31. Filmfest München 2014
Fasten, Filme, Völlerei |
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Jon Favreaus Chef | ||
(Foto: Studiocanal GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Für den wahren Münchner Anhänger des Cineastentums beginnt die Fastenzeit nicht um Ostern, sondern im Hochsommer: Man sperrt sich allein unter Glaubensbrüdern und -schwestern, unsaisonal züchtig bekleidet, in dunkle, unterkühlte Kammern, zischt tadelnd Verstöße gegen das Schweigegebot nieder, zehrt von seinen Sitzfleischvorräten und füllt seine Pilger-PE-Flasche wieder und wieder an den Quellen der Lichtspielhaus-WCs. Man erntet für diese vermeintliche Selbstgeißelung oft ungläubige Blicke der säkularen Mitwelt, die einstweilen ihre sündig entblößten Körper der Wollust von Sonnenanbetung, Isar, Biergarten und Fußball-WM hingibt. Nicht begreifend, dass unsereins solche Freuden in sublimierter, transzendierter Form von der Leinwand herab empfängt.
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Auf einem Bauernmarkt erledigt ein einst gefeierter Chefkoch seinen Tageseinkauf. Sorgfältig kontrolliert er Obst und Gemüse auf Druckstellen und gibt den Händlern genaue Anweisungen, wie seine nächste Lieferung auszusehen hat. Neben ihm quengelt sein entfremdeter Sohn, er verlangt nach karamellisiertem Popcorn.
Damit erregt er endlich die Aufmerksamkeit des Vaters.
Was habe er ihm beigebracht? Popcorn ist nichts weiter als leere Kohlenhydrate, ummantelt
von Zucker. Ernährungswissenschaftlich betrachtet Müll. Ob er nicht lieber eine der reifen, süßen Früchte möchte, eines dieser Meisterwerke der Natur, eine dieser vernünftigen Alternativen?
Der Sohn scheint sich von dem elterlichen Rat nicht beeindrucken haben zu lassen. Bereits in der nächsten Szene spazieren die beiden mit einer großen Tüte Popcorn über den Markt, in die auch der Vater genüsslich und häufig greift.
Chef, der ersten Independent Arbeit Jon Favreaus, seit dieser 2008 mit Iron Man den Grundstein für Marvels, die Multiplexe dominierendes Superheldenfilmimperium setzte, merkt man an, dass sie eine Herzensangelegenheit des Regisseurs, Schauspielers und Drehbuchautoren war.
Auf den
ersten Blick hat sein Film über einen Chefkoch, der sich nach einer vernichtenden Kritik mit einem Food Truck selbstständig macht, wenig mit den überdimensionalen Superhelden-Filmen zu tun, in die Favreau seit Jahren verwickelt ist. Und doch lässt sich die sommerliche Komödie als Metapher auf das Filmgeschäft lesen.
Der Restaurantbesitzer und Finanzier fürchtet um seine Investition und verdammt seinen Küchenchef dazu, für den angekündigten Kritiker noch einmal nur nach erprobtem Rezept zu kochen, obwohl genau dieses Menu aus unoriginellen Verkaufsschlagern für die erste schlechte Kritik verantwortlich war.
Der erboste Künstler beschuldigt den dünkelhaften Kritiker nach einem erneuten Verriss, keine Kompetenz auf seinem Fachgebiet zu haben.
Der vom Gastronomiebetrieb
desillusionierte Rebell macht sich mit seinem Food Truck unabhängig, um auf diesem Weg sein kreatives Talent frei auszuleben und in direkten Kontakt zu seinem Publikum zu treten.
Chef ist gespickt mit Momenten, die sich ohne viel Mühe auf das häufig methodische, jegliches Talent unterdrückende Schaffen im Filmgeschäft übertragen lassen. Doch Favreau geht letztlich versöhnlicher mit der kommerziellen Seite seines Berufs ins Gericht, als man das von Filmen über die Schattenseiten Hollywoods gewohnt ist.
