Cinema Moralia – Folge 160
Der hysterische Mann |
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Dies war seine berühmteste Rolle: Der verrückte Professor | ||
(Foto: Österreichisches Filmmuseum) |
»Einvernehmen mit dem Tod ist Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott.«
Herbert Marcuse
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Nachrufe sind traurig, nicht nur, wenn es um Personen geht, die man persönlich kannte. Sie sind aber auch eine lästige Angelegenheit. Die letzten Wochen traf es uns alle – mich und die Kollegen – immer am Montag. Vor vier Wochen George Romero und Martin Landau, vor drei Wochen Hans Hurch, dann Jeanne Moreau und Sam Shepard.
Nun Jerry Lewis.
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Ich überlege, ob ich Lewis und seine Filme eigentlich mochte, oder doch nicht so sehr. Dieses Grimassieren war eigentlich gar nicht so lustig, sondern anstrengend. Woran ich mich erinnere: Die nervigen Mitschüler, die am nächsten Morgen die Lewis-Filme vom Vorabend nacherzählt haben.
Ich frage mich auch, wer von den unter jüngeren Lesern Jerry Lewis eigentlich noch kennt? Mal ehrlich: Wie bekannt ist er unter jenen, die sich jetzt nicht speziell für Kino interessieren? Und woher
kommt diese Begeisterung, die jetzt in den Nachrufen anklingt? Oder bin ich einfach nur humorlos?
Vielleicht war ich ja auch einfach neidisch auf die Unbeschwertheit des Lachens der Anderen. Aber mit Lewis, im Unterschied zu Chaplin, Keaton, und selbst Louis de Funes war man immer erstmal unter seinem Niveau.
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Zuletzt hatte er es gar in das »Museum of Modern Art« geschafft. Im vergangenen Jahr ehrte das »MoMa« Jerry Lewis zu dessen 90. Geburtstag mit einer Ausstellung und der Aufführung von zehn seiner Filme. Jetzt, da der »King of Comedy« im 92. Lebensjahr verstorben ist, wird endgültig erkennbar, dass es eigentlich drei Jerry Lewis gibt, drei ganz verschiedene Berufs- und Lebensphasen im Leben dieses Mannes, der am 16. März 1926 als Joseph Gerald Levitch in Newark, New Jersey vor den Toren von New York in kleinbürgerlichen jüdischen Einwandererverhältnissen geboren wurde – und seine Kindheit und das hohe Alter sind damit nicht gemeint.
Eine Kindheit im herkömmlichen Sinne hat Jerry Lewis sowieso nie gehabt. Bereits mit fünf Jahren stand der Sohn eines Nachtclubsängers auf der Bühne – bei seinem ersten Auftritt begann er angeblich aus Lampenfieber zu weinen: »Die Leute brüllten vor Lachen. Da wusste ich, was ich für den Rest meines Lebens zu tun hatte: stolpern, ausrutschen, hinfallen«, erzählte er Jahrzehnte später.
»The emotion is in the emulsion.« – »Das Gefühl ist das Bindemittel«. Es gibt niemanden, der in den sechziger und siebziger Jahren aufwuchs, der Jerry Lewis nicht zumindest aus dem Fernsehen kennt. Die sehr spezielle, einmalige Komik dieses Komikers war immer eine, die sich ganz besonders an das Kind im Erwachsenen und direkt an die Kinder richtete: Grimassenschneiden, Augenrollen, zappeln, stolpern, schnell sprechen, schreien, jaulen, Hauptsache hektisch – ein hysterischer Mann. Vor allem sein Gesicht war einmalig, war pure Anarchie, das Gegenteil der unbewegten ausdruckslos-beherrschten Gesichter von Buster Keaton oder Jacques Tati. Lewis war eher ein Clown und naher Verwandter von Harpo, dem irrationalsten der vier »Marx Brothers«. Im Gesicht von Jerry Lewis, das schrieb immerhin Jean-Luc Godard, verbinde »sich das Äußerste an Künstlichkeit mit der Noblesse des wahren Dokumentarfilms.«
Lewis mag aus heutiger Sicht zeitlos wirken, aber er ist doch zuallererst, von seiner künstlerischen Herkunft, wie seiner Karriere her, ein Repräsentant der 50er Jahre, dem Jahrzehnt, in dem Amerika wirklich auf dem Höhepunkt seiner Geschichte der Nabel der (westlichen)= Welt war, also eigentlich schon wieder auf dem absteigenden Ast.
