Cinema Moralia – Folge 125
Das Medium, in dem der Film Resonanz erzeugt... |
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»Was für ein Schlamassel!« – The Hateful Eight | ||
(Foto: Universum/Walt Disney) |
»Praktische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik«
Titel der 5.Symphonie von Dimitri Shostakovitsch
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Eine Studentin, die eine Arbeit über Filmkritik im Wandel der Medienlandschaft schreibt, und darin versucht, mit soziologischer Genauigkeit durch Publikumsbefragung neue »Nutzertypen« zu erkennen, befragt mich und bittet um Charakterisierung meiner Arbeit. Der Ansatz ihrer Arbeit ist wichtig, weil sie einmal das Publikum in den Blick nimmt. Das ist die erste Voraussetzung zu einer unbedingt nötigen Kritik des Publikums. Denn es stimmt nicht, dass das Publikum »immer
recht« hätte und es ist ein Missverständnis von Demokratie, alles Elitäre zu verachten und zu glauben, dass das »Volk« oder gar »die Mehrheit« immer recht habe. Viele User neuer Medien überschätzen die neuen Userpartizipationsmöglichkeiten systematisch, weil sie selbst User sind, also aus schlichter Selbstüberschätzung, die sehr menschlich ist.
Nehmen User durch Bewertungen und Kommentare eine immer bedeutenderer Rolle ein? Nein. Denn auch User, die bloggen, sind
Publikum, und die werden nur dann zu Filmkritikern, wenn sie Filmkritiken verfassen. Ansonsten sind sie Teil des Meinungsschwarms. Und der mag denken, was er will. So wenig eine Quote im Fernsehen etwas über Sendungsqualität aussagt, so wenig dieser Schwarm und seine Meinungen.
Ü ber Kunst, ihren Gehalt, ihre Aussage, ihre Qualität und ihren Wert kann man nicht demokratisch abstimmen.
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Nicht alle Zuschauer sind klug. Das Misstrauen, das manche etwa gegen Filmkritiker äußern, weil sie »bezahlt« seien ist genauso absurd uninformiert wie das Vertrauen in Schwarmintelligenz und Ratings (etwa imdb) naiv ist. So etwas kann man genauso industriell organisieren, wie eine positive Kritik – und das passiert auch.
Mich erschüttert oft der Ernst, der in uns und unsere Texte hineinprojiziert wird. Zu wenige erkennen das Spielerische einer Filmkritik,
überhaupt eines Textes. Wir sind eben gerade keine Wissenschaftler, wir produzieren keine objektiven Aussagen, sondern Subjektivität. Wir sind ein Medium, auf dem der Film Resonanz erzeugt. Filmkritiken sind emotionale, intellektuelle und stilistische Resonanzen eines Films. Der Film erzwingt eine bestimmte Kritik von mir – das sagt so viel über mich, wie über den Film.
Aber manchmal spiegelt mein Text auch eine Debatte, einen reinen Teilaspekt eines Films, der für mich
zu kurz kam. Oder ich betone etwas über Gebühr, weil es bisher unter den Tisch fiel.
Leser scheinen dagegen oft eine Objektivität zu erwarten und auch zu verlangen, die ich gar nicht liefern will. Wenn sie dann mitunter auch noch behaupten zu wissen, was »guter« oder »schlechter« Journalismus sei, wird es lächerlich, dann ist ihr Urteil oft dumm und dreist. Sie verkennen, dass Filmkritik so wenig Reportage ist, wie Wirtschaftsteil Ergebnisdienst. Es ist Feuilleton, also
spielerisch, literarisch, künstlerisch.
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Gefragt nach meiner Einschätzung zur Macht der Filmkritik, antworte ich: Print mag aussterben, die Filmkritik nicht. Die Macht der Filmkritik liegt in ihrer Qualität, nicht in der Quantität der Auflage oder der Leser. Das heißt: Filmkritik spricht wichtige Leute an, nämlich die, die sich aktiv um Infos bemühen, und deswegen mit Aussagen der Filmkritik anders umgehen. Sie spricht nicht zuletzt Fachleute an, also Förderer, Kinobetreiber, andere Redakteure, die sich an ihr orientieren .Das, was man heute so Multiplikatoren nennt.
