71. Filmfestspiele Cannes 2018
Rauchend durch Cannes |
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Alice Rohrwacher, sehr überzeugend: Lazzaro felice |
Von Till Kadritzke
Als Programmleiter Thierry Frémaux vor einigen Wochen auf der obligatorischen Pressekonferenz den Wettbewerb des diesjährigen Festivals von Cannes vorstellte, war man vielerorts ein wenig überrascht über den deutlich geringeren Anteil jener üblichen Verdächtigen, die noch jeden der letzten Jahrgänge bestimmten. Statt dem Who-is-Who des europäischen Autorenfilms, statt also Namen wie Assayas, Leigh, Loach, Dardenne, Almodóvar, Ozon, Haneke, Lanthimos oder Sorrentino war von A.B. Shawky die Rede, von Ryusuke Hamaguchi, Eva Husson, Sergey Dvortsevoy und Nadine Lebaki. Zu diesen auf dem roten Teppich an der Côte d’Azur bislang nicht auffällig gewordenen RegisseurInnen gesellten sich der seit 27 Jahren nicht mehr eingeladene Spike Lee sowie Cannes bereits bekannte, aber noch junge FilmemacherInnen wie Alice Rohrwacher und David Robert Mitchell. Die klassischen Kandidaten kamen mit Hirokazu Koreeda, Jia Zhang-ke, Asghar Farhadi und dem erst spät ins Programm aufgenommenen Nuri Bilge Ceylan eher aus Nah- und Fernost.
Dass vor allem einige ältere Herrschaften einen Platz in diesem Wettbewerb, der immerhin den Anspruch erhebt, den Status quo des Weltkinos zu repräsentieren, geradezu abonniert zu haben schienen, stellte eine immer wieder geäußerte Kritik am Auswahlkomitee dar. Wurde hier womöglich Jahr für Jahr einer neuen Generation von Filmschaffenden der Zugang zum begehrten Club schon am Einlass verwehrt, weil die Gästeliste längst vorgedruckt war? Einerseits also ein überfälliger Move. Andererseits wurde die Auswahl dann eben doch mit viel Skepsis beäugt, zu viele bekanntere Werke schwirrten im Vorfeld als Gerüchte umher, und weil einige von ihnen wohl nicht rechtzeitig fertig geworden waren, befürchtete man, der Wettbewerb bildete womöglich eine Art Plan B ab.
Als wäre das Festival ein bisschen nervös, wie sein Make-over bei Publikum und Kritik ankommt, wurde in den ersten Filmen auffällig viel geraucht. Bei Christoph Honoré – einem europäischen Autorenfilmer, allerdings seit seinem Chanson der Liebe von 2007 nicht mehr im Wettbewerb – raucht eigentlich nur Jacques, dafür aber ständig und überall. Er kann das recht sorglos tun, weil er andere Sorgen hat, weil seine Zeit begrenzt ist. Honoré hat seinen Sorry Angel in den 1990er Jahren angesiedelt, Jacques ist HIV-positiv, flirtet zwar noch immer ungehemmt mit hübscheren, jüngeren Männern, hat aber geschworen, sich auf keine große Liebesgeschichte mehr einzulassen. Die Herausforderung wird angenommen von Arthur, der sich mit seinen zarten 22 Jahren noch gänzlich unbedarft durchs Leben tanzt und vögelt. Die Liebesgeschichte, die sich entwickelt, erzählt Honoré mit tollem Understatement, das diesem von vornherein zur Flüchtigkeit verdammten Zusammentreffen angemessen scheint. Beide haben zudem schon ein vollgestelltes Leben, der eine als Schriftsteller in Paris, der andere als Student in Rennes, und Sorry Angel wird deshalb von einer ganzen Schar aus Nebenfiguren bevölkert, die viel mehr sind als Stichwortgeber für einen Liebesfilm. Sorry Angel ist ein leiser Film, der gerade deshalb nahegeht, weil das große Drama von vornherein gedämpft ist, weil klar ist, dass das, worauf alles hinausläuft, niemals wirklich beginnen wird.
