28.06.2018
35. Filmfest München 2018

Kurz & knapp

The Man Who Killed Don Quixote
Endlich fertig: Terry Gilliams lang ersehnter The Man Who Killed Don Quixote
(Foto: Filmfest München / Concorde Filmverleih GmbH)

Zum Auftakt des 36. Filmfest München ein paar Tipps zu Filmen, die wir schon gesehen haben, oder von denen wir uns viel erwarten

Von artechock-Redaktion

Tipps und Kurz­kri­tiken zum 36. Filmfest München zu Filmen, die wir schon gesehen haben

Von der artechock-Redaktion

Neues Deutsches Kino

WACKERSDORF

Wie so oft ist die Geschichte der beste Lehr­meister (auch wenn dann doch niemand drauf hört) – und Oliver Haffners Wackers­dorf der perfekte Kommentar zur gegen­wär­tigen baye­ri­schen Politik von Söder und Seehofer (und popu­lis­ti­scher Politik an sich). Aber Haffners Wackers­dorf ist nicht nur deswegen ein wirk­li­ches Highlight der Sektion Neues Deutsches Kino: Denn Haffner gibt mit seiner Mischung aus fein dosiertem Humor und bissiger poli­ti­scher Analyse auch eine Nach­hil­fe­stunde in Sachen Wider­stand, eine Sprache mit einem zwar schwie­rigen Vokabular, die dennoch jeder lernen kann. Haffner erinnert mit seinem histo­risch akkuraten Ritt durch diese Klimax der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung aber auch daran, dass es viel­leicht mal wieder an der Zeit ist, Wider­stand zu leisten, und zwar nicht nur gegen banal-blöde-baye­ri­sche Politik, sondern schon wie damals in Wackers­dorf, um das retten, ohne das gar nichts geht – unseren Planeten. (Axel Timo Purr)
WACKERSDORF – D 2018 – R: Oliver Haffner – 120 Min

WIR HABEN NUR GESPIELT

Nicht nur im Vergleich mit dem bizarren Dystopie-Witz von Ulrich Köhlers In My Room ist Ann-Kristin Reyels Wir Haben Nur Gespielt ein wahrer Segen. Pointiert und poetisch zugleich zeigt sie, dass die wahren Dystopien in unserer Kindheit und an den Grenzen unseres Landes liegen. Im Kleinen liegt hier auch das Dilemma des Großen verborgen, die Probleme, mit denen Europa im Moment ringt. Dabei erzählt Reyels vorder­gründig nur von dem 10-jährigen Jona, den es mit seiner Mutter und dem neuen Stief­vater an die tsche­chi­sche Grenze verschlagen hat, wo er den 13-jährigen Russen Miro kennen­lernt, und um dessen Freund­schaft Jona kämpft und dabei nur ahnt, dass die Welt Miros auf der andern Seite der Grenze eine Paral­lel­welt ist, die abgrün­diger kaum sein könnte. Wie Reyels mit ihren jugend­li­chen Haupt­dar­stel­lern Finn-Henry Reyels und Roman Bkhavnani arbeitet, sie zu einem vibrie­renden, völlig über­zeu­genden Spiel führt, erinnert an den jungen Wenders und und natürlich an Hark Bohms Nordsee ist Mordsee. (Axel Timo Purr)
WIR HABEN NUR GESPIELT – D 2018 – R: Ann-Kristin Reyels – 86 Min

CineMe­ri­tA­ward Terry Gilliam

Es laufen auf dem Filmfest so knapp an die 200 Filme – und das ist nur eine kleine Auswahl von dem, was pro Jahr weltweit produ­ziert wird. Dennoch ist im Grunde die Nicht-Existenz eines Films ungleich wahr­schein­li­cher; jedes poten­ti­elle Werk ist den Unwäg­bar­keiten der Finan­zie­rung und des Drehs ausge­setzt, absurden Widrig­keiten abge­trotzt. Wohl nie wurde das orga­ni­sierte Chaos einer Spiel­film­pro­duk­tion im Extrem­fall spek­ta­kulärer doku­men­tiert als in Lost in La Mancha. Wer dieses »Un-making of« zu Terry Gilliams lang­ge­hegtem Don-Quixote-Projekt noch nicht kennen sollte: Unbedingt nachholen! Eigent­lich als nettes DVD-Bonus­ma­te­rial zur Entste­hung gedacht, konnten damals Keith Fulton & Louis Pepe live miter­leben, wie die Dreh­ar­beiten in einer Serie von Kata­stro­phen schei­terten.
Dazu gibt’s nun, sechzehn Jahre später, den im wieder­holten Anlauf doch endlich noch entstan­denen The Man Who Killed Don Quixote zu sehen. (Und Terry Gilliam live im Gespräch zu erleben!) Trotz eines Rechts­streits, der das beinahe nochmal verhin­dert hätte. Ob der Film mit seiner Entste­hungs­ge­schichte mithalten kann? Egal. Haupt­sache: Closure! (Thomas Willmann)The Man Who Killed Don Quixote – BE, FR, PT, ES 2018 – R: Terry Gilliam – 132 Min

