71. Filmfestspiele Cannes 2018
Konservative Revolution gegen die Populisten des Publikums |
||
Der Iraner Asghar Farhadi durfte auf Spanisch eröffnen: Everybody knows |
»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung!«
Richard von Weizsäcker, 1985»Ok, lass uns eine ernsthafte Unterhaltung haben: Du sagst mir, was du magst, was du willst, und ich mach' dasselbe. Du fängst an...«
»Blumen, Tiere, blauer Himmel, das Geräusch von Musik... Ich weiß nicht... Alles! Was ist mit dir?«
»Die Ambition, die Hoffnung, die Bewegung der Dinge, Zufälle.«
Aus Pierrot le fou
+ + +
Am Tag der Befreiung eröffnet Cannes. Es ist nur ein Zufall, aber vielleicht passt es ganz gut, dass die Eröffnung der diesjährigen Festivalausgabe, die in vieler Hinsicht später auch als ein Befreiungsschlag für das Festival oder für das Kino als solches wahrgenommen werden könnte, auf den 8. Mai fällt. Ein Feiertag in Frankreich – auch nicht schlecht. Das Wetter hält, obschon immer wieder mal Regen droht, überwiegen die Sonnenmomente. Und auch die Streiks der französischen Fluglotsen wirken sich kaum auf den Festivalauftakt aus.
+ + +
Dann geht es los. Eine tolle Eröffnungsfeier, seit langer Zeit bekomme ich sie mal mit – das ist der erste Vorteil der neuen Regelung, nach der die Filme der Presse nicht mehr vor der eigentlichen Weltpremiere gezeigt werden.
Glamourös, emotional, intellektuell, nicht »pseudo«, dabei ohne falsche Töne – nicht so diese typisch deutsche verklemmte Mischung aus »Glamour« und dann doch mit bisschen Kunstanspruch in der Schamecke, die zuletzt einige Leute auf der Gala zum
Deutschen Filmpreis kritisiert hatten.
+ + +
Schon das allererste Bild war ein Statement – und was für eins: Eine Szene aus Pierrot le Fou, Anna Karina und Jean-Paul Belmondo im Gespräch. Ein wunderbarer, ewiger Film-Augenblick: »Was magst du?« Sie: »Les fleurs, animaux, les bleus de ciel, le bruit de la musique. Je sais pas...
tout. Et toi?« Er: »L’ambition, l’espoir, le mouvement des choses, les accidents.«
Kino ist Erinnerung und Erinnerung an das Kino ist notwendig. Das zelebriert schon dieser Beginn.
Aus Pierrot le Fou stammt auch das diesjährige Festivalplakat
+ + +
Der Moderator ist der Schauspieler Eduard Baer: Im Sprechgesang aus Endlossätzen, wie auch nur in Französisch möglich, erzählt er den Zuschauern Geschichten über Cannes (»der blaue Himmel, der rote Teppich«), über das Kino (»Was verbietet uns fortzuschreiten?«), begrüßt die strahlende Anna Karina im Publikum, Belmondo in seiner Wohnung zuhause, Jean-Luc Godard in seiner Abwesenheit, und unter den Gästen unter anderem Isabelle Adjani, Costa-Gavras, Chiara Mastroianni. Und dann die
Jury. Man darf gespannt sein, was das wird: Zum ersten Mal eine mehrheitlich weiblich besetzte Jury, natürlich ein Tribut an die Kritik an männlicher Wettbewerbs-Dominanz (die auch diesmal gegeben ist, denn es gibt nunmal derzeit mehr Filme von männlichen Regisseuren, also auch mehr gute. Keine Dominanz aber in den Nebensektionen). Zugleich gilt für die Jury auch: Männer machen Filme, Frauen treten in ihnen auf; Männer sind Regisseure, Frauen Schauspielerinnen oder Sängerinnen.
Aber intellektuelles Gewicht haben Kristin Stewart, Lea Seydoux, Ava du Vernay und Cate Blanchett bestimmt nicht weniger als Andrey Zvyagintsev, Robert Guédiguian und Denis Villeneuve.
Die Jurypräsidentin wird begrüßt als »Mademoiselle Cate Blanchett« – in der Großaufnahme fallen mir ihre sehr künstlichen Fingernägel auf. Und dann diese »großen Schauspielmomente« der Cate Blanchett im Trailer: Es sind nicht immer nur gute Filme, aber doch erstaunlich viele wichtige.
Und wie lang manches schon her ist...
Von der »inspirance collective« des Kinos ist die Rede. Dann werden in kurzen Teasern 21 Filme aus 14 Ländern vorgestellt. Sieht man diese Ausschnitte an, denke ich spontan: Stéphane Brizé wird den Grand Prix gewinnen, und der Film mit Golschifte Farahani wird auch einen Preis bekommen – nicht nur wegen der »Frauenjury«.