Favreau geht es nicht darum, dem Popcornkino seinen
Nährwert abzusprechen. Viel mehr will er die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie man mit Leidenschaft und Respekt der eigenen Arbeit gegenüber Produkten mit altbekannten Rezepten durch sorgfältige Zubereitung neue Facetten abgewinnen kann.
Für diese Botschaft wird selbst der Abspann genutzt, in dem wir eine Anleitung von Roy Choi (dem kulinarischen Berater des Films und seines Zeichens selbst Food Truck Koch) erhalten, wie man mit höchster Sorgfalt und hingebungsvoller
Zuneigung für den Vorgang ein einfaches gegrilltes Käsesandwich zubereitet. Ein Arbeitsaufwand, den man anhand des optisch wenig spektakulären Endprodukts leicht für übertrieben halten mag. Und doch ahnt man, dass man nach dem Genuss eines so entstandenen Sandwiches einem hastig zusammengesetzten Käsebrot nur noch wenig abzugewinnen vermag.
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Katz’s Diner ist hierzulande vor allem für die Apfelkuchen & Orgasmus-Szene aus When Harry Met Sally... bekannt. In New York aber war er schon lang vorher und ist noch immer eine Institution wegen seiner legendären Pastrami-Sandwiches. Wobei Katz' Definition von »Sandwich« in diesem Fall ist: Ein Berg von frisch heruntergesäbelten, dampfenden Fleischs, den oben
und unten zwei dünne Scheibchen Weißbrot verzweifelt irgendwie fassbar zu machen versuchen. Und niemand käme je auf die Idee, Katz' Pastrami-Sandwiches danach zu beurteilen, wie fad diese Toast-Greifhilfe schmeckt.
Insofern soll es auch keine grundsätzliche Kritik an der eigentlichen Füllung des diesjährigen Festival-Programms sein, wenn man den rahmenden Eröffnungs- und Abschlussfilm beide auf ihre Weise für missraten erachtet.
Wobei sich ja ohnehin selbst verunglückte
Filme als in der Funktion durchaus brauchbare Wahl erweisen können: Jean-Pierre Jeunets The Young and Prodigious T.S. Spivet war durchaus geeignet, das Premierenpublikum bis zum Buffet bei Laune zu halten. Er kann mit Namen aufwarten, die auch der Gelegenheits-Kinogänger schon mal gehört hat (und was stört’s dann, wenn man Helena Bonham Carter und Judy Davis noch nie so von der
Regie alleingelassen, planlos chargierend erlebt hat). Er weckt Erinnerungen an den Eröffnungsfilm-Glücksgriff damals mit Jeunets Le fabuleux destin d’Amélie Poulain – von dem T.S. Spivet freilich Welten entfernt ist. Und er hält all die Signaltafeln hoch von »Fantasie«,
»Rührung« etc., die vielen offenbar genügen und den Blick darauf ersparen, was davon tatsächlich vorhanden ist. Sonst freilich hätten sie gesehen: T.S. Spivet ist die bloße Hülse, ist nur die Behauptung eines »fantasievollen«, »rührenden« Films.
Das Grundproblem des Films ist seine Buchvorlage, Reif Larsens »The Selected Works of T. S. Spivet« – das mit seinen wunderbaren
Illustrationen genau so lange einen beglückenden Eindruck erweckt, bis man dann tatsächlich den Text des Romans liest. Der ist die teils zähe, teils schmarrig aus dem Ruder laufende Erzählung der Reise eines zwölfjährigen, obsessiv Karten- und Diagramme zeichnenden Wunderkinds durch die USA, von der Continental Divide nach Washington, D.C., um dort eine Auszeichnung des Smithsonians in Empfang zu nehmen. Nie ist die Erzählstimme glaubhaft die eines (wie immer frühreifen) Kindes,
stets kommen Larsen seine Postmoderne-Seminare und sein Wille, etwas zum Kulturkampf der USA zwischen Westen und Osten, Religion und Wissenschaft, Konservativen und Liberalen zu sagen, in die Quere.