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Filmkritik ist wichtig und wird das auch bleiben, weil wir als Scharnier und Vermittlungsinstanz zwischen mehreren Bereichen fungieren: zwischen Publikum, Filmwissenschaft und Film (bzw. Machern). Alle drei Gruppen versuchen, Filmkritik für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Das Publikum hat höchst widersprüchliche Wünsche: Zwischen Empfehlungen die Consumerguidecharakter haben, Infos zum Film selbst (mitunter aber bitte ohne Spoiler).
Daher ist die Zukunft der
Filmkritik gesichert – sie wird immer irgendwo überleben, solange es Filme gibt. Ein Problem sind aber Ausdifferenzierung und schlechte Spezialisierung: Man unterscheidet heute gern Kinokritik, Fernseh-Kritik, Medienkritik. Alle drei Typen können unter Umständen Filmkritik sein.
Auch Filmkritiker selbst haben Berührungsängste: Das Kino wird heiliggesprochen, der Rest verachtet. Dabei müsste man heute von Film reden (weil die meisten Filme digital sind) und dann von
Abspielmedien. Kino ist das schönste und beste Abspielmedium, aber nicht das einzige. Viele Filme sind gar nicht mehr ausschließlich fürs Kino gemacht. Umgekehrt fehlt dem Publikum und Teilen der Filmkritik oft der Sinn für das Spezifische des Kinos. Für feine Unterschiede, für Material und Form.
Meine eigene Erfahrung: Print hat die geringste Wirkung, aber Nachhaltigkeit, weil es dem Autor Renommee und Achtung gibt. Radio sollte auch Renommee haben, weil öffentlich-rechtlich
hat aber nur welche in Fachkreisen, weniger beim breiten Publikum. Es wird aber am besten bezahlt. Internet hat die meiste Nachhaltigkeit, weil Texte auch nach Jahren gelesen und gefunden werden, es Reaktionen auf sie gibt. Bisher aber am wenigsten Geld, daher kannibalisiert sich das Medium.
Auch Zuschauer schätzen Niveau, können Filmkritik und bloße Publikumsmeinung unterscheiden. Sie werden erst wirklich merken, was ihnen fehlt, wenn Profiautoren aus dem Netz verschwinden,
da sie dort zu schlecht bezahlt werden.
Vielleicht brauchen Filmkritiker aber heute auch Netz-Profis, die uns vermarkten, die als eine Art Netz-Agenten fungieren.
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Was ich von neuen Formaten und Userpartizipationsmöglichkeiten halte? »Filmblogs« können alles sein, tolle Filmkritik, und platteste Meinungsäußerung – das kommt drauf an. »Neue Darstellungsformen wie Youtubekritiken (Trailer kombiniert mit der Einschätzung eines ›Filmexperten‹)« sind so neu nicht, denn im Fernsehen macht man das schon lang, im Radio nur mit Ton noch länger. Das Problem ist: Was macht die Experten zu Experten? Nicht jeder ist einer.
»Warentestprinzipien« sind keine Filmkritik. Denn Film als Ware gehört in den Wirtschaftsteil. Wir schreiben über Film als Kunst. Und »IMDB« ist ein Algorithmus. Auch keine Filmkritik. Das alles sind ergänzende, keine ersetzenden Formate.
Filmkritik distanziert sich immer von ihrer gerade klassischen Form und findet neue. Am Ende geht es darum, dass einer ins Kino geht und möglichst interessant erzählt, was er gesehen hat, was der Film mit ihm macht.
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Wenn der Mensch uninteressant ist, wird seine Kritik nicht interessant sein.
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Für wen schreibe ich? Außer für die, die mich bezahlen, für Menschen, die das Kino lieben, vorschnelle Urteile hassen, und darum auch in einem Filmkritik-Text lieber das Umtasten eines Films, dessen Entfaltung in Textform schätzen, als das eindeutige Urteil. Dieses bleibt von guten Texten am wenigsten. Jeder gute Kritiker hat schon schlimm geirrt, was sein Urteil angeht.
Und wenn die Menschen wirklich nicht länger als sechs Minuten lesen wollen, ist das kein Argument, dass ein Text
nicht zwölf Minuten brauchen darf. Denn woher weiß ich, dass jemand am Anfang anfängt, dass er den Text nicht überfliegt?
