16.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Men with Books

Der Leopard
Film als Malerei: Das Plakat von Godards Le livre d’image

Das Kino als Terrorzusammenhang: Tugend, Katzen, Bombenleger – Cannes-Notizen, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es muss eine Revo­lu­tion statt­finden.«
Jean Luc Godard in »Le livre d’image«

»Revo­lu­tion is not a dinner party.«
aus: »Fahren­heit 451« (2018)

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Vieles stimmt nicht an der Art, wie über das Verhältnis von Kino und Politik gespro­chen wird. Allzu oft ist das Verhältnis ungleich und ein Film wird nur als Vehikel gesehen, um irgend­einen poli­ti­schen Inhalt zu trans­por­tieren, als troja­ni­sches Pferd, um ein Programm oder ein Manifest ins Publikum zu schmug­geln, das sich direkter Indok­tri­na­tion verwei­gern würde.
Solches Denken unter­schätzt nicht nur das Publikum, sondern auch die Filme. Denn eine falsche, geschmack­lose oder miss­glückte Form kann einen Inhalt konta­mi­nieren, aus »gut« ein »gut gemeint« machen.

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So scheint es uns unmöglich, den Film eines irani­schen Regis­seurs zu betrachten ohne die Frage nach dessen Verhältnis zu irani­scher Politik. Im Fall von Asghar Farhadis neuem Film hätte man aber genau von solchen Iran-Fragen absehen und den Regisseur als das betrachten müssen, was er ist: Ein längst in Europa ange­kom­mener, europäi­scher Autoren­filmer, dessen Filme nichts mehr mit dem Iran zu tun haben, obschon er ins Exil gezwungen wurde. Aber nicht jeder iranische Emigrant muss politisch sein. Auch den Filmen von Fatih Akin tut man keinen Gefallen, wenn man sie nach ihrem Verhältnis zur türki­schen Gesell­schaft befragt.

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Mit den Händen könne man denken, sagt eine Stimme. Eine Reise ins Schat­ten­reich wird angekün­digt, wir hören »Orpheus ist zurück aus der Unterwelt«. »What happened on his long journey?«
Le livre d’image, »Das Buch des Bildes« heißt der neueste Streich des 87-jährigen Groß­meis­ters der Nouvelle Vague. Jean-Luc Godards Film ist ein Unicum – sperrig und genial, ein Essayfilm in Form eines kommen­tierten, in schnellen, oft abrupten Schnitten kompo­nierten Bilder­stroms. Wieder ein Essayfilm wie er für Godard typisch ist, rätsel­haft, aufklä­rend, den Dechif­frierer belohnend, zwingend, sarkas­tisch. Ich finde ihn aller­dings etwas weniger klar und zwingend, wie die beiden Vorgän­ger­filme, aber trotzdem sehr stark. Oder war ich nur müde?

Dieser Film ist ein Bewusst­seins­strom, der direkt aus dem Kopf des Regis­seurs stammt. Eine asso­zia­tive Mischung aus Ausschnitten von Werken der Film­ge­schichte, Nach­rich­ten­bil­dern, Parolen und Begriffen in Versalien, weiße Schrift auf schwarzem Grund, über­ein­an­der­ge­legten Sound- und Dialo­ge­benen, und einer Erzäh­ler­stimme, die Godard selber spricht.
Stilis­tisch sind die vor allem anfangs sehr schnellen Schnitte auffällig, grobe Schnitte, die die einzelnen Bestand­teile, die Brüche, und das Rohe der Montage betonen. Wie auch die schlechte tech­ni­sche Qualität der Vorlagen – wobei es meistens gute Filme sind, von denen er Ausschnitte nimmt –, oft Video­ma­te­rial, Fern­seh­mit­schnitte.

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Es geht los mit der Aussage »we should be aware of Bécassine«, einer fran­zö­si­schen Comic­heldin um die Jahr­hun­dert­wende, einer Dienst­magd. Auf der Leinwand stehen dazu dann zum Beispiel die Wortpaare »Archives + Moral« oder »Image + Words«.
Anfangs geht es um »Remakes«, um das Atom­zeit­alter und die Atombombe aus US-Filmen, wir sehen Szenen aus Kiss Me Deadly von Robert Aldrich. Aus dem Off heißt es: »Our way of thinking and talking: … we want to keep up appearances.« Die Stimme fordert Lügen, »tell lies«; Anna Karina sagt »Je ne suis pas triste« – und lügt dabei; dann Szenen aus Salò, Vietnam, Apoca­lypse Now, Menschen am Sonntag, Young Lincoln, Paisà, Vertigo. Wir lesen: »La violence, c'est une femme«.
Wir sehen Ausschnitte von Eisen­stein-Filmen, und Delacroix' Gemälde »Die Freiheit führt das Volk«.
Im zweiten Teil mit dem Titel »Les Soirées à St. Peters­bourg« sehen wir unter anderem »Krieg und Frieden«-Verfil­mungen, lesen »War is here«, sehen Hagen bei Lang und Ausschnitte aus einem »Cleopatra«-Stummfilm, lesen »Die Unschul­digen bezahlen für die Schul­digen«, sehen Doku­men­tar­bilder aus Lagern, dann folgen Hinweise auf Rosa Luxemburg und den Graf Joseph de Maistre, den berühmten Reak­ti­onär der Gegen­auf­klärung.
In diesem Stil geht es weiter: Schön anzusehen, bezie­hungs­reich, aber auch kryptisch, und (produktiv) verwir­rend. Zugleich ein klarer Film, Klarheit schaffend: Es gibt so viele schöne Einsichten hier.
»Ich wäre der glück­lichste Mensch, wenn ich die, die die Macht haben, über­zeugen könnte, die Dosis zu erhöhen«, sagt Godard.
Besonders schöne Stellen betreffen Filme von Jacques Tourneur, der Erzähler sagt »that this cat will desappear« – das könnte ein Kommentar sein zu Marker, oder zu Tourneur selbst.
Und zu Arabien: Arabische Nächte von Pasolini, Alexandre Dumas, die Tunis­reise der Expres­sio­nisten, »Jamilah, Jamilah« aus Ponte­corvos La battaglia di Algeri, die Frage »Viel­leicht war Shehe­ra­zade nach 1001 Nächten eine andere?«

