71. Filmfestspiele Cannes 2018
Men with Books |
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Film als Malerei: Das Plakat von Godards Le livre d’image |
»Es muss eine Revolution stattfinden.«
Jean Luc Godard in »Le livre d’image«»Revolution is not a dinner party.«
aus: »Fahrenheit 451« (2018)
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Vieles stimmt nicht an der Art, wie über das Verhältnis von Kino und Politik gesprochen wird. Allzu oft ist das Verhältnis ungleich und ein Film wird nur als Vehikel gesehen, um irgendeinen politischen Inhalt zu transportieren, als trojanisches Pferd, um ein Programm oder ein Manifest ins Publikum zu schmuggeln, das sich direkter Indoktrination verweigern würde.
Solches Denken unterschätzt nicht nur das Publikum, sondern auch die Filme. Denn eine falsche, geschmacklose oder
missglückte Form kann einen Inhalt kontaminieren, aus »gut« ein »gut gemeint« machen.
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So scheint es uns unmöglich, den Film eines iranischen Regisseurs zu betrachten ohne die Frage nach dessen Verhältnis zu iranischer Politik. Im Fall von Asghar Farhadis neuem Film hätte man aber genau von solchen Iran-Fragen absehen und den Regisseur als das betrachten müssen, was er ist: Ein längst in Europa angekommener, europäischer Autorenfilmer, dessen Filme nichts mehr mit dem Iran zu tun haben, obschon er ins Exil gezwungen wurde. Aber nicht jeder iranische Emigrant muss politisch sein. Auch den Filmen von Fatih Akin tut man keinen Gefallen, wenn man sie nach ihrem Verhältnis zur türkischen Gesellschaft befragt.
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Mit den Händen könne man denken, sagt eine Stimme. Eine Reise ins Schattenreich wird angekündigt, wir hören »Orpheus ist zurück aus der Unterwelt«. »What happened on his long journey?«
Le livre d’image, »Das Buch des Bildes« heißt der neueste Streich des 87-jährigen Großmeisters der Nouvelle Vague. Jean-Luc Godards Film ist ein Unicum – sperrig und genial, ein Essayfilm in
Form eines kommentierten, in schnellen, oft abrupten Schnitten komponierten Bilderstroms. Wieder ein Essayfilm wie er für Godard typisch ist, rätselhaft, aufklärend, den Dechiffrierer belohnend, zwingend, sarkastisch. Ich finde ihn allerdings etwas weniger klar und zwingend, wie die beiden Vorgängerfilme, aber trotzdem sehr stark. Oder war ich nur müde?
Dieser Film ist ein Bewusstseinsstrom, der direkt aus dem Kopf des Regisseurs stammt. Eine assoziative Mischung aus Ausschnitten von Werken der Filmgeschichte, Nachrichtenbildern, Parolen und Begriffen in Versalien, weiße Schrift auf schwarzem Grund, übereinandergelegten Sound- und Dialogebenen, und einer Erzählerstimme, die Godard selber spricht.
Stilistisch sind die vor allem anfangs sehr schnellen Schnitte auffällig, grobe Schnitte, die die einzelnen Bestandteile,
die Brüche, und das Rohe der Montage betonen. Wie auch die schlechte technische Qualität der Vorlagen – wobei es meistens gute Filme sind, von denen er Ausschnitte nimmt –, oft Videomaterial, Fernsehmitschnitte.
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Es geht los mit der Aussage »we should be aware of Bécassine«, einer französischen Comicheldin um die Jahrhundertwende, einer Dienstmagd. Auf der Leinwand stehen dazu dann zum Beispiel die Wortpaare »Archives + Moral« oder »Image + Words«.
Anfangs geht es um »Remakes«, um das Atomzeitalter und die Atombombe aus US-Filmen, wir sehen Szenen aus Kiss Me Deadly von Robert Aldrich. Aus dem Off heißt es: »Our way of thinking and talking: … we want to
keep up appearances.« Die Stimme fordert Lügen, »tell lies«; Anna Karina sagt »Je ne suis pas triste« – und lügt dabei; dann Szenen aus Salò, Vietnam, Apocalypse Now, Menschen am Sonntag, Young Lincoln, Paisà, Vertigo. Wir lesen: »La violence, c'est une femme«.
Wir sehen Ausschnitte von Eisenstein-Filmen, und Delacroix' Gemälde »Die Freiheit führt das Volk«.
Im zweiten Teil mit dem Titel »Les Soirées à St. Petersbourg« sehen wir unter anderem »Krieg und
Frieden«-Verfilmungen, lesen »War is here«, sehen Hagen bei Lang und Ausschnitte aus einem »Cleopatra«-Stummfilm, lesen »Die Unschuldigen bezahlen für die Schuldigen«, sehen Dokumentarbilder aus Lagern, dann folgen Hinweise auf Rosa Luxemburg und den Graf Joseph de Maistre, den berühmten Reaktionär der Gegenaufklärung.