Ein Text ist ein Angebot, nicht eine Aufgabe, die beflissen gelöst werden muss.
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Grundsätzlich gilt:
1. Jedes Publikum hat die Filmkritik, die es verdient.
2. Aber auch umgekehrt: Die Filmkritik hat das Publikum, das sie verdient.
3. Die so genannte »Krise der Filmkritik« ist keine. Sie ist eine Krise der traditionellen Medien, hervorgerufen durch die Medienrevolution der Digitalisierung aller Lebensverhältnisse.
4. Neue Medien werden eine neue Kunstkritik erzeugen. Das Prinzip der Kritik werden sie nicht abschaffen. Denn es ist Teil des
Menschlichen.
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»Siebzig Millimeter Ultra Panavision! Eine Ansage durchs Format, die bedeuten soll: großes Kino. Zumindest die Erinnerung daran. Ein Werk, das nicht aufs Smartphone passt. Von einem Filmemacher, der sich seine Visionen nicht schmälern lässt, einem, der mit einer Handvoll anderer, in Liebe zu ihren Erinnerungen ein bisschen wahnsinnig gewordener Kollegen eine Firma, nämlich Kodak, dazu bringt, Rollfilm in dieser Breite (und in einer Länge von 600 Metern für ausführliche,
ungeschnittene Szenen) herzustellen, und eine andere, nämlich Panavision, in ihren Kellern graben zu lassen, um die entsprechenden Objektive zu Tage zu fördern. Was für ein Aufwand! Und dann gibt es kaum mehr Kinos, in denen noch die entsprechenden Projektoren stehen. Manchmal ist, wenn die Projektoren da sind (wie in den Filmmuseen), die Leinwand zu klein. Was für ein Schlamassel!«
Verena Lueken, FAZ vom 27.01.2016
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»Was soll das Theater?« diskutierte die »Akademie der Künste« in Berlin über die »Rolle der Bühnen in der Gesellschaft«. Diese Diskussion ist fürs Kino und für uns Kritiker, Kuratoren, Künstler interessant, weil sie ein Abgrund trennt von der deutschen Filmszene. Sie wäre dort schlicht unmöglich. Und darum zeigt sie uns auf, was fehlt. Denn schon über die »Rolle des Films in der Gesellschaft« würden wenige unserer Filmleute diskutieren. Oder darüber was das Kino in Zeiten von Fluchtbewegungen und Rechtsextremismus, von Terrorismus und Sicherheitsterror, von Populismus und Medienversagen zu sagen und zu tun hat.
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Ulrich Matthes, Schauspieler und Direktor der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste, bilanzierte ernüchternd seinen eigenen Beruf. Dem Theater geht es noch schlechter als dem Kino: Immer mehr Menschen gehen gar nicht hin. Die Antwort ist »Artivismus«, ein künstlerisch inszenierter politischer Aktivismus. Das Theater ist ungleich mehr und vor allem viel höher, als das Kino öffentlich subventioniert. Das genügt aber kaum, um ihm Bedeutung und Legitimation zu
verleihen.
Oder hat staatlich subventionierte Kunst nicht gerade auch einen politischen Auftrag? Das Theater als Hort des deutschen Bildungsbürgertums kann und muss eine Schicht aktivieren. Die ganze Gesellschaft spricht es gar nicht mehr an. Wie ist das mit dem Film? Bildet Film in Kino oder Fernsehen eine Gesellschaft ab und formt Identität? Will es das? Soll es das?
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Wir sind nomadische Gesellschaften geworden. Nicht nur Flüchtlinge wandern und sind obdachlos, sondern wir alle. Kulturell und geistig. Das ist ein Fortschritt, aber was bedeutet das für den Ort Kino?
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Burkhard Kosminski, Intendant am Nationaltheater Mannheim, berichtete über die Einbindung von Flüchtlingsgruppen in die Inszenierungen seines Theaters. Warum wagt das Kino solche Experimente nicht? Warum fühlt das deutsche Kino, die ganze Filmszene keinerlei politische Verpflichtung, sondern schleift sich rund und puffert sich, aus Angst, anzuecken?
