35. Filmfest München 2018
Kurz & knapp |
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Endlich fertig: Terry Gilliams lang ersehnter The Man Who Killed Don Quixote | ||
(Foto: Filmfest München / Concorde Filmverleih GmbH) |
Von der artechock-Redaktion
Wie so oft ist die Geschichte der beste Lehrmeister (auch wenn dann doch niemand drauf hört) – und Oliver Haffners Wackersdorf der perfekte Kommentar zur gegenwärtigen bayerischen Politik von Söder und Seehofer (und populistischer Politik an sich). Aber Haffners Wackersdorf ist nicht nur
deswegen ein wirkliches Highlight der Sektion Neues Deutsches Kino: Denn Haffner gibt mit seiner Mischung aus fein dosiertem Humor und bissiger politischer Analyse auch eine Nachhilfestunde in Sachen Widerstand, eine Sprache mit einem zwar schwierigen Vokabular, die dennoch jeder lernen kann. Haffner erinnert mit seinem historisch akkuraten Ritt durch diese Klimax der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung aber auch daran, dass es vielleicht mal wieder an der Zeit ist, Widerstand zu
leisten, und zwar nicht nur gegen banal-blöde-bayerische Politik, sondern schon wie damals in Wackersdorf, um das retten, ohne das gar nichts geht – unseren Planeten. (Axel Timo Purr)
WACKERSDORF – D 2018 – R: Oliver Haffner – 120 Min
Nicht nur im Vergleich mit dem bizarren Dystopie-Witz von Ulrich Köhlers In My Room ist Ann-Kristin Reyels Wir Haben Nur Gespielt ein wahrer Segen. Pointiert und poetisch zugleich zeigt sie, dass die wahren Dystopien in unserer Kindheit und an den Grenzen unseres Landes liegen. Im Kleinen liegt hier auch das Dilemma des Großen verborgen, die Probleme, mit denen Europa im
Moment ringt. Dabei erzählt Reyels vordergründig nur von dem 10-jährigen Jona, den es mit seiner Mutter und dem neuen Stiefvater an die tschechische Grenze verschlagen hat, wo er den 13-jährigen Russen Miro kennenlernt, und um dessen Freundschaft Jona kämpft und dabei nur ahnt, dass die Welt Miros auf der andern Seite der Grenze eine Parallelwelt ist, die abgründiger kaum sein könnte. Wie Reyels mit ihren jugendlichen Hauptdarstellern Finn-Henry Reyels und Roman Bkhavnani
arbeitet, sie zu einem vibrierenden, völlig überzeugenden Spiel führt, erinnert an den jungen Wenders und und natürlich an Hark Bohms Nordsee ist Mordsee. (Axel Timo Purr)
WIR HABEN NUR GESPIELT – D 2018 – R: Ann-Kristin Reyels – 86 Min
Es laufen auf dem Filmfest so knapp an die 200 Filme – und das ist nur eine kleine Auswahl von dem, was pro Jahr weltweit produziert wird. Dennoch ist im Grunde die Nicht-Existenz eines Films ungleich wahrscheinlicher; jedes potentielle Werk ist den Unwägbarkeiten der Finanzierung und des Drehs ausgesetzt, absurden Widrigkeiten abgetrotzt. Wohl nie wurde das organisierte Chaos einer Spielfilmproduktion im Extremfall spektakulärer dokumentiert als in Lost in La Mancha. Wer dieses »Un-making of« zu Terry Gilliams langgehegtem Don-Quixote-Projekt noch nicht kennen sollte: Unbedingt nachholen! Eigentlich als nettes DVD-Bonusmaterial zur Entstehung gedacht, konnten damals Keith Fulton & Louis Pepe live miterleben, wie die Dreharbeiten in einer Serie von Katastrophen scheiterten.