In diesem Stil geht es weiter: Schön anzusehen, beziehungsreich, aber auch kryptisch, und (produktiv) verwirrend. Zugleich ein klarer Film, Klarheit schaffend: Es
gibt so viele schöne Einsichten hier.
»Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich die, die die Macht haben, überzeugen könnte, die Dosis zu erhöhen«, sagt Godard.
Besonders schöne Stellen betreffen Filme von Jacques Tourneur, der Erzähler sagt »that this cat will desappear« – das könnte ein Kommentar sein zu Marker, oder zu Tourneur selbst.
Und zu Arabien: Arabische Nächte von Pasolini, Alexandre Dumas, die Tunisreise der Expressionisten, »Jamilah,
Jamilah« aus Pontecorvos La battaglia di Algeri, die Frage »Vielleicht war Sheherazade nach 1001 Nächten eine andere?«
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Die umfangreichste Anspielung ist eine lange Lesung aus dem Roman »Une ambition dans le désert« von Albert Crossery, dem in Paris exilierten »Voltaire des Nil«. Kunst wird hier klar charakterisiert als Überlebensmittel
Der durch den Erzähler und durch fünf Kapitel vorgegebene rote Faden ist genau das: »In unserer Epoche ist alles möglich.« Der Krieg. Die Revolution, Authentizität, die Transformation der Wirklichkeit. IMAGES & PAROLES. »There has to be a
revolution.«
Alles mündet in ein Crescendo der Botschaften. Das Kino als Terrorzusammenhang. Ein Satz von Bertolt Brecht gegen Ende gibt rückwirkend die Ästhetik vor: »Nur das Fragment ist authentisch.« Ich habe vergeblich versucht, den Satz zu googeln, aber eigentlich ist es ja auch egal. Vielleicht hat ihn Godard auch erfunden. Zuzutrauen wäre es ihm.
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Ausgerechnet der älteste aktive Regisseur im Wettbewerb erzählt von Gegenwart und Zukunft: Jean-Luc Godard beschreibt verlorene Paradiese, unser aller Verhältnis zu den Bildern, zu seinem Scheincharakter, und die allmähliche Transformation unserer Wirklichkeit – die die ganze Welt, nicht nur den Westen betrifft. Der Film hat einen melancholischen Grundton, aber eine entschiedene Haltung: Le livre d’image muss nicht als Abgesang bezeichnet werden, schon gar nicht auf das Kino, aber als scharfe Kritik unserer Kultur.
Er werde immer auf der Seite der Bombenleger sein. »Es muss eine Revolution stattfinden« ist einer der Schlüsselsätze eines Film, der sich in Godards Spätwerk fügt, wenn er auch nicht ganz so zwingend ist wie seine letzten Filme.
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»Better to be free, than happy.« – Ganz treffend zu Godards Film fügt sich einer der unterhaltsamsten Filme in Cannes: Fahrenheit 451, eine Neuverfilmung des Ray-Bradbury-Klassikers, den vor fünfzig Jahren bereits Godards Freund François Truffaut verfilmte: Es geht um eine totalitäre dystopische Welt, in der nach »dem zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg« mit acht Millionen
Toten Bücher und Papier als Verbrechen gelten. Und Regisseur Ramin Bahrani sorgt dafür, dass sie der Gegenwart des digitalen Vergessens zum Verwechseln ähnlich sieht: Mit Anspielungen auf Facebook, Twitter und die Jugendkultur der Likes inszeniert er ein Amerika, in der »Demokratie« die Ideologie der Herrschenden ist, und politische Korrektheit, auch die der Feministen und Ökologen, in Bücherverbrennungen und Gedankenkontrolle mündet: »Henry Miller, Hemingway, – the
feminists did not agree – so fire.« Plötzlich sind Proust und Hemingway Waffen einer subversiven Bücher-Guerilla.
Und Bücher und das Lesen verkörpern die Bedrohung der herrschenden Ideologie, die genau das verkündet, was auch die Ideologen unseres neoliberalen Mainstream sofort unterschreiben würden: »Happiness is Truth«, »Self is Strength«, »Freedom is Choice.« Das Böse dieser schönen Welt liegt vor allem in der Uneindeutigkeit: »Professors used books to plant trouble in
your heads. They try not to make you unhappy.«
Die Bücher, die geächtet sind, hat Bahrani gegenüber der Vorlage aktualisiert: Neben dem Koran, Machiavelli, Shakespeare, Kafka und der »Bill of Rights« wird auch Bradburys »Fahrenheit 451« den Flammen zum Fraß vorgeworfen. Michael Shannon spielt den insgeheim skrupulösen Schurken der Feuerwehr, die für die Brandbeschleunigung zuständig ist und Polizeigewalt hat. »When you have a 'why' to fight, you find a 'how'.«
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»Revolution is not a dinner party«, sagt eine der Figuren im Film. Wer sich das Leben aber wie viele nur als Dinnerparty vorstellen kann, taugt nicht zum Revolutionär.
(to be continued)