Lewis war auch ein amerikanischer Heinz Ehrhardt, also in seinem Humor ein sehr typischer Repräsentant all der Verklemmungen, des
Repressiven seiner Zeit.
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Lewis war gerade erst 20, da traf er mit Dean Martin zusammen, dem Italoamerikaner aus so ganz anderen Migranten-Aufsteigerkreisen. In den verrauchten Nachtclubs von Atlantic City ging es los, und dann schnell nach oben. Die scheinbar komplett improvisierten Auftritte der witzigen Wortakrobaten »Martin & Lewis« wurden eine Sensation und erzielten Höchstgagen. Auf eigene Shows in Radio und Fernsehen folgten schon 1949 erste Spielfilme.
Siebzehn Filme machten beide in den
nächsten zehn Jahren zusammen. Dean Martin war der Dummkopf, der singen konnte und gut aussah, Jerry Lewis der intelligente Tollpatsch. In den Filmen hat Dean Martin immer die Mädchen bekommen, die Jerry Lewis zuvor angeschleppt hatte – weil er lustig war, und auf sie vollkommen unbedrohlich wirkte. In Wirklichkeit war das Verhältnis wohl ausgeglichen, und wer genauer hinsah, der erkannte in Lewis öffentlicher Persona immer auch einen Anarchisten, den vollkommen
unberechenbaren Ausdruck des Triebhaften, die rohe Gewalt des unbewussten »Es«, das Sigmund Freud beschrieben hat.
Irgendwann wurde die Rivalität zu groß und 1956 brach das Duo auseinander. »Die klügste Entscheidung meines Lebens war es, mich mit Jerry Lewis zusammenzutun. Die zweitklügste war es, mich von ihm zu trennen«, sagte Dean Martin einige Jahre später über das Auseinandergehen. Beide begannen Solokarrieren, Martin zunächst vor allem als Sänger in den Shows von Las Vegas, kurz darauf auch als Teil des »Ratpack« in großartigen Filmen wie Vincente Minellis Some came running. Jerry Lewis dagegen musste sich für seine zweite Karriere als Solokünstler regelrecht neu erfinden.
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Ohne das Alter Ego von »Dino« suchte sich Lewis nicht etwa ein neues Gegenüber, sondern übernahm gewissermaßen beide Rollen in Personalunion: Immer wieder verkörperte er in seinen späteren Filme schizophrene Figuren. In einem seiner berühmtesten, The Nutty Professor, Der verrückte Professor, parodierte er dies 1963 sogar offen zu einer Jekyll & Hyde-Komödienversion. Aber auch hinter der Kamera übernahm er komplett das Kommando, und war für alles allein verantwortlich: Regie, Drehbuch, Hauptrollen. In Das Familienjuwel spielte unter eigener Regie einen Chauffeur und sechs Onkel, unter denen sich eine kleine Waise ihren neuen Vater aussuchen darf. Die deutschen Titel anderer Filme sprechen Bände: Aschenblödel, Der Bürotrottel, Die Heulboje, Das Mondkalb... In zahllosen Filmen war Lewis das ewige Kind, der dumme Junge und Kasper, der Klassenclown.
Aber er forderte auch heraus, provozierte den Konsens mit kreativer Albernheit in der Tradition der Dadaisten und Surrealisten. Hallo Page (1960) ist eine wagemutige Arbeit, pures Kino, das fast ohne Dialog und ohne stringente Story auskommt. Jerry Lewis war nicht allein ein großartiger Schauspieler und Regisseur in der späten Hochphase von Hollywoods klassischer Ära. Er war auch wichtiger Erneuerer der Komik und den Techniken, die ihr zugrundeliegen – zu denen auch die Fähigkeit gehört, diese Technik ganz unsichtbar zu machen. Lewis dachte jenseits der Normen seiner Zunft und veränderte diese dadurch.