+ + +
Im Mai ‘68 lief in den USA »The Thomas Crown Affair« an, auch daran werden wir erinnert. Dann kommt Martin Scorsese auf die Bühne, nur für drei Sätze. Es stimmt einfach alles bei dieser Eröffnung.
Zum Abschluss läuft Georges-Delerue-Musik aus Le mépris. Genau die hatte ich gestern – um »Kinostimmung« auszudrücken, in einem Radiobeitrag verwendet. Ich wusste nicht, dass wir sie
hier hören würden, aber – auch wenn das jetzt eine eitle Äußerung ist – als sie läuft, glaube ich: Ein bisschen denke ich eben wie Cannes.
+ + +
Als ich den Titel Everybody Knows erstmals gelesen hatte, habe ich spontan gedacht: Ein Dokumentarfilm über Leonard Cohen? War es dann doch nicht, leider. Sondern eine sehr soapige Geschichte, ein Thriller, der zum Melodram mutiert und nicht besser wird über seine Laufzeit von gut zwei Stunden. Anfängliche Hoffnungen, dass aus der Geschichte über eine Hochzeit in Andalusien, eine
verlorene Tochter, die nach Jahren aus Argentinien mit ihren zwei Kindern zurück ins Kindheitsdorf kommt, etwas werden könnte, wie Das Fest, Thomas Vinterbergs »Dogma«-Offenbarung, die vor genau zwanzig Jahren in Cannes die Goldene Palme gewann, oder Monsoon Wedding, zerschlagen sich schnell, trotz
kleiner, fein gesetzter Signale zu Beginn.
Immerhin eine souveräne Regie Farhadis, der alles Recht hat, einen Mainstream-Film zu drehen – es auch weidlich nutzt. Muss nicht schlecht sein. Aber die Darsteller, und zwar alle, »spielen« zu sehr, sind nie »in der Rolle«. Bei Bardem gab es Szenen-Hohngelächter im Pressesaal. Bisschen hart, aber nicht falsch.
Auch sonst ein sehr formelhafter Film. Konfektioniert.
+ + +
Eine alte Uhr, ein Zahnrad zu Beginn. Das Zahnrad der Zeit im Kirchtum von Torrelaguna. Dort gekritzelt, dick aufgetragen und insofern unübersehbar: »1982, LP«. Laura & Paco, das erschließt sich schnell.
Eine Familie aus Argentinien reist nach Andalusien, der Mann (Ricardo Darín) bleibt erstmal zuhause, die Frau (Penelope Cruz) und ihre zwei Kinder, Tochter und Sohn treffen zur Hochzeit der Schwester die Familie und alte Freunde wieder. Fast ist es
schon ein Genre. Der Hochzeitsfilm: Zeit und Raum, viele Leute. Aber Farhadi macht nichts draus.
Die reichen Argentinier werden neidisch beäugt, sind aber gar nicht so reich – das stellt sich heraus, als am Hochzeitsabend plötzlich ein Albtraum beginnt: Die Tochter wird entführt. Worauf die ganze Familie Stück für Stück zerbirst, denn es können nur Angehörige des engeren Kreises sein. Man ahnt bald, wer, und das Ende ist dann richtig schlecht. Oder gibt es einen zweiten Teil?
Und alles war ein Cliffhanger, wie in einer Daily Soap.
Trotzdem: Ein okayer Eröffnungsfilm, Stars auf dem Teppich, kein Anstoß, und manche können – recht dümmlich – Politisches hineininterpretieren.
+ + +
Dieses ganze Gerede in Deutschland, das einen durch die Gespräche mit Redakteuren dann doch erreicht, nervt nur, diese grundsätzliche Gereiztheit, mit der man Cannes begegnet, mit der man über die Filme hier und das Autorenkino schweigt, sich aber über Selfieverbote und Kleiderordnungen auf dem Roten Teppich aufregt.
Was ist denn so schlimm daran, wenn die ganzen Selfie-Addicts sich einmal nicht exhibitionieren dürfen? Kann man es nicht einmal lassen? Ist Freiheit denn nur
eine Freiheit fürs Selfiemachen?
Oder auch die Freiheit davor? Davor diese Selbstdemütigungen nicht anschauen zu müssen?
Und zur Kleiderordnung: Die deutsche Verachtung dafür belegt nur die Geringschätzung des Kinos. Es ist bei uns eben nicht wie in Frankreich »Siebte Kunst«. Wäre es das, dann würde man es für selbstverständlich halten, mal zu feiern, mit Stil, mal Stil und Etikette zu zeigen. Stattdessen: Ressentiment; die Verachtung des Kleinbürgertums für die
Form, aus der Angst, ihr nicht zu genügen.
Wer aber würde Bayreuth vorwerfen, dass man da Abendkleid und Smoking zu tragen hat? Niemand. Aber wann begreifen wir endlich, dass Cannes das Bayreuth des Kinos ist?
(to be continued)