An sich macht Jeunet das für eine Kinoadaption einzig Richtige mit dem Roman: Er schmeißt ihn erstmal weg und behält nur einen kleinen Rest an narrativem Gerüst und Motiv-Details. Im Film ist T. S. zehn statt zwölf Jahre alt – und kein Kartograph, sondern ein Tüftler-Wunderkind,
das ein Perpetuum mobile erfunden hat. (Wie halbgar alles an diesem Film ist, merkt man schon daran, dass diese Erfindung einerseits die Wissenschaftler genug überzeugt, dass sie ihm dafür einen renommierten Erfinderpreis überreichen – freilich ohne, dass darüber hinaus diese völlige Revolution unseres gesamten physikalischen Weltbilds größere Wellen zu schlagen scheint –, andererseits Spivet selbst am Ende sagt, dass seine Maschine nur sehr lange, aber nicht ewig
laufen wird. SIE ALSO KEIN PERPETUUM MOBILE IST. Verdammt.)
Was Jeunet allerdings nicht gelingt, ist der entscheidende zweite Schritt: Für den Film seine eigenen Gründe und Themen zu finden, diese Geschichte zu erzählen. Es bleibt ein Sammelsurium an Details und Szenen, die nie einen tieferen Zusammenhang finden; an Figuren, von denen keine je wirklich glaubhaft, nachvollziehbar, plastisch wird. Er schummelt sich letztlich darauf hinaus, vorgeblich ein Film über »Familie« zu sein
– doch was er dazu zu sagen hat, ist so banal wie verlogen. Zudem hat Jeunet merklich keinerlei Draht zur US-amerikanischen Mythologie und Ikonographie (gedreht wurde ohnehin in Kanada) – oder Sprache.
Was bleibt sind ein, zwei originäre Bildeinfälle des Films – das in 3D und Zeitlupe sehr eindrucksvolle Eintauchen eines Eisvogels im Wasser; ein kopfüber von der Spielplatzschaukel hängendes Mädchen, das von T. S. aus dem Zug heraus entsprechend im Handstand
begrüßt wird –, die aber wie vereinzelte Körnchen von Gewürz in einem substanzlosen Soufflé sind, dessen Koch (leider für viele erfolgreich) darauf vertraut hat, dass der Zucker schon verdecken wird, wie schlampig alles angerührt ist.
Der Abschlussfilm I Origins bewegt sich dagegen auf einem ganz anderen Niveau von Ärgernis. Auch hier handelt es sich wieder um eine sehr unbedarfte Darstellung von Wissenschaft – allerdings deutlich weniger harmlos naiv als Jeunets Gepinste.
Mike Cahills Film erzählt von einem Molekularbiologen, dessen Forschung zunächst noch den Verfechtern des »Intelligent Design«-Unsinns
einen entscheidenden Schuss vor den Bug gibt – der aber nach einer tragischen Liebesgeschichte einen möglichen wissenschaftlichen Beweis für Wiedergeburt entdeckt.
Die Kurzfassung des Films: Sie liest Coelho, er liest Dawkins – sie hat recht.
I Origins ist Teil einer neuen Welle des US-Independent-Kinos, die sich mit Nicht-Mainstream-Ästhetik und erheblichen
inhaltlichen Ambitionen Science Fiction-Ideen und -Motiven annehmen: Filme wie Upstream Color, Cahills eigener Another Earth, Coherence, Safety Not Guaranteed, etc. I Origins freilich balanciert dabei schon sehr auf der nervigen Seite des Indie-Films – Brooklyner Hipster, Manic Pixie Dream Girl und abgenudelte Radiohead-Songs auf dem Soundtrack inklusive. Doch das ist das geringe Übel.
