71. Filmfestspiele Cannes 2018
Mit dem Feuer spielt man nicht |
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Nachhaltig beeindruckend: Lee Chang-dongs Burning |
»You should read before burning«
aus: »Fahrenheit 451«
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Merkwürdige Koinzidenzen in den letzten Tagen an der Croisette: Tatsächlich ist es sehr merkwürdig, dass das Leitmotiv des Feuers und der Selbstverbrennung hier plötzlich in gleich drei Filmen hintereinander kommt, zudem hier auch jeweils ein Mensch brennt, sogar in fünf, sechs, sieben, wenn man noch Metaphorisches wie Spike Lees Ku-Klux-Klan-Film BlacKkKlansman und Alicia Rohrwachers
Lazzaro felice dazurechnet, oder Fahrenheit 451 außer Konkurrenz, und natürlich Ulrich Köhlers In My Room, in dem ein Haus angesteckt wird, in dem unter anderem auch eine kürzlich verstorbene
Großmutter aufgebahrt liegt.
Allerdings nimmt die Konkretion dieser Feuer dann sehr unterschiedliche Formen an.
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Lee Chang-dong ist ein sehr bewährter koreanischer Autorenfilmer, der schon mehrfach mit Filmen in Cannes war, der dort und in Venedig Preise gewann – kein Unbekannter also. Lee kann sehr poetische Geschichten erzählen, gleichzeitig mischt sich seine Poesie mit einem genauen und dabei unbedingt humanistischen Blick einerseits auf die Menschen, andererseits auf deren Zusammenleben.
Sein neuer Film Burning geht auf eine Kurzgeschichte von Haruki Murakami zurück. Hier erzählt Lee eine Dreiecksgeschichte: Im Zentrum steht Jong-soo, ein junger Mann mit schriftstellerischem Ehrgeiz, der durch einen Zufall Hae-mi wiedertrifft, eine alte Kindheitsfreundin. Sie verlieben sich, beginnen ein Verhältnis. Dann lernt Hae-mi einen anderen Mann kennen, Ben, der sie
fasziniert, und zum Eindringling in diese Freundschaft wird. Ben wird sofort als kalter, narzisstischer Yuppie charakterisiert, als reicher Schnösel. Er fährt einen schwarzen Porsche 911. Im Gespräch vergleicht ihn Jong-soo mit Gatsby.
Sie sehen sich ein paar mal, in Bens Luxuswohnung wird gekocht, man geht mit seinen Freunden teuer essen. Jong-soo mag ihn nicht, wahrt aber den Schein. Was Hae-mi mit ihm wirklich verbindet, ob sie auch ein Verhältnis haben, bleibt unklar. Das geht
so dahin, es gibt Eifersucht, man glaubt eher an ein übliches Beziehungsdrama.
Was dann aber passiert: Eines Tages ist die junge Frau sehr überraschend weg. Jong-soo versucht sie zu erreichen, aber er findet sie nicht, sie ist spurlos verschwunden. Zugleich mehren sich ganz sachte die Indizien, dass Ben vermutlich umgebracht hat, dass er ein Serienmörder ist, der regelmäßig Frauen tötet… Das kann aber unser Held nicht beweisen. Deswegen nimmt Jong-soo das Gesetz selbst in
die Hand: Er tötet Ben und verbrennt den Porsche und die Leiche.
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Eine schreckliche Handlung, gleichzeitig, so paradox es klingt, ein schöner Film, der sehr viel über die koreanische Gesellschaft erzählt, auch in beiläufigen Eindrücken. Es geht nicht zuletzt um Kritik am Korea der Gegenwart, an charakterlicher und sozialer Korruption, und darum, wie Korea sich von sich selbst entfremdet und viele Traditionen des Zusammenlebens verloren gehen – die Einsamkeit im modernen Hyperkapitalismus.
Und es geht um die neu entstehenden
Klassengesellschaften: Denn Ben ist der Sohn aus reichem Hause, er arbeitet nicht, er will den westlichen Lebensstil adaptieren, italienisch kochen, Porsche fahren, einen amerikanischen Namen tragen.
In Hae-sis und Jong-soos Verhalten ihm gegenüber zeigt der Regisseur zwei potentielle Verhaltensweisen der Unterklassen: Frustration und unterdrückter Hass bei Jong-soo, Opportunismus, Anbiederung und Faszination bei Hae-si, unausgesprochener Neid bei beiden.
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Das ästhetisch Besondere von Burning ist zum einen der genaue Blick, zum anderen die Beiläufigkeit des Erzählens. Meine Seh-Erfahrung – die eben geschilderte Handlung kannte ich ja vorher nicht – war die, dass ich mich immer wieder während des Films gefragt habe, was denn hier jetzt eigentlich passiert?
Zum Beispiel, als die drei sich im Elternhaus von Jong-soo treffen.