Dabei geht es nicht um große Thesen und Positionen. Was Kunst und Kritik aber heute tun müssen, was ihre politische Funktion
in diesem Moment ist, ist einfach, eine selbstverständliche, liberale, empathische Haltung öffentlich zu artikulieren, und damit auszudrücken: Das ist die normale Haltung in dieser Welt.
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Wolfgang Engler, Direktor der Ernst-Busch-Schauspielschule, erzählte von Studenten, die sich immer häufiger weigerten, bestimmte Texte zu sprechen, weil sie ihre politischen Empfindlichkeiten berührten. Seine These:
»Je weniger eine Institution wie das Theater die Kraft hat, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen und sich als das Andere zur Wirklichkeit hin zu definieren, in desto höherem Grade setzt es sich denselben Wahrnehmungen wie das wirkliche Leben aus. Dann wird das
Theater unter dem Gesichtspunkt wahrgenommen, ist das politisch in Ordnung – wie eine politische Äußerung. Ist das frauenfeindlich, ist das sexistisch, ist das so so so und so richtig? Und ich kann nur sagen: Das kotzt mich an.«
Können wir uns vorstellen, hier statt »Theater« das Wort »Kino« einzusetzen?
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Ist es legitim einen Text aus politischen Gründen abzulehnen? Ulrich Matthes gab sich zunächst noch selbstironisch: »Psychologischer Realismus, boäh, gähn!« Dann aber schilderte er seine Herangehensweise an eine Figur: »Ich muss die Figur zunächst mal verteidigen.« Aber was heißt das, wenn man im »Untergang« den Goebbels spielt? »Ich hatte irrsinnige Skrupel, mich mit meinem Körper diesem Massenmörder zur Verfügung zu stellen.«
Verständlich.
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Immer wieder kommt es bei »Cinema Moralia« zu Einseitigkeiten. Das ist Programm. Mal geht es eine Weile um die Urheberrechtsdebatte, mal um die DFFB, und immer wieder sehr viel um Politik. Die 125. Ausgabe – danke liebe Leser für zahlreiches Feedback, danke artechock dafür, dieses großzügige und tolerante Forum zu bieten – ist ein guter Anlass, ein paar Dinge zum Selbstverständnis ein mal wieder öffentlich klarzumachen. Dies nicht als Rechtfertigung, sondern als Erklärung und auch immer wieder mal fällige Selbstvergewisserung, was »Cinema Moralia« eigentlich sein will. Ich glaube im Übrigen auch bestimmt nicht, dass jede Ausgabe in einem objektiven Sinn »gelingt«. Und Feedback aller Art, also auch kritisches – je konkreter, desto besser –, und andere Formen der Auseinandersetzung mit den Inhalten von »Cinema Moralia« sind willkommen. So wie es manche Leser gibt, die mir zu mindestens jeder dritten, vierten Folge eine unterschiedlich lange Mail schreiben, die ich auch brav beantworte.
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Was »Cinema Moralia« natürlich schon immer war und von Anfang an auch sein sollte, ist zumindest dreierlei: Ein »Tagebuch«, also etwas sehr persönliches, das diese Subjektivität in Reinform, ungefiltert, also auch in temporären Interessen, Ansichten, Einseitigkeiten spiegelt; sozusagen meinen geistigen und emotionalen Zustand abbildet.
Zweitens eine Reihe, die einen flanierenden, also offenen, vom Zufall mitbestimmten Blick auf die Welt wirft, wie sie sich im und jenseits des
Kinos zeigt. Die das Kino also in (s)einen Zusammenhang stellt.
Schließlich habe ich »Cinema Moralia«, wo es ja selten zu echter Filmkritik kommt, immer vor allem als Medienreflexion etwas allgemeinerer Art verstanden, die von Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Filme (übrigens auch jenseits des Kinos) und von Kunst (also auch jenseits von Film) handelt. Dazu gehört für mich neben dem ästhetischen, dem ökonomischen und dem filmpolitischen auch das
gesellschaftliche Umfeld, in dem Kino stattfindet. Dass Kino politisch und philosophisch ist, und ich in »Cinema Moralia« immer wieder mit schwankendem Erfolg neu versuche, diesen Zusammenhang von Kino mit Politik und Philosophie auszuloten, versteht sich von selbst.
(To be continued)