I Origins ist Spiritualismus-Propaganda – und der entscheidende Punkt dabei ist nicht die Weltsicht, die er einem
aufdrängen will. Sondern eben, dass es Propaganda ist – keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen, sondern die manipulative Verbreitung einer vorgefassten Antwort. Man kann von einem materialistischen Weltbild überzeugt sein, und dennoch Terrence Malicks ehrliche, suchende, zweifelnde, arbeitende Annäherungen an eine Transzendenz für große, faszinierende Kunst halten. I Origins aber glaubt von Anfang an, alles zu wissen, und benutzt seine konstruierte Geschichte nur als vorgebliche Versuchsanordnung mit feststehendem Ausgang. Das ist, ganz unabhängig davon, ob man die Meinung des Films teilt oder nicht, schlichtweg billig und langweilig – jenseits aller Fragen nach wahr oder unwahr, gut oder böse.
Ein Film muss nicht mit der Realität oder einem persönlichen Bild davon übereinstimmen. Man kann
Superman nicht sinnvoll dafür kritisieren, dass der Held gegen alle physikalischen Gesetze fliegen kann. Eine Geschichte darf, muss wohl, Grundannahmen machen, die der Realität widersprechen. Das »Was wäre, wenn...?« ist ein Grundimpuls des Geschichtenerzählens überhaupt. Aber I Origins ist eben genau nicht ein Film darüber, was wäre, wenn ein überzeugter, materialistischer
Naturwissenschaftler mit einem klaren Beweis für Spiritualität konfrontiert würde. Das glaubhaft durchgespielt, weitergedacht hätte durchaus spannend sein können. I Origins ist ein Film, der mithilfe einer solchen Hauptfigur dem Publikum den Beweis liefern will, dass die Esoterik recht hat und nicht die Wissenschaft. Es ist ein Film, der auf ein »So ist es!« hinaus will. Da der Film diesen
Beweis und seine Geschichte ja aber schlicht frei nach Gutdünken erfindet, bleibt das ohne Interesse und ohne Erkenntnisgewinn.
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Filmfestfilme sind oft wie Dinkel: Man weiß, dass er besser ist für einen als Weißmehl oder magenverklebender, karamelisierter Puffmais. Aber man kaut länger darauf herum, mit einem etwas trockenen Mundgefühl und einem bitteren Nachgeschmack, den man eine Weile mit sich herumträgt. Und in früheren Jahrgängen waren die Zuckerl dann eher bewusst ausgeschrieben als kleine Sünde für zwischendurch oder nachher, wenn grad keiner aufpasst, wer da nascht.
Diesmal schien die
vermeintlich leichtere Kost selbstverständlicher unters Hauptmenü gemischt. Erstaunlich viele Filme, die nicht explizit als DAS Feelgood-Movie angepriesen waren, entließen einen ohne grundsätzliche Verzweiflung an der Menschheit.
Da war zum Beispiel diese Dokumentation über eine Gruppe notorischer, von der Welt wahlweise ignorierter oder verlachter Verlierer, die sich zusammentut mit einem heimatlosen, alternden Mann, der den Unfalltod seiner Tochter nie verarbeitet hat, sowie den Kampf einer Transgender-Frau um Anerkennung in einer von Männern dominierten Berufswelt.
Oder der Independentfilm über die zwei sich auseinander gelebt habenden Geschwister, die – gezeichnet von einem nie
aufgearbeiteten Missbrauchsfall und dem Freitod ihres Vaters – mit ihren eigenen Suizidgedanken zu kämpfen haben.
Und schließlich gar der Film über das deutsche Filmgeschäft.
