65. Berlinale 2015
Von Ferkeln und Menschen |
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Anatol Schusters Ein idealer Ort | ||
(Foto: ARRI Worldsales) |
Ein Heimatfilm. Aber doch anderer Art. Denn der »ideale Ort«, von dem Anatol Schuster in seinem gleichnamigen Film erzählt, ist ein Dorf jenseits der Idylle, eher der ganz normale deutsche Gegenwartsalltag zwischen Langeweile und latenter Krise. Eine Gesellschaft, die sich mit sich selbst wohlfühlt, irgendwie, aber der zwischen Ferkeln und Blasmusik die Utopien abhanden gekommen sind, deren Träume sich, wo es sie noch gibt, in Vergangenheiten richten.
Schuster ruhig erzählter
Film glänzt mit schönen Beobachtungen, ungewöhnlichen Bildeinfällen – kleine Miniaturen eines Kinos der Zukunft.
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Er läuft in der »Perspektive Deutsches Kino«. Seit mittlerweile 14 Jahren gibt es diese erste von mehreren Sektionen, mit denen Berlinale-Boss Dieter Kosslick das Festival seit seinem Amtsantritt erweitert – nicht wenige würden sagen: »aufgebläht« – hat. Die »Perspektive« ist inzwischen etabliert, und wird, im Gegensatz etwa zum »Kulinarischen Kino« oder der »Natives«-Sektion, ernst genommen und beachtet.
Ihren Ruf als Nachwuchsrampe des deutschen Kinos hat sie
bisher allerdings nie ganz abschütteln können. Denn hier laufen neben Langfilmen auch kurze und mittellange Werke, Dokumentar- und Spielfilme. So gleicht die Perspektive einer Wundertüte, in die man hineinblickt, und je nach Glück Großartiges findet oder Enttäuschendes, Qualität oder schalen Durchschnitt.
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Man kann sich mit guten Gründen streiten, ob ein Film hier wirklich besser aufgehoben ist als zwei Wochen früher beim Festival von Saarbrücken, denn im Wust der 411 Berlinale-Filme geht die »Perspektive« leicht mal unter. Zuletzt aber hat sie wieder deutlich an Profil gewonnen: Gerade im letzten Jahr gelangen Leiterin Linda Söffker einige Coups: Mit dem seltenen deutschen Genre-Film Der Samurai oder dem sarkastischen Controller-Drama Zeit der Kannibalen, der erst am Montag beim deutschen Kritikerpreis abräumte, liefen dort zwei Filme, die über das ganze deutsche Kinojahr 2014 hinweg zum Besten gehörten. Die Entscheidung für Radikalität und Bosheit, für die Irritation des Zuschauers und gegen Eiapopeia-Wohlfühlkino wurde belohnt. Ein Grund mehr, in diesem Jahr mit besonderem Interesse auf die »Perspektive« zu blicken.
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Gab es im letzten Jahr einen kleinen Trend zu Jungs-Filmen neigt sich das Pendel diesmal wieder hin zu jungen Frauen: Saskia Walker erzählt von Sprache: Sex, Lisa Sperling (in Sag mir Mnemosyne) wird das Porträt eines verstorbenen Kameramanns zu einer prachtvollen kontemplativen Passage; Filippa Bauer porträtiert in Freiräume alleinerziehende, allein lebende Frauen. In Interviews aus dem Off
berichten sie von der räumlichen und emotionalen Leere, die ihre Kinder nach dem Auszug hinterlassen haben – und davon, wie sie dieser Herausforderung begegnen.
Dies sind alles Dokumentarfilme. Das ergänzt die filmisch wundervolle und im besten Sinne gewagte Spielfilmversion Im Spinnwebhaus von Mara Eibl-Eibesfeldt – eine Mutter, drei Kinder und ein modernes
Geistermärchen in schwarzweißen Bildern. Alle drei Spielfilme, alle im Cinemascope-Format gedreht, verweisen auf ein besonderes Form-Bewusstsein der Filmemacher.
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Das Interesse für Regisseurinnen entspricht der augenblicklichen Lieblingsdebatte der Berlinale und des deutschen Kinos, wo manche jetzt auch eine Regisseurinnen-Quote fordern, als ob Kunst mit einem Aufsichtsrat oder einem Parteitag vergleichbar wäre. Aber schon zeigen sich erste Risse: Will man jetzt eine Quote für das Geld oder geht es einfach darum, dass Frauen Regie führen? Und was passiert, wenn eine Produzentin mit einem Regisseur arbeiten will? Wird sie dann benachteiligt, gegenüber einem männlichen Produzenten mit einer Frau auf dem Regiestuhl, weil der gerade passt, um die Quote zu erfüllen?
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Solche Debatten werden die jungen deutschen Regisseure der »Perspektive« erst kümmern, wenn sie ihre nächsten Filme machen wollen. In ihren jetzigen Filmen sind sie in der rauen Wirklichkeit aber schon angekommen. Schwer zu sagen, ob es sich um einen Trend handelt, oder an einer Auswahl liegt, die sich besonders für Sozialrealistisches – wohlgemerkt keinen Sozialkitsch – interessiert: Aber die Perspektive-Filme wollen jedenfalls alle etwas zeigen von der
Wirklichkeit, sie wollen Lügen und Schein durchbrechen. Etwa Jakob Erwa in Homesick – ein Psychothriller über eine junge Frau, die für einen Musikwettbewerb übt und darüber fast wahnsinnig wird.
Oder Tom Sommerlattes Im Sommer wohnt er unten, der Eröffnungsfilm der Reihe. Der
erzählt eine spannende Familiengeschichte: Bruderzwist im Bankerhaus.
Der eine Sohn, David, ist als authentisches Alphatier in die Fußstapfen des Vaters getreten, der andere, Matthias, scheint dagegen aus der Art geschlagen – zumindest interessiert er sich nicht besonders für Geld und hat sich einer eher kontemplativen Lebensführung verschrieben. Die Nutzung des elterlichen Ferienhauses an der französischen Atlantikküste ist genau geregelt, nur dass David mit
seiner Frau plötzlich eine Woche früher als geplant in die sommerliche Idylle von Matthias, dessen Freundin Camille und ihrem Sohn Etienne, platzt. Sofort halten neue Regeln und Ansprüche Einzug. Doch was zuerst auf klare Machtverhältnisse hindeutet, stellt sich als offene Konstellation heraus, umso mehr als Matthias‘ Freundin ihren antiautoritären Impulsen freien Lauf lässt. Voraus ging nach Angaben der Produktion »eine Odyssee von abgesprungenen TV Sendern und abgesagten
Förderungen, einer Unterstützung in letzter Minute von der französischen Filmförderung Poitou-Charentes Cinéma und einem traumhaften Dreh«. So landet dann ein deutscher Film in Frankreich.