Dazu gibt’s nun, sechzehn Jahre
später, den im wiederholten Anlauf doch endlich noch entstandenen The Man Who Killed Don Quixote zu sehen. (Und Terry Gilliam live im Gespräch zu erleben!) Trotz eines Rechtsstreits, der das beinahe nochmal verhindert hätte. Ob der Film mit seiner Entstehungsgeschichte mithalten kann? Egal. Hauptsache: Closure! (Thomas Willmann)The Man Who Killed Don Quixote – BE, FR, PT,
ES 2018 – R: Terry Gilliam – 132 Min
Das Münchner Filmfest widmet der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel eine Werkschau: Gelegenheit also, die großartigen Lang- und Kurzfilme einer Erneuerin des lateinamerikanischen Kinos zu erleben und vollkommen in ihre intensive Bildwelt abzutauchen. In den drei Filmen ihrer Salta-Trilogie (Salta ist die Provinz im Norden Argentiniens, aus der Martel stammt) sind es Situationen der Stagnation und der Krise, die sich in atmosphärisch genau gezeichneten
Milieus entfalten: Lucrecia Martel versteht es, die Momente der Suspendierung von Zeit zu vieldeutigen sinnlichen Chiffren zu verdichten.
In La Ciénaga – Morast spiegelt sich die Verkommenheit und die Trägheit bei den Erwachsenen in der Unordnung und der Indolenz der Kinder und Jugendlichen.
In Das heilige Mädchen (La niña santa) wird der Ärztekongress in einem heruntergekommenen Hotel zum promisken Umfeld für die sexuellen und religiösen Experimente heranwachsender Mädchen.
In La mujer sin cabeza geht eine Zahnärztin wie eine Fremde durch ihr Leben, nachdem sie mit ihrem Auto einen Hund
(oder war es doch ein Junge?) anfuhr: diese Ungewissheit versieht all die Routinen ihres Alltags mit einem schmerzhaften Vorzeichen der Unwirklichkeit.
Ihr neuestes Meisterwerk Zama ist ein »period picture« aus der spanischen Kolonialzeit in Lateinamerika über den Beamten Zama: er hofft im südamerikanischen Hinterland (heute: im argentinisch-paraguayischen
Grenzland) auf die Versetzung nach Buenos Aires. In den Jahren des vergeblichen Wartens zersetzen sich seine Wahrnehmungen langsam zu zweideutigen Halluzinationen, bis er sich einer militärischen Expedition in den Urwald anschließt. (Wolfgang Lasinger)
In Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet, aber nicht nur in Isreal überaus kontrovers diskutiert und diskreditiert, ist Samuel Maoz Bestandsaufnahme israelisch-palästinensischer Befindlichkeiten jedoch vor allem eine grandiose therapeutische Achterbahnfahrt. Mal zärtlich, mal wuchtig, mal brutal sozialrealistisch, dann wieder die Ursprünge absurden Theaters referenzierend, gelingt Maoz' Foxtrot, der im Wettbewerb der Cinemasters läuft, fast das
Unmögliche und formuliert filmisch, was Amos Oz in seiner »Geschichte von Liebe und Finsternis« bereits literarisch angedeutet hat: Man muss nicht schweigen, worüber man nicht reden kann. Die Bilder, die Maoz für die Sprachwerdung dieser prekären Lage findet, sind schlichtweg atemberaubend und ganz großes Kino! (Axel Timo Purr)
Foxtrot – DE, IT, IR, CH 2017 – R: Samuel Maoz – 113 MIN
Napoli velata hat ein wunderbares Ende. Leider hat er dann auch noch drei weitere, weniger wunderbare Enden. Weil in Ferzan Ozpeteks Film immer wieder das Konzept, das Kopfige obsiegt über das Geschichtenerzählen, das Sinnliche. An Themen mangelt’s wahrlich nicht: Um Kunst, um Masken und Dopplungen, um das Sichtbare und das Verborgene geht’s, unter anderem. Giallo-Elemente