Als da wären:
Next Goal Wins – dessen Geschichte man jedem Hollywood-Drehbuchautor als zu klischeeüberfrachtet und unglaubwürdig um die Ohren hauen würde. Aber das britische Regieduo Mike Brett und Steve Jamison konnte nicht ahnen, welche dramaturgischen Ausmaße ihre geplante kleine filmische Expedition annehmen würde zu der Fußballnationalmannschaft Amerikanisch-Samoas, die seit Jahren den letzten Platz der FIFA-Weltrangliste wacker
verteidigt. Zu Drehbeginn war aber auch noch nicht abzusehen, dass das einst legendär von Australien 31:0 besiegte Team sich für die WM-Qualifikation Hilfe über den US Fußballverband holen würde. Und der einzige Bewerber um den Job sich als der Holländer Thomas Rongen entpuppen würde, der mit seinen eigenen Traumata im Gepäck, aber auch dem richtigen Rezept ankommt. So dass es letztlich doch – für alle Beteiligten überraschend – zu einer klassischen »Vom Underdog zum
Sieger«-Story wurde. Wenn man dem Film etwas vorwerfen kann, dann höchstens, dass er sich im Freudentaumel zu sehr dazu hinreißen lässt, die Emotionalität – nicht zuletzt tatkräftigst unterstützt von der unablässigen Musikuntermalung – zu stark und einschichtig zu betonen. Freilich kann man sich der Begeisterung dennoch nicht entziehen – zumal es so ein schöner Film bleibt über die Leidenschaft für eine Sache an sich, ganz unabhängig vom Erfolg.
The Skeleton Twins – der zweite Spielfilm von Craig Johnson, der einen glücklich und hoffnungsvoll entlässt, ohne es sich und dem Publikum zuvor zu leicht und schmerzfrei zu machen. Das ist zu nicht geringem Teil das Verdienst von Kristen Wiig und Bill Hader – die bisher nur als Komödianten (unter anderem aus Saturday Night Live) bekannt waren. Anders als meist beim Wechsel ins ernste Fach, sind die beiden nicht nur darauf aus,
möglichst viele dramatische, tränen- und wutausbruchsreiche Oscar-Clips abzuliefern. Sondern beweisen sich – auf sich alleine gestellt wie im wirklich fast geschwisterlich vertraut scheinenden Zusammenspiel – als überraschend nuancierte Darsteller, die auch in ruhigen, wortlosen Momenten mit nur einem Blick, einem Lächeln äußerst vielschichtige Charaktere erschaffen.
The Skeleton Twins kennt das Geheimnis gelungener Feelgood Movies: Es
geht nicht darum, jede Szene vorauseilend mit versöhnlichen Glücksgefühlen zu durchtränken – sondern Trost und Hoffnung am Ende verdient, fragil und glaubhaft aufscheinen zu lassen.
Worst Case Scenario – das neue Werk des leider noch immer nur von Kennern hochgeschätzten Franz Müller, das einer Filmproduktion während der Fußball EM in Polen folgt, die noch vor Drehbeginn vor dem Nichts steht und unbeirrbar bis zum Garnichts weitermacht. Gerade weil der Film weniger kontrolliert und durchdacht ist als (Kein) Science Fiction oder Die Liebe der Kinder, über weite Strecken tatsächlich improvisiert, macht er das Chaos eines zusehends wegbröckelnden Filmprojekts umso greifbarer. Und dennoch verankert er die ausufernde Albernheit immer wieder in Momenten von nachempfindbarer Menschlichkeit.
Nach Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Satire auf typische hiesige Dritte Reichs-Schinken in Oh Boy unterstreicht Worst Case Scenario einmal mehr, dass die sympathischsten und ehrlichsten Filme der deutschen
Reihe vom Verzweifeln an den Realitäten des deutschen Filmgeschäfts handeln.
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In Olivier Assayas' neuestem Meisterwerk Clouds of Sils Maria wird in einer Szene im Kino explizit Popcorn verspeist: Die angesehene Aktrice Maria Enders (Juliette Binoche) und ihre persönliche Assistentin Valentine (Kristen Stewart) begutachten stilecht, die 3D-Brillen auf der Nase, das aktuelle Blockbuster-Werk von Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz). Der US-Jungstar Jo-Ann
soll in einer Neuinszenierung jene Rolle übernehmen, mit der Maria Enders einst spektakulär ihre Karriere begann – während sie, Maria, nun auf die Theaterbühne zurückkehren soll in dem Gegenpart der alternden Chefin, die durch die Liebe zu ihrer berechnenden jungen Assistentin in den Selbstmord getrieben wird.