Gegenüber wuchs Hae-mi auf, das Haus ist aber abgerissen, und spurlos verschwunden. Alle drei trinken, rauchen Marihuana, aus der Musikalage von Bens Porsche läuft Mies Davis, und die bekiffte Hae-mi tanzt dazu in der Abendsonne. Irgendwann zieht sie ihr T-Shirt aus, tanzt mit nacktem Busen weiter: Verführerisch, selbstvergessen. Ganz langsam wandelt sich das Strahlen ihres Gesichts in Verzweiflung und Schluchzen…
Später unterhalten sich Ben und Jong-soo. Er würde ab und zu
leerstehende Gewächshäuser anzünden, sagt Ben, alle zwei Monate. Das Gespräch, das zunächst nur die Gleichgültigkeit und Launenhaftigkeit des Zynikers Ben zu illustrieren scheint, wird später erst als Metapher einer boshafteren Wahrheit, als Geständnis Bens, erkennbar.
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Als Hae-mi dann verschwindet, geschieht auch dies beiläufig: Jong-soo erreicht sie nicht. Man denkt sich nichts dabei, auch als das eine Weile so geht, denkt man, sie taucht nur ab, weil sie sich gestritten haben: »Die kommt schon wieder« – tut sie eben nicht.
Das alles, auch diese schmerzhafte Erkenntnis erleben wir mit den Augen der Hauptfigur; mit Jong-soos Augen der Hauptfigur sammeln wir – sozusagen detektivisch – kleine Indizien: Hae-sis Uhr in Bens
Badezimmerschublade. Bens Katze, die auf den Namen von Hae-sis Katze hört. Das wissende Lächeln auf Bens Gesicht: Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, das du weißt… Der unterdrückte Hass findet keinen Ausweg, aber Jong-soo ist auch keine Maus, mit der Benn wie eine Katze spielen kann.
Der Film ist auch ansonsten sehr genau erzählt und beobachtet, über Objekte wie das Feuerzeug von Ben, das dieser am Abend vor Hae-sis Verschwinden bei Jing-soo vergisst, und das am Ende das
Feuer entzünden wird, sowie über die Beschreibung von Orten, Wohnungen, Zimmern.
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Bei Hae-si Tanz im Sonnenuntergang läuft Miles Davis' Musik von Fahrstuhl zum Schaffott – toll! Und im Rückblick natürlich bewusste Prophetie des Regisseurs oder gar ein zynischer Witz von Ben.
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Ein ungemein cooler Film! Mein erster Gedanke nach dem Screening: Der gewinnt nix. Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.
Der Film und seine Figuren sind überdies derart offen, dass jederzeit alles passieren kann. Man hält es sogar für möglich, dass ganz am Schluss Hae-si plötzlich wieder auftaucht, und Jong-soo einem bitteren Irrtum, einer Hass-Paranoia erlegen ist.
Was ist die Moral des Films über Obsessionen? Zum einen: Man will sich manchmal einfach rächen, will einfach
bestrafen. Es gibt das Gefühl: Der soll nicht leben. Der soll nicht glücklich sein.
Zum zweiten: Männliche Verunsicherung und male rage. Am Freitagabend dachte ich nach Nuri Bilge Ceylans Dreistundenfilm, dass dessen junger Schriftsteller Jong-soo verblüffend ähnelt. Auch der kehrt ins Elternhaus zurück. Auch der hat Probleme mit dem Vater, der ihm peinlich ist – in Burning steht der cholerische Vater vor Gericht und wird wegen Wutausbruchs zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Und natürlich bricht am Ende bei auch Jong-hoo unterdrückte Wut aus.
Der Mörder Ben hingegen ist hilflos, ist rettungslos indifferent, kann nicht connecten. Er wirkt wie eine koreanische Ausgabe von Patricia Highsmiths Ripley.
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In einem Gespräch von vier Amerikanerinnen lauschend höre ich, dass sie die Frauenfigur nicht mögen, weil sie zu sexy sei. Warum finden die Leute, wenn eine Frau sexy ist, sie blöd?
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In En guerre von Stephane Brizé geht es zunächst mal um das innere Feuer. Der Titel heißt »im Krieg«, aber es schwingt auch das englische Wort »Anger« mit, also Wut.
Das gibt die Richtung vor: Das Erregungs- und Intensitätslevel in diesem Film liegt permanent bei 120 Prozent, es wird unterbrochen geschrien, geprügelt und geflucht. Eine Firma wird geschlossen und zwar von deutschen
Heuschrecken. Plötzlich stehen über 1000 Leute auf der Straße und wollen das nicht mitmachen, sie verweisen auf Versprechungen, die von der Arbeitgeberseite gemacht und nicht gehalten wurden. Die Realität des Marktes und die Versprechen der Vergangenheit. Nun streiken sie.
