70. Locarno Filmfestival 2017
Papier ist geduldig, das Kino nicht |
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Herzstück des Festivals in Locarno ist nicht die Piazza Grande, sondern die Retro. Dieses Jahr mit Jacques Tourneur, u.a. I Walked with a Zombie | ||
(Foto: RKO Radio Pictures) |
Am vergangenen Mittwochabend wurde das Filmfestival von Locarno eröffnet – zum 70. Mal. Damit gehört Locarno zu den ältesten Filmfestivals der Welt. Unter den bedeutenden europäischen Filmfestivals ist Locarno in seiner Bedeutung das kleinste: Ein Festival, das vor allem auf den Nachwuchs konzentriert ist. Das Programm des Festivals ist aber das zweitgrößte: Über 300 internationale Filme werden im Tessiner Kurort gezeigt. Welcher Film warum in welcher Sektion landet, ist selbst für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen. So gibt es hier gleich zwei Wettbewerbe, die sich weder in ihrem Profil noch in ihrem Niveau ernsthaft unterscheiden: Den »Concorso Internazionale« um den Goldenen Leoparden und vier weitere Preise, sowie den »Consorso Cineasti del Presente«, der natürlich nicht minder international ist. Der besonderes Reiz dieses zweiten Wettbewerbs für die Filmemacher liegt darin, dass hier drei Geldpreise im Wert von insgesamt 85.000 Schweizer Franken vergeben werden.
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Die ein bis zwei Filme hingegen, die allabendlich auf der Piazza Grande laufen, jenem Ort, der den Ruf dieses generell ein wenig zu hoch gehandelten Festivals begründet, nehmen an keinem dieser beiden Wettbewerbe teil. Sie können allerdings den Publikumspreis in Höhe von 30.000 Schweizer Franken gewinnen. Im Effekt schafft dieser Aufbau – zu schweigen von der »Semaine de la Critique«, wo auch noch zwei Preise vergeben werden – vor allem Verwirrung unter den Beteiligten
wie unter Berichterstattern. Nach Selbstdarstellung des Festivals sei die Piazza das »Herzstück« des Programms. Das stimmt wohl vor allem im Hinblick aufs Marketing, denn hier entstehen die spektakulärsten Fotos. Aber wenn es dann der Leoparden-Wettbewerb sein soll, der aufgrund desselben Katalogtexts die gegenwärtige »Landkarte der Filmkunst« definiert, und sich durch Unabhängigkeit auszeichnet, die bereit ist, »von der Industrie gesetzte Grenzen und Konventionen zu
überschreiten«, dann spricht man hier durch die Blume auch eine Wahrheit über die Piazza aus: Dort feiert nämlich die Industrie mit ihren Konventionen fröhliche Urständ. Und zwar ihre zweite Wahl, jenes Industriekino, das es nicht nach Venedig geschafft hat, und nicht Toronto bevorzugt.
Die »Cineasti del Presente« wiederum sollen der »Erkundung und Entdeckung« verschriebene Filme sein, mit persönlicher und außergewöhnlicher Weltsicht. Bedeutet dies etwa, dass das im
Leoparden-Concorso nicht zu finden ist? Schon wahr: Papier ist geduldig.
Doch wenn man als Filmemacher, als Produzent oder Weltvertrieb die Wahl hat, wohin soll man seinen Film geben? Was ist »besser« für den Film? So fragen nicht wenige. Und es hat, das ist meine Erfahrung, vor allem mit dem Zufall zu tun, ob ein Film in Locarno aus der Masse heraussticht. Mit dem Zufall der Programmierung und der zeitgleiche Konkurrenzveranstaltungen.
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Am ehesten an einem klaren Profil geschraubt und das Programm geschärft hat nur der Franzose Olivier Père, der von 2009-2011 Direktor von Locarno war. In dieser Zeit erschien das Festival am autonomsten, zugleich klarsten in seiner Programmauswahl. Man wusste, was man zu erwarten hatte, und dass, auch wo es einen nicht sofort überzeugte, eine kuratorische Idee dahinter stand, über die sich zumindest sinnvoll und interessant streiten lässt. An der Cinephilie des Italieners Carlo
Chatrian, der seit 2012 Direktor von Locarno ist, kann ebenfalls kein Zweifel bestehen. Trotzdem ist das Profil unter seiner Leitung weniger klar und wirkt insgesamt beliebiger.
insbesondere hat er in den Programmierungsentscheidungen, also der schieren Platzierung der Filme, keine richtig glückliche Hand. Den Eröffnungsfilm – Noemie Lvovskys Demain et tous les autres jours, den ich selbst nicht sehen konnte – hatten alle, mit denen ich
sprach, schon am gleichen Abend wieder vergessen.