verquicken sich mit griechischer Tragödie. Und im Hintergrund tappen Statisten als Blinde herum, weil: Leitmotiv! Der Film versucht, Neapel nicht wie üblich sozialrealistisch als Hort von Verbrechen und Korruption zu zeigen – sondern als mythische Stadt, wie es im italienischen Kino sonst Rom vorbehalten ist. Aber im letzten Ende ist alle Kunst immer nur Blendung. Und das, was man an Emotion investiert hat, verpufft. (Thomas Willmann)
NAPOLI VELATA – IT 2017
– R: Ferzan Ozpetek – 112 Min
Jusqu'à la garde (Nach dem Urteil) hat einen wunderbaren Anfang. Wir lernen die Protagonisten zunächst über Zeugenaussagen bei einer Sorgerechts-Anhörung kennen. Und bleiben dann, auch wenn wir sie endlich sehen, selbst sprechen hören, wenn wir sie in ihren Alltag begleiten, lang im Zweifel: Ist der
geschiedene Vater wirklich der gewalttätige Unhold, als den ihn die Mutter darstellt? Lässt sich der elfjährige Sohn von ihr instrumentalisieren? Oder hat der seine eigene, manipulative Agenda? Xavier Legrand erzählt das eine gute Weile mit gekonnten Aussparungen, Vielschichtigkeit im Detail. Nötigt einen zum eigenen Urteil, zum Abwägen jedes Indizes. Nur, um dann die zweite Filmhälfte immer mehr in platte, genrehafte Eindeutigkeit kippen zu lassen. Diese Eskalation ist
nicht nur überflüssig, kickt einen eher raus aus der Involviertheit. Sie negiert geradezu aktiv die vorherigen Qualitäten des Films. Aus einem Drama über die Schwierigkeit eines Urteils wird eine klare Bestätigung aller Vorurteile. (Thomas Willmann)
JUSQU'À LA GARDE (NACH DEM URTEIL) – FR 2017 – R: Xavier Legrand – 90 Min
In der Reihe Spotlight gibt es sicherlich stärkere Filme als Gabriele Muccinos A casa tutti bene (Zu Hause ist es am schönsten), aber wer an Italien und seinen gegenwärtigen populistischen Isolationsbestrebungen interessiert ist, wird in diesem sommerleichten Familiendrama durchaus fündig. Denn Muccino gelingt es tatsächlich, Italien auf das zu reduzieren, was Italien vielleicht vor fünfzig Jahren noch war – die Großfamilie und nichts als die Großfamilie, die sich hier durch einen Wetterumschwung plötzlich auf Ischia viel länger miteinander auseinandersetzen muss als ursprünglich geplant. Und auch wenn Muccinos Film wie aus der Zeit gefallen wirkt, entwickelt er im Übergang von floskelhaften Nettigkeiten zu gnadenloser, knausgardscher Ehrlichkeit immer wieder packende, große Momente. (Axel Timo Purr) A Casa Tutti Bene (Zu Hause ist es am Schönsten) – IT 2017 – R: Gabriele Muccino – 105 Min
Wer nur einen Funken Interesse daran hat, einmal alles eurozentrische Denken beiseite zu wischen und einen Blick in das Herz islamischen Denkens und Alltags zu wagen, der sollte sich Amr Salahs SHEIKH JACKSON ansehen, einen der interessantesten Filme der Reihe Spotlight. Der von ägyptischen Filmkritikern hochgelobte aber von einer massiv drohenden Facebook-Community angefeindete Film erzählt das Coming-of-Age eines islamischen Geistlichen, der seit seiner Kindheit eine
leidenschaftliche Liebhaberei für Michael Jackson und dessen Musik entwickelt hat und der durch dessen Tod aus seinem beschaulichen Alltag mit seiner Familie und seinem geistlichen Umfeld geworfen wird. Nicht nur sind die Anspielungen auf die ägyptische Geschichte seit den 1980er Jahren und die massiven gesellschaftlichen Transformationen delikat in den Plot integriert, sondern überzeugt auch Ahmed El Fishawy in der Hauptrolle auf allen Ebenen. (Axel Timo Purr)
(AL
SHEIKH JACKSON) (AL SHEIKH JACKSON) – Ägypten 2017 – R: Amr Salama – 93 Min
Wer die Schwarz-Weiß-Bilder aus Pedro Costas erstem Film O Sangue (Das Blut) schon bewundert hat, darf auf keinen Fall Raiva von Sérgio Tréfaut versäumen: der Kameramann Acácio de Almeida ist auch in diesem großartigen Film aus Portugal für die Bildgestaltung verantwortlich.