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Nachdem der Erfolg trotzdem abnahm, und der Körper den jahrzehntelangen Belastungen Tribut zollte, versuchte Lewis Anfang der 1970er noch einmal etwas komplett Neues: Doch der Versuch, eine zweite Karriere mit mehr Ernst und brüchigem Humor zu starten, ging dramatisch schief. The Day the Clown Cried von 1972 sollte eine Komödie im Konzentrationslager spielen lassen – der Film, von dem Roberto Benigni für Das Leben ist schön schamlos klaute, liegt juristisch unter Verschluss. Mit der Regiekarriere war es dann vorbei. Erst in den letzten Jahrzehnten bekam Lewis von Anderen, Jüngeren die Chance, der Rolle des ewigen Kindes zu entkommen: The King of Comedy (1983) von Martin Scorsese zeigt einen »Lewis«, der von einem Fan unter Druck gesetzt wird. In Cookie (1989) ist er ein zynischer Casino-Boss.
Es gibt keinen zweiten Komiker, den das Kino selbst so oft zum Thema gemacht hat, wie ihn: Bei Emir Kusturica (Arizona Dream) spielt er ebenso sich selbst, wie in Funny Bones von Peter Chelsom. Am abgründigsten aber ist der Thriller Where the Truth Lies. Darin fiktionalisiert Atom Egoyan das Ende der Zusammenarbeit mit Dean Martin, und zeigt zwei Komiker, die im wahren Leben noch ganz anders die Sau rauslassen als auf der Bühne: »Wir waren nicht bloß Helden«, erzählt da Lewis' Alter Ego (Kevin Bacon) aus dem Off, »wir waren Götter. Ich war Spaß, er war Kontrolle. Ich war Rock 'n' Roll, und er war Klasse. Seine Anwesenheit erlaubte Amerika, mich zu lieben.«
Jetzt
ist der größte Anarchist der Filmgeschichte, der geliebteste Unerzogene der Filmgeschichte gestorben.
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Gestorben ist auch der Münchner Komponist Wilhelm Killmayer. Gestern, einen Tag nach Lewis. Mit Film hatte er nichts zu tun mit der Kunst des 20.Jahrhunderts aber sehr viel.
Sein Schüler Moritz Eggert hat einen – bis auf die letzte Zeile, aber sonst... – sehr schönen, klugen, persönlichen Nachruf über Killmeyer geschrieben. Ich habe Killmeyer wie Moritz Eggert immer nur am Rand erlebt in den Münchner Jahren, und verstehe von Musik, von dieser zumal, viel zu wenig, aber menschlichen Eindruck haben
beide hinterlassen.
Eggert schreibt von: »Widerständigkeit ... die größtmögliche Realisierung von Freiheit ... Glauben an bedingungslose Freiheit ... von herrschenden Vorstellungen« – das ist es, worauf es nicht nur in der Musik, der Kunst, sondern im Leben wirklich ankommt. Jetzt will ich Killmeyer hören!
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Für den, der Nachrufe beruflich schreibt, ist dies schwer: Man will den Toten gerecht werden, ebenso der Emotion des Augenblicks. Und es ist die letzte Gelegentheit, »noch einmal« und »richtig« über den Toten zu schreiben.
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Oder auch nicht. Einige Stunden nach der Nachricht über Jeanne Moreaus Tod kam die Nachricht, dass auch der amerikanische Dramatiker, Schauspieler und Regisseur Sam Shepard gestorben ist, mit 73 Jahren. Er wurde weit weniger erwähnt, ebenso wie Margot Hielscher, die mit 97 in München verstarb, nur wenige Stunden nach Jerry Lewis.
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Wie immer schreiben wir an gegen das Rasen der Zeit. Und werden doch von ihm nach vorne getrieben. Und trotz all dem werden wir in den nächsten Wochen noch über weitere, andere Tote schreiben müssen. Sie haben unsere Aufmerksamkeit verdient.
(to be continued)