Unverständlich auch, dass die gute Entscheidung, einen Film der diesjährigen Jacques-Tourneur-Retrospektive auf der Piazza zu zeigen – den so brillanten wie abgründigen I Walked with a Zombie – dadurch wieder ihren Effekt verliert, dass er erst am vorletzten Abend gezeigt wird, anstatt vielen Menschen Lust auf die
Retrospektive zu machen.
Gibt es den typischen »Locarno-Film«? Etwas, das besser hierher passt als irgendwohin sonst? Eigentlich nicht.
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Generell leidet Locarno unter einer großen Beliebigkeit mit gleichzeitiger Reizüberflutung. Zusammen mit der alljährlichen, zuletzt wieder stärker gewordenen Unebenheit des Programms, und krassen qualitativen Ausschlägen nach unten, erinnert das alles fatal an eine etwas kleinere, aber in charmanterer Umgebung veranstaltete Berlinale.
Das geht nicht nur mir so. Im letzten Jahr habe ich mal diese Gespräche beschrieben, die hier unter allen möglichen, sehr
unterschiedlichen Besuchern geführt werden – und zwar jedes Jahr aufs Neue. Man kommt trotzdem, weil der Ort schön ist, das Wetter prächtig und weil man hier eben arbeitet – wozu auch gehören muss, die Schwächen beim Namen zu nennen. Auch die Berichterstatterin einer bedeutenden überregionalen Tageszeitung bringt sich vor dieser Überfülle in die Geborgenheit der Retrospektive in Sicherheit.
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Die Retrospektiven gehören seit jeher zum Besten dieses Festivals – hier haben wir Minelli, Peckinpah, Preminger, den italienische Unterhaltungsfilm und das deutsche Nachkriegskino gesehen. Sie sind für mich persönlich der wichtigste Grund, immer wieder nach Locarno zu kommen. Die diesjährige Retro beschäftigt sich mit Jacques Tourneur (1904-1977), dem seit den späten dreißiger Jahren wichtigsten Franzosen im klassischen Hollywood. Grundsätzlich dem B-Movie
verhaftet, drehte Tourneur gerade in der Freiheit, die ihm diese billigeren, weniger korrekten und kaum starlastigen Filme ermöglichten, einige der besten und ästhetisch einflussreichsten Kinowerke seiner Zeit. Tourneur ist nicht zuletzt einer der Begründer des »Film noir«, jenes einmaligen Genres, das Anregungen durch die europäische Avantgarde aufgriff und sie mit den Erfahrungen der totalitären Diktaturen, der Kriege 1914-1918-1922, des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 und
dann des Zweiten Weltkrieges zu illusionslosen, existentialistischen, enorm zeitgemäßen Dramen verschmolz – bei Tourneur waren sie oft phantastisch, geprägt von seiner Faszination für das Schwarzromantische, das Unbewusste, das Übernatürliche.
Verschärft wurde das noch dadurch, dass Tourneur oft mit deutschen Filmemachern zusammenarbeitete, Emigranten, die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, und so auch das Film-Erbe einer spezifischen
deutschen Tradition im Exil revitalisierte: des Deutschen Expressionismus. I Walked with a Zombie schrieb Tourneur mit Curt Siodmak. Sein berühmtester Film, Katzenmenschen, wurde 1981 Vorlage für Paul Schraders Remake – mit Nastassja Kinski in der Hauptrolle.
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Seit Donnerstag nun kämpfen 18 Filme um den Goldenen Leoparden – darunter auch ein deutscher Beitrag: Freiheit des Berliner Nachwuchsregisseurs Jan Speckenbach. Zu der ganzen Reihe deutscher Beiträge, die noch zu sehen sind, gehören auch zwei, die schon einmal miteinander gemeinsam haben, dass es in ihnen kalt zugeht, und sie beide in den Bergen spielen: Drei Zinnen von Jan Zabeil und Felix Randaus Der Mann aus dem Eis. In einer fiktiven Erzählung versuchen Regisseur und Team dort offenbar, sich in das Schicksal und die letzten Lebenswochen des vor 5300 Jahren in der Jungsteinzeit verstorbenen Alpenmenschen »Ötzi« einzufühlen. Jürgen Vogel spielt den
Steinzeitmenschen.
Mit Spannung erwartet wird auch Das Kongo Tribunal, bei dem der vielfach ausgezeichnete Theaterregisseurs Milo Rau nicht nur Regie führte, sondern auch das Buch schrieb. Der Film versucht, das ungeschönte Porträt eines der größten und blutigsten Wirtschaftskriege der Geschichte zu geben. Anhand zweier Tribunale werden die Gründe und Hintergründe eines Konflikts
durchleuchtet, der aufgrund der direkten oder indirekten Verwicklung aller Großmächte unserer Zeit von manchen bereits als »Dritter Weltkrieg« bezeichnet wird und bis zu sechs Millionen Tote forderte.
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Wir warten gespannt darauf, das alles auf der Leinwand zu sehen. Denn Papier ist geduldig, das Kino nicht.