An den Kinoabend schließt sich eine längere, trunkene Diskussion zwischen Enders/Binoche und Valentine/Stewart an darüber, ob es Momente der Wahrheit geben kann in
der Falschheit einer Hollywood-Superhelden-Fantasie. Enders/Binoche will über die Albernheit der Comic-Einkleidung nicht hinwegkommen – während Valentine/Stewart beharrt, dass die auch nur eine Ansammlung von Konventionen sei, grundsätzlich nicht anders, besser, schlechter als etwas die griechischer Tragödien. Und einmal akzeptiert, dahinter durchaus Persönliches, Wahres, Echtes sichtbar, spürbar werden kann.
Assayas inszeniert mit Verständnis für beide Positionen
– ihn interessiert nicht die fertige, »richtige« Meinung, sondern das Spiel. Und letztlich dreht sich der ganze Clouds of Sils Maria um die Frage: Wie viel Wahres, wie viel Welt steckt im Film? Kann in einem Film, einem Filmbild stecken?
Clouds of Sils Maria schichtet Ebene um Ebene,
knüpft Bezug um Bezug, bis ein so dichtes wie leichtes Gewebe entsteht, das an jeder Stelle schillert und in verschiedenste Tiefen blicken lässt: Vom dokumentarischen Arnold Fancks früher Bergfilme – deren Einfangen des Wolkenphänomens der »Maloja Schlange« Assayas präsentiert und heute wiederholt. Über das fiktive Theaterstück-im-Film, dessen Rollen sich in den Filmrollen widerspiegeln. Die wiederum mit den Personas der realen Darstellerinnen spielen. Bis hin zu einer
Ahnung der tatsächlichen Menschen Binoche, Stewart et al., die vor der Kamera standen.
Es wäre allein diese Dichte, Vielschichtigkeit, dieses clevere Spiel ungemein zu bewundern – das wahre Wunder des Films aber ist es, dass Assays dies alles ohne Prätention gelingt, ohne penetrante, ausgestellte Verkopftheit; dass er es fein und mit Gefühl vorträgt, und nicht ohne Humor. Dass er, bei aller Kontrolle, selbst Neugier, Offenheit und Freude am Spiel und Ergebnis zu haben
scheint.
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An Genre-Kino findet das Münchner Filmfest traditionell wenig Geschmack. Der Versuch einer eigenen Mitternachtsreihe dafür wurde wieder eingestellt – war aber ohnehin von der Programmierung her überwiegend glücklos geblieben, konnte selten das Gefühl echter Leidenschaft und Kenntnis vermitteln.
Dieses Jahr war in der Hinsicht das Hauptprogramm etwas offener und findiger: Immerhin gab es Werke wie Cold in July – die Verfilmung eines
inzwischen schon etwas betagten Romans des großartigen texanischen Tellers of tall tales Joe R. Lansdale – die freilich nur da, wo es an den Showdown ging, an die pure Gewalt, wortlose Aktion und Reaktion, wirklich Kunstfertigkeit und Einfallsreichtum bewies, während ihre Bemühungen um Charakterzeichnung, nachhaltigere Emotion, um so etwas wie eine Aussage eher klischeehaftes Stückwerk blieben. Oder den dänischen Arthouse-Werwolf-Film When Animals Dream – der bei aller atmosphärisch-ästhetischen Eigenheit und Dichte und bei allem Gefühl für die Repressivität der von ihm gezeichneten Fischerdorfs-Gemeinschaft in letzter Konsequenz freilich (weibliche) Sexualität doch ganz traditionell als etwas Monströses konstruiert.
Die wahre Domäne des Genre-Kinos aber ist und bleibt auf dem Filmfest seit jeher die Retrospektive: Erst wenn der Abstand von Jahrzehnten und die Autorität der Filmgeschichtsschreibung entsprechende Filmemacher zu Meistern geadelt haben, ist plötzlich cineastische haute cuisine, was vorher naserümpfend missachtetes Fast Food war.
