65. Berlinale 2015
Ein wirklich feiner Filmjahrgang |
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Gewinner des politischen Goldenen Bären: Taxi von Jafar Panahi | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
Von Gregor Torinus
Am Tag nach der diesjährigen Berlinale-Eröffnung begann das Wettbewerbsprogramm gleich frühmorgens sehr stark mit Taxi von Jafar Panahi. Der Film, in dem der iranische Regisseur inkognito als Taxifahrer durch Teheran fährt und dabei seine unwissenden Fahrgäste filmt, fand großen Beifall. Allerdings hat zu diesem Zeitpunkt sicherlich kaum einer geahnt, dass dieses kleine Doku-Drama den Goldenen Bären gewinnen würde. Taxi ist clever, entlarvend und charmant, aber große Filmkunst sieht gewiss anders aus. Deshalb ist es keine Frage, dass die diesjährige Berlinale-Jury unter Vorsitz von Darren Aronofsky (Black Swan) bei dieser Preisvergabe nach politischen, statt nach künstlerischen Gesichtspunkten entschieden hat. Das mag für ein Filmfestival, das für seinen politischen Gehalt gerühmt wird, konsequent sein. Aber wenn nicht nur die alten Herren der Academy den Oscar bevorzugt an Filme mit Nazis, sondern auch noch die Berlinale-Jury den Goldenen Bären an Filme mit politisch engagierten Taxifahrern vergibt, muss man sich allmählich fragen, wer überhaupt noch Filmpreise für Filmkunst vergibt...
Mit Werner Herzogs Wüstensaga Queen of the Desert spielte auch der zweite Wettbewerbsbeitrag des Tages im Nahen Osten. Doch sollte man für den deutschen Altmeister hoffen, dass sehr bald alle Erinnerungen an diese fade Hollywood-Schmonzette unter tiefsten Wüstensand begraben werden... Uneingeschränkt erfreulich war dahingegen der dritte in dieser Region angesiedelte Film des Tages: Der im Panorama gezeigte palästinensische Independentfilm mit dem internationalen Titel Love, Theft and Other Entanglements ist eine jener oft in den Nebensektionen der Berlinale verborgenen Perlen, welche das Festival immer wieder enorm aufwerten. Die Geschichte um einen Tages- und Autodieb, der unverhofft einen entführten Israeli im Kofferraum eines geklauten Wagens findet, atmet den Esprit der frühen Tage der Nouvelle Vague. Lässig entfaltet der Film zu einem einem so flotten wie atmosphärischen Jazz-Score seine skurrile Handlung. Die Schwarzweiß-Bilder sind von großer Schlichtheit und zugleich äußerst präzise komponiert. Dies ist ein Film über den Nahostkonflikt, in dem alles drin steckt, der sich jedoch jeder pädagogischen Attitüde verweigert.
Am Samstag gab es in der Spätvorstellung die Gelegenheit die Sichtung einer der am seltsamsten schillerndenden Filmperlen des Festivals nachzuholen, falls man diese am Eröffnungtag verpasst hatte: The Forbidden Room von Guy Maddin und Evan Johnson. Der Ursprung des Film liegt in einem Projekt, bei dem Schauspieler in eine Art von Trance versetzt wurden, um anschließend imaginierte Szenen aus verloren gegangenen Werken der Frühzeit der Filmgeschichte zu spielen. Das so entstandene Material wurde auf eine Weise verbunden, die an Luis Buñuels surreales Meisterwerk Das Gespenst der Freiheit (1974) erinnert: Eine Erzählung greift unabgeschlossen in die nächste, die wiederum in eine dritte übergeht usw. Das groteske Treiben ist im Stil alter Filme der Stummfilmzeit gehalten. Die digitalen Aufnahmen wurden auf stark angegriffenes altes Filmmaterial getrimmt. Der besondere Witz des extravaganten Experimentalfilms entsteht aus dem Gegensatz zwischen dem gut getroffenen Tonfall der altehrwürdigen filmischen Vorbilder und der immer absurder sich entwickelnden Handlung.
Der Wettbewerb am Montag startete erneut gleich morgens mit einem der späteren Hauptpreisträger des diesjährigen Festivals: Der sehr starke chilenische Beitrag El Club hat den Großen Preis der Jury mit vollem Recht erhalten. Denn im Gegensatz zu dem diesjährigen Hauptpreisträger stimmt bei Pablo Larraíns Drama nicht nur die politische Botschaft, sondern auch die künstlerische Qualität. Dabei klingt das Thema des Films zunächst nicht unbedingt sehr vielversprechend: El Club reiht sich ein in eine in letzter Zeit kaum abreißen wollende Reihe von Dramen und Satiren, welche die Katholische Kirche unter Beschuss nehmen. Der Film zeigt eine Art von WG, in die von der Kirche sündig gewordene ehemalige Priester abgeschoben werden. Hier dürfen uneinsichtige Pädophile und andere Schweinehunde mehr oder minder tun, was sie wollen, solange sie nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erwecken. Als sich jedoch ein Neuzugang kurz nach seiner Ankunft erschießt, schickt die Kirche einen eigenen Ermittler, um den Windhundrennen liebenden Padres einmal kräftig auf den Zahn zu fühlen. El Club ist eine in grauen Bildern eingefangene bitterböse Satire, die lange nachwirkt.