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Die umfang­reichste Anspie­lung ist eine lange Lesung aus dem Roman »Une ambition dans le désert« von Albert Crossery, dem in Paris exilierten »Voltaire des Nil«. Kunst wird hier klar charak­te­ri­siert als Über­le­bens­mittel
Der durch den Erzähler und durch fünf Kapitel vorge­ge­bene rote Faden ist genau das: »In unserer Epoche ist alles möglich.« Der Krieg. Die Revo­lu­tion, Authen­ti­zität, die Trans­for­ma­tion der Wirk­lich­keit. IMAGES & PAROLES. »There has to be a revo­lu­tion.«
Alles mündet in ein Crescendo der Botschaften. Das Kino als Terror­zu­sam­men­hang. Ein Satz von Bertolt Brecht gegen Ende gibt rück­wir­kend die Ästhetik vor: »Nur das Fragment ist authen­tisch.« Ich habe vergeb­lich versucht, den Satz zu googeln, aber eigent­lich ist es ja auch egal. Viel­leicht hat ihn Godard auch erfunden. Zuzu­trauen wäre es ihm.

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Ausge­rechnet der älteste aktive Regisseur im Wett­be­werb erzählt von Gegenwart und Zukunft: Jean-Luc Godard beschreibt verlorene Paradiese, unser aller Verhältnis zu den Bildern, zu seinem Schein­cha­rakter, und die allmäh­liche Trans­for­ma­tion unserer Wirk­lich­keit – die die ganze Welt, nicht nur den Westen betrifft. Der Film hat einen melan­cho­li­schen Grundton, aber eine entschie­dene Haltung: Le livre d’image muss nicht als Abgesang bezeichnet werden, schon gar nicht auf das Kino, aber als scharfe Kritik unserer Kultur.
Er werde immer auf der Seite der Bomben­leger sein. »Es muss eine Revo­lu­tion statt­finden« ist einer der Schlüs­selsätze eines Film, der sich in Godards Spätwerk fügt, wenn er auch nicht ganz so zwingend ist wie seine letzten Filme.

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»Better to be free, than happy.« – Ganz treffend zu Godards Film fügt sich einer der unter­halt­samsten Filme in Cannes: Fahren­heit 451, eine Neuver­fil­mung des Ray-Bradbury-Klas­si­kers, den vor fünfzig Jahren bereits Godards Freund François Truffaut verfilmte: Es geht um eine tota­li­täre dysto­pi­sche Welt, in der nach »dem zweiten Ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg« mit acht Millionen Toten Bücher und Papier als Verbre­chen gelten. Und Regisseur Ramin Bahrani sorgt dafür, dass sie der Gegenwart des digitalen Verges­sens zum Verwech­seln ähnlich sieht: Mit Anspie­lungen auf Facebook, Twitter und die Jugend­kultur der Likes insze­niert er ein Amerika, in der »Demo­kratie« die Ideologie der Herr­schenden ist, und poli­ti­sche Korrekt­heit, auch die der Femi­nisten und Ökologen, in Bücher­ver­bren­nungen und Gedan­ken­kon­trolle mündet: »Henry Miller, Hemingway, – the feminists did not agree – so fire.« Plötzlich sind Proust und Hemingway Waffen einer subver­siven Bücher-Guerilla.
Und Bücher und das Lesen verkör­pern die Bedrohung der herr­schenden Ideologie, die genau das verkündet, was auch die Ideologen unseres neoli­be­ralen Main­stream sofort unter­schreiben würden: »Happiness is Truth«, »Self is Strength«, »Freedom is Choice.« Das Böse dieser schönen Welt liegt vor allem in der Unein­deu­tig­keit: »Profes­sors used books to plant trouble in your heads. They try not to make you unhappy.«
Die Bücher, die geächtet sind, hat Bahrani gegenüber der Vorlage aktua­li­siert: Neben dem Koran, Machia­velli, Shake­speare, Kafka und der »Bill of Rights« wird auch Bradburys »Fahren­heit 451« den Flammen zum Fraß vorge­worfen. Michael Shannon spielt den insgeheim skru­pulösen Schurken der Feuerwehr, die für die Brand­be­schleu­ni­gung zuständig ist und Poli­zei­ge­walt hat. »When you have a 'why' to fight, you find a 'how'.«

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»Revo­lu­tion is not a dinner party«, sagt eine der Figuren im Film. Wer sich das Leben aber wie viele nur als Dinner­party vorstellen kann, taugt nicht zum Revo­lu­ti­onär.

(to be continued)