In
spröd-kargen Schwarz-Weiß-Tableaus wird mit neorealistischer Strenge das Leben einer verarmten Landarbeiterfamilie im Alentejo geschildert.
Die erschütternde Schönheit der Aufnahmen legt den Finger in die Wunde unerträglicher Armut. Palmo, in ausweglose Verzweiflung getrieben, steht zwischen Rebellion und Ohnmacht, zwischen blindwütiger Auflehnung und solidarischer Organisation. Die Bilder treiben den Konflikt mit archaisch-elementarer Unerbittlichkeit voran: »Die
Armen werden arm geboren, die Reichen werden reich geboren; die Armen sterben arm, die Reichen sterben reich.« Kein Lehrstück, ein poetisches Dokument. (Wolfgang Lasinger)
RAIVA (RAGE), Brasilien, Frankreich, Portugal 2018 – R: Sérgio Tréfaut – 84 Min
Kinderkino einmal ganz anders, und zwar ganz in der Tradtion des ethnologischen Films der 1970er Jahre. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Film DORBBAND wurde von der Autodidaktin Rima Das realisiert, die damit auch eine Erinnerung an das Leben in Assam, einer Randzone des indischen Vielvölkerstaates setzen will. In ruhigen, lyrischen Bildern erzählt Das vom Alltag der 10-jährigen Dhunu, die sich nichts sehnlicher wünscht, als eine wirkliche Gitarre in den Händen zu
halten und Musikerin zu werden. Damit lehnt sie sich nicht nur gegen die moralischen Traditionen ihrer Ethnie auf, sondern auch gegen die bittere Armut ihrer Familie, die als Wert eigentlich nur eine Sache besitzt: die harte Arbeit. Der Film funktioniert bisweilen wie ein Gedicht, stellt die Story immer wieder in den Hintergrund, nimmt sich Zeit, um den Arbeitsalltag der Bauern in Assam detailliert zu fotografieren, dann sich aber auch Zeit für badende Kinder in den Reisfeldern zu
nehmen. Allein die Einstellung, wie nur noch die Gesichter, der im Wasser liegenden Kinder in den Himmel blicken und die Kraft der Gegenwart allein schon erlöst, ist es wert, diesen Film anzusehen. (Axel Timo Purr)
(VILLAGE ROCKSTARS) (DORFBAND) – Indien 2017 – R: Rima Das – 87 Min
Ghibli ist tot? Nein, Ghibli lebt. Denn jetzt sind die Enkel an der Reihe, das Erbe dieses großen, japanischen Animationsstudios fortzusetzen. Einer, der bereits zu Ghibli-Zeiten für eines der letzten großen Meisterwerke – Erinnerungen an Marnie – Regie geführt hatte, ist Hiromasa Yonebayashi. Und er zeigt in Mary und die Blume der Hexen, das im Rahmen des Kinderfilmfests des Münchner Filmfests gezeigt wird, dass das Erbe lebt. Und das Schöne an Ghibli war ja immer auch, dass man gar nichts über den Inhalt sagen musste, sondern egal ob Groß oder Klein, einfach nur in den Film gehen musste, um dann sowohl von der Geschichte als auch von der überragenden Animation überrascht zu werden. Und hier ist es nicht anders, also kein weiteres Wort mehr.
(Axel Timo Purr)
(MARY TO MAJO NO HANA) (MARY UND DIE BLUME DER HEXEN) –JP 2018 – R: Hiromasa Yonebayashi – 103 Min