Aber nicht alle Filme der diesjährigen Berlinale übten sich in düsterer Sozialkritik. So fand in der Panorama-Sektion eine Weltpremiere der glitzernd-hedonistischen Art statt: Ein von einem bis zum anderen Ohr grinsender Mark Christopher präsentierte siebzehn Jahre nach der Kinoversion von Studio 54 (1998) den ursprünglich indentierten 54: The Director’s Cut. War der Kinofilm um New Yorks berühmtesten Club der Siebziger und frühen Achtziger so etwas wie die weichgespülte Discoversion von Paul Thomas Andersons Porno-Chic-Drama Boogie Nights (1997), hat der Director’s Cut deutlich mehr Biss. Anders, als viele Director’s Cuts verlängert die neue/ursprüngliche Version nicht einfach nur die Kinofassung um zehn bis zwanzig Minuten weniger wichtiges Material. Hier wurden fast vierzig Minuten in der Kinoversion fehlendes Filmmaterial neu integriert und dafür dreißig Minuten von den damaligen Produzenten veranlasste Nachdrehs wieder entfernt. Der Film zeigt jetzt in aller Deutlichkeit Dinge, wie die für die damalige Zeit – zumindest in den USA – hochbrisante bisexuelle Dreiecksbeziehung des Protagonisten.
Einer der ungewöhnlichsten Wettbewerbsbeiträge kam aus Rumänien. Radu Judes Aferim! ist ein im Jahre 1835 in Osteuropa angesiedelter lakonischer Balkanwestern in Schwarzweiß. Der Film verfolgt den Weg des Gendarmen Costandin und seines Sohns, die durch die steinige Landschaft der Wallachei reiten, um einen entlaufenen »Zigeunersklaven« seinem Besitzer zurückzubringen. Die von alten Dokumenten und Liedern angeregte Geschichte zeigt eine erschreckend mittelalterliche und barbarische Gesellschaft. Der desillusionierte Costandin – der mehr wie ein Kopfgeldjäger als ein Gesetzeshüter daherkommt – hat für jede Situation einen passenden Spruch parat. Dies äußerst sich in einen fast nie abreißen wollendem Redeschwall, der größtenteils aus derben Flüchen und Beschimpfungen besteht. Doch Costadin erscheint fast als ein Heiliger in einer Welt, in der selbst ein Priester voller fremdenfeindlicher und rassistischer Vorurteile steckt. Nur Constantins naiv-unverdorbener Sohn betrachtet das wüste Treiben um ihn herum mit einem Blick, der vermuten lässt, dass er sich hier im falschen Film wähnt. Aferim! ist ein sehr unterhaltsamer Film, der ein sehr klassisches Setting mit einer wüsten Tonebene konterkariert. Wieso jedoch gerade dieser visuell recht karge Film den Silbernen Bären für die Beste Regie erhielt, ist durchaus diskussionswürdig.
Am letzten Wettbewerbstag gab es noch eine besonders schöne Film-Perle zu sehen, die leider ganz ohne Preis ausging: Das vietnamesische Drama mit dem deutschen Titel Unsere sonnigen Tage besticht durch eine Reihe von Qualitäten, die auch den verdienten letztjährigen Gewinner des Goldenen Bären – das chinesiche Thrillerdrama Feuerwerk am helllichten Tage – auszeichneten: Der hochatmosphärische Filme zeigt eine Gruppe junger Leute, die Ende der 90er-Jahre in einer am Fluss gelegenen Barackensiedlung von Saigon leben. Der Zuschauer erlebt ihre Welt durch die Augen des Fotografiestudenten Vu, der mit der Kamera seine neue Umgebung erkundet. Besonders fasziniert ihn das düster-quierlige Nachtleben der Stadt; ein düster-funkelndes Zwischenreich voller Drogendealer, Spieler und Prostituierter. Diese Welt ist ebenso poetisch eingefangen, wie der spätere Blick auf die unberührte Natur des Mekong-Delta. Obwohl manch ein Protagonist sich um eine staatliche Prämie zu kassieren seinen Samenleiter durchtrennen lässt, ist Armut hier kein anzuklagender Sachverhalt, sondern eine schlichte Tatsache des Lebens. Homosexualität ist da schon eher ein ernsthaftes Problem. Aber egal, ob vollgedröhnt beim Tanzen im Nachtclub oder beim Schlammbad in freier Natur im Mekong-Delta genießen die jungen Protagonisten, was ihnen das Leben zu bieten hat. Regisseur Phan Dang Di kreiert eine poetische Welt von geradezu magischer Qualität. Dabei genügen ihm einfache Dinge, wie ein locker eingestreutes Standbild eines urwüchsigen Waldes, um den Zuschauer völlig gefangenzunehmen. Unsere sonnigen Tage ist ein unprätentiöser Film voller Zauber und voller Kraft.