User, des Netzes, noch etwa der Piratenpartei oder der FDP – gerade die beiden letzteren hätten hier vom Mainstream abweichende Positionen. Und auch internationale Redner gab es nicht. Dabei ist das Thema selbst international.
Die Sprache verrät in diesem Themenbereich Bände. Eine Veranstaltung heißt dann eben: »Welche rechtlichen Grenzen hat Kreativität?« Darin geht
es um Unterrichtsmaterial zum »User Generated Content«. Man könnte ja auch von den Möglichkeiten sprechen. Davon, wie Filmemacher und andere Kreative das tun können, was sie wollen. Aber die deutschen Medieninstitutionen interessieren sich eben mehr für Grenzen, vor allem bei der Kreativität.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.