Meisterschaft des Unvollendeten |
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El sol del membrillo feiert einen Quittenbaum, und zelebriert das Vergehen der Zeit | ||
(Foto: Ficha en IMDb Ficha en FilmAffinity) |
Von Dunja Bialas
Licht und Schatten, der das Licht verdrängt. Zeit, die in den Objekten der Welt gerinnt, sich in ihnen niederlässt: dies sind, nicht mehr und nicht weniger, die Essenzen in der Alchemie des Kinos. Kino, die Kunst in der Zeit, permanentes Werden und Vergehen.
Das Filmfestival von Locarno, eines der ältesten Europas, im italienischsprachigen Teil der Schweiz und traumhaft am Laggio Maggiore gelegen, widmet sich in seiner 67. Ausgabe in seiner Sektion »Histoire(s) du Cinéma« (certo, nach dem gleichnamigen Film von Jean-Luc Godard benannt) einem nahezu unbekannt gebliebenen spanischen Regisseur, der dieses Werden und Vergehen des Kinos in mehrfacher Hinsicht in seinen Filmen geradezu zelebriert.
Victor Erice, 1940 im baskischen Biskaia geboren, hat lediglich vier weitere Langfilme seit seinem viel beachteten Debut Der Geist des Bienenstocks (1973) realisiert, allesamt als Meisterwerke gefeiert, bevor sie wieder in Vergessenheit gerieten, dem unsteten Filmemachen von Erice selbst geschuldet, der pro Jahrzehnt allenfalls einen Film zustande brachte. Filme blieben unvollendet, Skizzen möglicher, vielleicht zukünftiger Filme, vielleicht aber auch nicht, wurden erstellt.
Sein jüngster Film, Vidros partidos aus dem Jahre 2012, ist solch ein im Status unsicherer Film. Erice zeigt in ihm Testaufnahmen zu einem Dokumentarfilm, den er in Portugal realisieren wollte (oder vielleicht noch will). Es ist der neueste der sieben Filme, die Locarno in der Werkschau zu Erice zeigt, in Portugal gedreht, eine unfertige Auftragsarbeit für die Kulturhauptstadt Guimaraes und dort vors Publikum gebracht.
Vidros partidos ist in sich eine Skizze, streift im Portrait die über hundertjährige Geschichte einer im Jahre 2002 geschlossenen Textilfabrik. Ausgangspunkt für Erice ist eine großformatige Schwarzweißfotografie, die Anfang des letzten Jahrhunderts in der Mittagspause im großen Speisesaal der Fabrik aufgenommen wurde. Eine erstaunliche Fotografie, aus der einem aus 160 Augenpaaren die Arbeiterinnen und Arbeiter entgegenblicken, vor sich Suppenteller, ein Stück Brot in der Hand. Viele der Gesichter sind ausgemergelt, oft sind die Arbeiter noch sehr jung, dies nur sichtbar in ihren kindlichen Körpern, während ihre Gesichter vorzeitig gealtert sind, die Augen trüb, die Stirn in Falten gelegt, der Blick aus einer fernen Tiefe kommend.
Vor der an der Wand hängenden Fotografie lässt Erice dann ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabrik auf einem Speisesaal-Hocker Platz nehmen, den Blick in die Kamera gerichtet, die Älteste von ihnen ist über 90. Sie beginnen zu erzählen, meist haben sie schon in Jugendjahren in der Fabrik angefangen zu arbeiten, oft haben sie die Fabrik verlassen, um woanders eine bessere Arbeit zu finden, oft sind sie zurückgekehrt. Erice lässt in seinen »Testaufnahmen«, wie durch Inserts vor den einzelnen Arbeiterportraits kapitelweise insistiert wird, jedes Zögern und Stocken in den Erzählungen bestehen, lässt sie sich hastig setzen und ebenso schnell, unfilmisch, wieder aufstehen. Allein die kleinen Verzögerungen im Filmfluss sorgen für eine Desillusionierung, eine Sichtbarwerdung des Projekts, eine Aufmerksamkeit auf das Werden und Entstehen des Films und zugleich auf die fragilen Seeleninnenlandschaften, hervorgebracht durch die Erinnerung der Erzählenden. Sie wisse nicht, was Glück sei, sagt die Neunzigjährige und lacht aus ihrem in unzählige Falten geworfenen Gesicht in die Kamera. Sie habe es nicht kennengelernt. »Alegria«, ja, das vorübergehende Fröhlichsein, das habe sie gekannt in ihrem Leben. Aber ein Gefühl des Glücks, »felicidade«, inmitten der für Portugal so bestimmenden Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben, den »saudade«, das gab es nicht. Die dunklen Augenpaare blicken weiterhin von der Fotografie, wie bejahende, aber stumme Zeitzeugen dessen, wovon die Neunzigjährige berichtet.
Gerade in seiner Skizzenhaftigkeit weiß Vidros partidos zu berühren. Fast zwanzig Jahre ist es her, seitdem Erice seinen letzten langen Film gemacht hat, ebenfalls einen Dokumentarfilm, dazwischen liegen einige wenige Kurzfilme. El sol del membrillo (Das Licht des Quittenbaums) ist ein solitärer Film aus den neunziger Jahren, gefilmt in den letzten vier Monaten im Jahre 1990, herausgebracht drei Jahre später, 1993. El sol del membrillo wurde zu dem Film, der einen unerwartet in einem Festivalprogramm begegnen kann, eine Offenbarung, der Film, der einen fassungslos vor cineastischem Glück erkennen lässt: dies hier ist ein Meisterwerk.