Diesmal ist da dem Filmfest München freilich ein echter Coup gelungen: Walter Hill als einen der wahrhaft Großen zu erkennen, ist noch keine
Selbstverständlichkeit – und der Mann dreht sogar noch aktiv Filme, ist noch kein abgeschlossenes Sammelgebiet, kein erstarrter Teil des Kanons. Ihm die weltweit erste (nach aktuellem Stand) komplette Retrospektive zu widmen, zierte das Filmfest ganz enorm. (Auch wenn man rein als Fan sich gewünscht hätte, grade diese Retro in einem Kontext zu erleben, wo sie nicht gar so dicht gedrängt in eine ohnehin mit anderen Filmen überfüllte Woche gepresst gewesen wäre.)
Man könnte
Walter Hill wohl den letzten hauptberuflichen Western-Regisseur nennen – selbst seine Action-Filme sind in ihrem Herzen stets Western in lediglich anderem Gewand. Und den einzig legitimen Erben von Howard Hawks. (Weshalb selbst die eine Komödie in seinem Oeuvre, Brewster’s Millions, kein Ausreißer ist, sondern nur konsequent.) Sein Gesamtwerk zu würdigen, ist hier definitiv nicht der rechte, geschweige denn ausreichende Platz. Aber was man nach knapp
einer Woche mit mehreren Walter Hill-Filmen täglich allemal sagen kann: Der Eindruck ist eben der eines Werks – eines in allen Facetten zusammengehörenden, persönlichen Kosmos' von Filmen, die eine Handschrift und eine Weltsicht teilen; die von unverkennbaren Obsessionen, Sehnsüchten, Abneigungen, Themen geprägt und durchwirkt sind.
Bei einem seiner Auftritte im Filmmuseum berichtete Hill – der als Person auf so gradlinige und von allem Protzen freie Weise
profund wirkt wie seine Filme – von seinen künstlerischen Anfängen: Als Kind war er lang krank und bettlägrig und fand seine Ausflucht in der Lektüre von Abenteuergeschichten. Seine ersten Schreibversuche folgten dem alten, fatalen Ratschlag »Write what you know« (»Schreib über das, was Du selbst kennst«) und ergingen sich im Autobiographischen. Hill fand sie grauenhaft – und letztlich seltsam unpersönlich. Erst als er anfing, sich beim Schreiben an jene Dinge zu
halten, die er selbst als Leser liebte – an eben die Genre-, Abenteuer-, Western-Geschichten – hatte er das Gefühl, wirklich bei sich selbst angekommen zu sein.
Und man wird sich in der Tat schwertun, unter all den explizit autobiographischen Filmen des Festivalprogramms, unter all den Filmen über die »wirkliche Welt« und ihre »realen Probleme« auch nur einen zu finden, der sich tatsächlich persönlicher, intimer und wahrhaftiger anfühlt als etwa Hills Wild Bill oder Geronimo.
Es ist ein leider schwer ausrottbares Missverständnis, dass Kunst die explizite Wahrheits- und Wertbehauptung braucht, um wahrhaftig und bereichernd zu sein. Wie Jon Favreau in Chef, wie Kristen Stewart in Clouds of Sils Maria argumentieren, wie Walter Hill in fast jedem seiner Filme
beweist: Es gibt mehr als nur den direkten, offensichtlichen Weg, um von Persönlichem, von Wahrem und von Großem zu erzählen. Oft verbirgt sich das gerade da, wo man die Auseinandersetzung mit der Konvention annimmt, wo man sich den eigenen Träumen statt dem eigenen Alltag widmet.
Oft sind es gerade jene Filme, die weithin als bloße Weltflucht und Abkehr von der Realität gelten, in denen man als echter Kinogläubiger am meisten von der Welt und dem Menschsein erfährt.