65. Berlinale 2015
Viagra für den Tattergreis |
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Stina Werenfels' Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Der angekündigte Skandal wirft seine Schatten voraus: Zwar ist die Verfilmung des Bestsellers Fifty Shades of Grey offensichtlich so schlecht geworden, dass man ihn bis zum Schluss versteckt hält, und selbst die Pressevorführung so spät angesetzt hat, dass selbst die Blogger – jene von ihnen, die sich das antun wollen – nur knapp vor dem Start berichten können. Doch die Premiere des Sado-Maso-Sofortpornos, die gestern Abend gegen Mitternacht auf der Berlinale zu Ende ging, soll für die Berlinale, deren Kräfte schon zur Halbzeit allmählich erschlaffen, wirken wie Viagra auf den Tattergreis. »Nackter Opportunismus« schrieb das renommierte Berliner Stadtmagazin zur Entscheidung, den Film überhaupt auf einem immer noch renommierten Kulturfilmfestival zu zeigen: »Das Festival ist unter Dieter Kosslick eventgeiler denn je geworden«, hier mache sich die Berlinale zum Büttel eines der am rigidesten geplanten Launches der letzten Jahre.
Man kann hier schließlich nicht jedes Jahr auf einen ernsthaften Autorenfilmer wie Lars von Trier und einen Skandalfilm wie Nymphomaniac hoffen. Trotzdem spielt das Thema Sex auch in diesem Jahr wieder eine wichtige Rolle in vielen Filmen. Sehenswert ist besonders Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern eine deutsch-schweizer Produktion von Stina Werenfels: Lars Eidinger und Jenny Schily spielen die Hauptrollen in dem Film, der von einer 18-jährigen geistig Behinderten erzählt, die nach dem Absetzen der Psychopharmaka aus ihrem sexuellen Dornröschenschlaf erwacht. Aber kann eine Behinderte überhaupt frei entscheiden? Kennt sie ihre Wünsche und Gelüste? Oder lässt sie sich missbrauchen? Dora... hat das Zeug zum echten Skandal, vor allem weil dieser ausgezeichnet, auch glänzend gespielte Film an unsere kulturellen Tabus rührt – und provoziert.
Das tut auch Dyke Hard, Bitte Andersons »Camp Sexploitation-Horror-Trash-Musical«, ein Film in typischer Tradition der »Panorama«-Sektion, die radikal und subversiv war, als schwules Kino noch »Pfuipfui« war, sich inzwischen aber mitunter auf den Triumphen von Gestern ausruht. Dyke Hard ist vor allem Unterhaltungskino: Mit Cyborgs, Zombies, Ninjas – und Erotik. Das wilde Leben von Gestern beschwört auch B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin eine Liebeserklärung an die Jahre vor dem Mauerfall, als Berlin noch schön und frei war – allerdings ein künstliches Paradies. Das wiederum hat er mit den 50 Schattierungen in Grau gemeinsam.
Apropos Provokation: Darüber diskutierten wir am Dienstag auf der Woche der Kritik. Ein blödes Wort, da waren sich schnell alle einig. Aber gerade weil der Begriff, denkt man über ihn zu lange nach, eher dumm ist, entfaltete er Wirkung, regte er zum Nachdenken an, weil alle wie mühsam das Thema umkreisten, was überhaupt provokativ sei – auch eine Form von Stimulanssubstanz.