Charismatisches wie moralisches Zentrum ist dabei der von Vincent Lindon verkörperte kommunistische Arbeiterführer Eric. Ihn als einzigen lernt man näher und ein wenig privat kennen. Man sieht dieses
soziale System »Gewerkschaft im Streik«, die Arbeiter permanent beim Demonstrieren und Verhandeln, Privates und Psychologisches fehlt – eher glaubt man einer naturalistisch-positivistischen Langzeitbeobachtung in langen Einstellungen und einer Gebrauchsableitung zum Streik zu folgen. Das Ganze entwickelt sich: Zäh, konsequent, immer auf einem sehr hohen Wut-Level, es werden Streikbrecher verspottet, Verhandlungen geführt. Arbeitskampf ist ein mühevoller, ein
quälender Prozess und in diesem Fall auch für den Zuschauer quälend: Denn als der Streik nach Monaten scheitert – greift Eric zum drastischen aller möglichen Mittel: Er zündet sich selbst an!
Mit 20 Minuten Standing Ovations belohnte das Premierenpublikum diesen autoaggressiven Schlußakkord in einem inhaltlich deprimierenden, formal sehr einseitigen Film – der aber offenbar zumindest in Frankreich den Nerv der Zeit trifft, und schon daher durchaus zu den
erweiterten Palmenfavoriten gehört. Ich hatte das Gefühl bei diesem ungelogen zwanzig Minuten langen Applaus, dass hier die Wut auf erleichternde Weise sich entladen kann, indem man diesen Film sieht, gewissermaßen als Stellvertreter für die eigenen Gefühle.
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En guerre ist wie ein Ken-Loach-Film und zwar ein sehr schlechter Ken-Loach-Film aus Frankreich. Mit agitatorischer Musik, Heroisierung, lauter Wut, Intensität, Propaganda.
Für mich ist das ein sehr unklarer Film. Möchte Brizé uns deprimieren, uns vermitteln: »Streiken lohnt sich nicht«? Wohl kaum. Also sollen Arbeiter jetzt den Selbstmord als Mittel einsetzen?
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Dann kam Dogman von Matteo Garrone. Dazu muss man wissen, dass von Garrone der Film Gomorrah stammt. Wie dieser ist auch Dogman ein Mafiafilm eigener Art, keiner mit gnadenlos eleganten Bösewichtern. Hier geht
es eher um die schmuddelige Seite der Mafia, die süditalienische, arme Variante der Mafia. Bei ihr sind vor allem die Underdogs der Gesellschaft, die Unterschichten involviert, sozial-schwachen Verhältnisse – Mafia meint ja nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen. Edle Anzüge trägt deshalb hier keiner. Manchmal haben die Menschen ein zusammengerolltes Geldbündel in der Hand, oder ein Päckchen Kokain versteckt in der Tasche
Die Hauptfigur heißt Marcello. Der kümmert
sich rührend um die Tochter und verdient sein Geld auf anständige Weise: Mit einem Hundeshop für zugelaufene Tiere, als Hundesitter, etc. Hier merkt man schnell, wie sensibel er ist, dass er ein Herz hat, eine schwache Seite für Hunde, um die er sich rührend kümmert.
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Wichtiger ist: Es gibt einen Mensch, der auch eine Art Tier ist: Simone, der junge Mafia-Boy des Viertels, ein Schläger und Taugenichts. Er trietzt alle, ärgert alle, bricht alle denkbaren sozialen Regeln. »A loose cannon.«
Die Männer des Ortes sitzen dann irgendwann einmal beim Wein zusammen und sagen: »›Sooner or later, someones gonna kill him. Wir müssen ihn umbringen lassen‹ – so wird da geredet.
Marcello – ›Come with us. Its an easy job.‹
– wird reingezwungen in einen kriminellen Akt. Tatsächlich wird er dann erwischt, muss die Haftstrafe stellvertretend für Simeone verbüßen – als er dann wieder herauskommt, ist sein bisheriges Leben kaputt. Nun will Marcello wenigstens Geld bekommen, eine Entschädigung von Simeone. Als er das nicht bekommt, sondern weiterhin dessen Opfer wird, rächt er sich.
Zunächst sitzt Simeone irgendwann in einem Hundekäfig. Dann bricht er aus, und unter einer Verkettung von
Umständen (sind sie ›unglücklich‹?) kommt es dazu, dass Simone stirbt und tot in Marcellos Laden liegt. Die Leiche muss dann verschwinden, sonst kommt unser Dogman ja wieder ins Gefängnis – und was macht man mit einer Leiche, die in Süditalien verschwinden muss? Man verbrennt sie.«
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Ein Film über Zwangslagen. Beachtlich, wie Garrone in fünf Minuten ein Milieu skizziert – das gelingt Brizé im ganzen Film nicht, da kann er sich einiges abschauen. Am Schluss eine minutenlange Großaufnahme von Marcellos Gesicht
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Es gibt Filme, die gewinnen über die Tage, es gibt Filme, die verlieren. Burning wird immer stärker, Dogman zerfällt beim Schreiben in seine Bestandteile. En guerre war schon immer schlecht.
(to be continued)