Honorés Film war ein erster Fixpunkt in einem Festival, das nach dem seichten Eröffnungsfilm Everybody Knows von Asghar Farhadi zunächst nicht so recht vom Fleck zu kommen schien. Die Wettbewerb-Debütanten Kirill Serebrennikov und Pawel Pawlikowski legten mit Leto und Cold War zwei Period Pieces in Schwarz-Weiß vor, in denen schon aufgrund ihrer Verortung in Musiker- und Bohème-Milieus viel geraucht wurde. Während es Serebrennikov vor allem um die Beschwörung eines subkulturellen Rock-Lifestyles in den 1980er Jahren geht, Leto dementsprechend ein eher driftender Film mit Überlänge ist, geht Pawlikowski mit seiner Liebesgeschichte vor weltpolitischen Verwerfungen strenger und ökonomischer vor. Immer wieder verlieren sich Musiker Wiktor und Sängerin Zula im Europa der 1940er und 1950er, geraten zwischen die Fronten des Kalten Kriegs, treffen sich mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Vorhangs wieder, bevor dieser sich endgültig schließt und der Liebe gar keinen Raum mehr gibt. Beide Filme sind auf ihre Weise sehr selbstbewusste, vielleicht etwas zu selbstbewusste Werke, die stets alle Zügel in der Hand behalten.
Spannender, weil weniger vorhersehbar, war da der neue Film eines der wenigen »Cannes-Abonnenten« in diesem Jahrgang: Jia Zhang-khes Ash Is Purest White beginnt mit Zigaretten in einem Hinterzimmer, durch das Qiao wie eine Göttin sich bewegt. Innerhalb seiner zweieinhalb Stunden Dauer wird dieser Film aber auf große Fahrt gehen, Qiao am Ende knapp 8000 Kilometer zurückgelegt und fünf Jahre im Gefängnis verbracht haben. Wenn sie am Ende zurückfindet in die Stadt, in der alles seinen Anfang nahm, ist das Verhältnis zwischen ihr und Bin, ihrer großen Liebe, ein anderes. In der Kernsequenz von Ash Is Purest White hat sie ihm nämlich bei einer Auseinandersetzung mit einer Gang das Leben gerettet und ist dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Ähnlich wie in Honorés Film ist das Schöne an Jias Film weniger die präzise Beobachtung einer zwischenmenschlichen Beziehung als das Interesse an der eigenen filmischen Welt und allem, was sie bevölkert. Qiaos Suche nach Bin nach ihrer Entlassung führt sie durch halb China und wird großartig lang ausgedehnt, einmal steigt sie sogar an einem verlassenen Bahnhof aus und sieht vielleicht ein Ufo. Wie schon in seinem letzten Film Mountains May Depart, zu dem Ash Is Purest White eine Art Companion Piece ist, spiegelt Jia das Große im Kleinen: Während das Land sich modernisiert, zwischen agrarischer Industrie, wahnwitzigen Großprojekten, Popkultur (diesmal ist nicht »Go West«, sondern »YMCA« musikalisches Leimotiv) und Ehrenkodizes, müssen sich seine Figuren unentwegt veränderten Umständen anpassen.
Nach so viel qualmenden Filmen braucht man sich über Raucherhusten nicht zu wundern, aber der junge Graf, der an einem solchen leidet, bekämpft ihn auch nur, indem er sich eine Zigarette anzündet. Dieser junge Graf ist Teil des wundersamen Figurenensembles, das den ersten wirklichen Höhepunkt dieses Cannes-Festivals bewohnt, Alice Rohrwachers Lazzaro felice. Die 36-jährige Italienerin hatte bereits 2014 mit Land der Wunder den Wettbewerb aufgemischt, und auch ihr neuer Film zeichnet sich durch eine Verquickung von Alltäglichem und Erhabenem aus, die mit dem Begriff des magischen Realismus nur ungenügend beschrieben wäre. Die titelgebende Lazarus-Figur lebt in einer kleinen Dorfgemeinschaft in Norditalien, die streng von jeder Außenwelt abgeschirmt ist und die, wie wir bald erfahren, in quasi-feudaler Abhängigkeit von einer Gräfin gehalten wird. Ein Heiliger ist dieser Lazzaro, und wenn Rohrwachers Film im zweiten Teil einen beachtlichen Zeitsprung vollführt, dann ist er nicht gealtert, sondern noch immer der gutmütige Jugendliche, der den Menschen hilft. Heiligengeschichte und Sozialrealismus, Mythisches und Politisches verknüpft Rohrwacher mit erstaunlich leichter Hand; und dass sich hier aus derart verschiedenen Versatzstücken ein Film zusammensetzt, der dennoch wie aus einem Guss erscheint, grenzt tatsächlich an ein Wunder. Ein Wunder, das Hélène Louvarts tolle 16mm-Kamera in angemessene Farben kleidet.