El sol del membrillo ist ein sehr gegenständlicher Dokumentarfilm über das Werden und Vergehen, über die Arbeit der Zeit an der Welt, auch über die kosmische Geworfenheit der künstlerischen Kreation. Erice hat den Maler Antonio López dabei gefilmt, wie er – seinerseits, im Film würde man sagen, dokumentarisch, in der Malerei heißt das dann »realistisch« – die Früchtepracht eines Quittenbaums in seinem Garten in Öl festhalten möchte. López zeigt sich dabei als ein Vermesser der Welt. In fast pedantischen Vorbereitungen gibt er sich eine feste Perspektive auf den Baum vor, schlägt als Markierungen für die Standposition des Malers Nägel in den Boden, malt mit weißer Farbe Linien an die Gartenmauer, die ihm den Horizont anzeigen, hängt für die Vertikale ein Lot auf, markiert einzelne Blätter mit einem kleinen weißen Farbenkreuz, und vermisst überhaupt die prall werdenden Quitten mit feinen weißen Strichen, die er immer wieder nachkorrigieren muss, als Insignien ihrer Reifung: hier ist der Nerd am Werk.
Immer wieder muss López so auch seine nur langsam wachsenden Ölfrüchte auf der Leinwand korrigieren und dem realen Wachstum anpassen. Freunden, die vorbeikommen und sich über das sichtlich langsame Voranschreiten des Gemäldes wundern, erläutert López sein exaktes Vorgehen. Als realistischer Maler möchte er den Augenblick festhalten, in dem sich die Herbstsonne über die Früchte ergießen und in Gold erstrahlen lassen werde. Dazu brauche er den direkten Kontakt zu den Früchten, und nur in der Exaktheit könne er das Naturereignis wiedergeben.
Der Maler López könnte auch Alter Ego des Regisseurs Erice sein, der minutiös die ebenso minutiösen Malarbeiten dokumentiert. Gefilmt wurde, wenn sich etwas ergab, ein Mikroereignis in der Zeit, dann auch oft spontan festgehalten mit einer Videokamera, weil Erice allem Anschein nach keine Aufnahmen geplant hatte und ohne 16mm-Kamera in den Garten des Malers gekommen war. Hinein brechen aus dem Off die Weltnachrichten und das immer schlechter werdende Wetter, das das vormals lichtdurchflutete, kornlebendige Bild in dämmerige Dunkelheit versenkt, holen für kurze Momente den Quittenbaum aus seiner Selbstversunkenheit heraus und werfen ihn in das Hier und Jetzt nackter Naturexistenz. Das Wetter wiederum erweist sich als größter Plotmacher des Films: Durchtränkt vom tagelang niederprasselnden Regen, muss López sich schließlich eingestehen, dass sich sein Vorhaben nicht mehr realisieren lässt, die Sonne, auf die er so sehr gewartet hatte, sich nicht mehr zeigen wird. Er räumt das unfertige Gemälde in den Keller. Ob er im nächsten Jahr an dem Bild weiterarbeiten werde?, wird López von seinen Freunden gefragt. Er verneint. Der Baum werde sein Aussehen verändert haben, andere Früchte wären gewachsen. Das Bild ließe sich in der Intensität nicht noch einmal wiederholen. Hier artikuliert López eine Unwiederbringlichkeit der Kreation, die das vordergründige Scheitern seines Projekts fast noch tragischer erscheinen lässt, dem López aber mit Nonchanlance begegnet und eine Radierung des Quittenbaums beginnt. Mit geübter Exaktheit.
In allem macht sich latenter Humor breit. Polnische Arbeiter bringen proletarische Effektivität in das Universum des Malers hinein, renovieren das Haus, während López sich mit dem Imaginären des Sonnenlichts befasst. Ein Freund des Malers muss im tiefsten Herbst die sich senkenden Blätter mit einem langen Stock beiseite halten, um den Blick auf die Früchte und Zweige freizugeben. Zigarettenstummel im Garten liegen neben verrottenden Quittenfrüchten auf dem Boden und künden vom Vergehen des Jahres und den Anstrengungen der kreativen Arbeit. Und als letzter, fast schon kannibalistischer Akt, wird das Modell des Malers vernichtet, die Früchte gepflückt und in die Küche transportiert.
Das Licht und der Schatten, die Zeit und das Wetter, das Werden und Vergehen, die Kreation und die Destruktion: Erice spinnt mit unangestrengter Leichtigkeit einen philosophischen Hintergrund zur Geschichte vom Maler und seinem Modell. Das Scheitern des Malers aber erst verleiht dem Sujet des Films echte meisterliche Größe und führt in die bescheidenen Gefilde des Menschlichen, angesichts des kosmischen Wirkens der Natur. – Jedoch: welches Scheitern?
El sol del membrillo, so lässt sich erahnen, ist der Schlüssel zum Werk Victor Erices, bestehend aus Skizzen (Vidros partidos, 2012), unfertigen Filmen (Die Dreharbeiten zu El Sur von 1983 wurden vorzeitig abgebrochen, weil das Geld fehlte, der Film dennoch nach Cannes eingeladen), Essays (La Morte Rouge von 2006: das bruchstückhafte Erinnerungsmosaik an San Sebastian, an die Kindheit und das erste Kinoerlebnis, das den Alptraum der vergangenen Kriegszeit vereint, magisch-traumhaft inszeniert). Und schließlich gibt es noch das perfekte Meisterwerk über die Nichtvollendung: El sol del membrillo.