Auch die klassische Zigarette danach darf in diesem Wettbewerb natürlich nicht fehlen: Osamu raucht sie, in Hirokazu Koreedas Shoplifters, ganz beseelt, nachdem er erstmals seit langer Zeit wieder mit seiner Frau Nobuyo geschlafen hat. Zuvor hatte er einer Freundin noch erklärt, die Verbindung zu seiner Partnerin finde eben eher über das Herz statt als über den Schritt, aber schon ein paar
Szenen später verführt, oder besser: überwältigt diese Herzensdame ihn und reißt ihm die Klamotten vom Leib. Die beiden sind Kern eines jener untypischen Familienzusammenhänge, für die der japanische Regisseur bekannt ist. Hier jedoch sind jegliche tatsächlichen Blutsbande vollends gekappt, was Koreeda erlaubt, eine seit Nobody Knows (2004) nicht mehr dagewesene politische Ebene
in seinen Film zu ziehen – wenn am Ende nämlich das utopische Familienprojekt scheitern muss, weil sich der Staat eben doch mehr für DNA als fürs Glück interessiert. Shoplifters ist Koreedas stärkster Film seit langem, weil er uns in einen Figurenzusammenhang wirft, in dem wir uns erstmal selbst zurecht finden müssen, weil er nicht die ganze Arbeit selber macht.
Lohnende
Entdeckungstour, to be continued…
Zwar hat also der Wettbewerb mit A.B. Shawkys Yomeddine und Eva Hussons Girls of the Sun auch Filme zu bieten, die wie wandelnde Arthouse-Klischees anmuten, die eine Vorstellung vom Kino an den Tag legen, in der jedes weinende Close-up, jedes menschliche Unrecht vorgeblich nur ins Bild gesetzt zu werden braucht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Und doch ist die Entdeckungstour im Jahr der weniger Namhaften bislang eine äußerst lohnende. Auch wenn bislang in erster Linie Cannes-Wiedergänger überzeugt haben, ist doch generell ein wenig mehr Neugier im Spiel, wenn der Wettbewerb nicht bloß aus den neuesten Einträgen in bereits umfängliche Oeuvres besteht. Das Rauchen kann also langsam aufhören, das Festival hat keinen Grund mehr, nervös zu sein.
Achja: Die härteren Drogen gibt es nebenan in der Nebensektion »Quinzaine des Réalisateurs«, schon immer auch Auffangbecken für bekannte Namen, die nicht in den Wettbewerb eingeladen wurden. Ins Opium flüchten sich da etwa die französischen Soldaten in Guillaume Nicloux’ eindrücklichem To the Ends of the World, der im ersten Indochina-Krieg spielt und sich an den Körper eines Mannes heftet, der in der ersten Szene als einziger Überlebender eines Massakers einem Massengrab entsteigt. Und Gaspar Noé hat großen Spaß daran, seinem Ensemble-Cast LSD in die Getränke zu mischen, auf dass die Party nicht in eine Sexorgie, sondern in einen kollektiven Bad Trip mündet. Als virtuose Choreographie mit Kamera lässt sich Climax bewundern, Noés Poser-Gestus mitsamt vorangestelltem Abspann und Literaturliste aber macht weite Teile des Films zu einer eher selbstbezüglichen Veranstaltung. Ähnliches lässt sich für den eher dem Alkohol zugeneigten Lars von Trier sagen. Bekanntlich erklärte der Däne, beim Dreh seines Films größtenteils hackedicht gewesen zu sein. Um festzustellen, dass Alkoholkonsum aggressiv und wehleidig machen kann, hätte man The House That Jack Built nicht unbedingt ansehen müssen. Und auch als Provokation ist sein Film, der außer Konkurrenz läuft, eher öde, mutet eher an wie ein Selbstgespräch übers Töten und die Kunst, oder wie ein einziger blutig augenzwinkernder Gag über den Regisseur selbst und seinen Hitler-Flirt. Weil er sich ohnehin nicht an uns richtet, lassen wir den lallenden Lars also lieber beiseite, stecken uns noch eine Kippe an und freuen uns auf die letzten unüblichen Verdächtigen dieses Festivals.