Hommage Lucrecia Martel

Das Münchner Filmfest widmet der argen­ti­ni­schen Regis­seurin Lucrecia Martel eine Werkschau: Gele­gen­heit also, die groß­ar­tigen Lang- und Kurzfilme einer Erneuerin des latein­ame­ri­ka­ni­schen Kinos zu erleben und voll­kommen in ihre intensive Bildwelt abzu­tau­chen. In den drei Filmen ihrer Salta-Trilogie (Salta ist die Provinz im Norden Argen­ti­niens, aus der Martel stammt) sind es Situa­tionen der Stagna­tion und der Krise, die sich in atmo­sphärisch genau gezeich­neten Milieus entfalten: Lucrecia Martel versteht es, die Momente der Suspen­die­rung von Zeit zu viel­deu­tigen sinn­li­chen Chiffren zu verdichten.
In La Ciénaga – Morast spiegelt sich die Verkom­men­heit und die Trägheit bei den Erwach­senen in der Unordnung und der Indolenz der Kinder und Jugend­li­chen.
In Das heilige Mädchen (La niña santa) wird der Ärzte­kon­gress in einem herun­ter­ge­kom­menen Hotel zum promisken Umfeld für die sexuellen und reli­giösen Expe­ri­mente heran­wach­sender Mädchen.
In La mujer sin cabeza geht eine Zahnärztin wie eine Fremde durch ihr Leben, nachdem sie mit ihrem Auto einen Hund (oder war es doch ein Junge?) anfuhr: diese Unge­wiss­heit versieht all die Routinen ihres Alltags mit einem schmerz­haften Vorzei­chen der Unwirk­lich­keit.
Ihr neuestes Meis­ter­werk Zama ist ein »period picture« aus der spani­schen Kolo­ni­al­zeit in Latein­ame­rika über den Beamten Zama: er hofft im süda­me­ri­ka­ni­schen Hinter­land (heute: im argen­ti­nisch-para­gu­ay­ischen Grenzland) auf die Verset­zung nach Buenos Aires. In den Jahren des vergeb­li­chen Wartens zersetzen sich seine Wahr­neh­mungen langsam zu zwei­deu­tigen Hallu­zi­na­tionen, bis er sich einer mili­täri­schen Expe­di­tion in den Urwald anschließt. (Wolfgang Lasinger)

Wett­be­werb CineMas­ters

FOXTROT

In Venedig mit dem Silbernen Löwen ausge­zeichnet, aber nicht nur in Isreal überaus kontro­vers disku­tiert und diskre­di­tiert, ist Samuel Maoz Bestands­auf­nahme israe­lisch-paläs­ti­nen­si­scher Befind­lich­keiten jedoch vor allem eine grandiose thera­peu­ti­sche Achter­bahn­fahrt. Mal zärtlich, mal wuchtig, mal brutal sozi­al­rea­lis­tisch, dann wieder die Ursprünge absurden Theaters refe­ren­zie­rend, gelingt Maoz' Foxtrot, der im Wett­be­werb der Cine­mas­ters läuft, fast das Unmög­liche und formu­liert filmisch, was Amos Oz in seiner »Geschichte von Liebe und Fins­ternis« bereits lite­ra­risch ange­deutet hat: Man muss nicht schweigen, worüber man nicht reden kann. Die Bilder, die Maoz für die Sprach­wer­dung dieser prekären Lage findet, sind schlichtweg atem­be­rau­bend und ganz großes Kino! (Axel Timo Purr)
Foxtrot – DE, IT, IR, CH 2017 – R: Samuel Maoz – 113 MIN

Spotlight

NAPOLI VELATA

Napoli velata hat ein wunder­bares Ende. Leider hat er dann auch noch drei weitere, weniger wunder­bare Enden. Weil in Ferzan Ozpeteks Film immer wieder das Konzept, das Kopfige obsiegt über das Geschich­ten­er­zählen, das Sinnliche. An Themen mangelt’s wahrlich nicht: Um Kunst, um Masken und Dopp­lungen, um das Sichtbare und das Verbor­gene geht’s, unter anderem. Giallo-Elemente verqui­cken sich mit grie­chi­scher Tragödie. Und im Hinter­grund tappen Statisten als Blinde herum, weil: Leitmotiv! Der Film versucht, Neapel nicht wie üblich sozi­al­rea­lis­tisch als Hort von Verbre­chen und Korrup­tion zu zeigen – sondern als mythische Stadt, wie es im italie­ni­schen Kino sonst Rom vorbe­halten ist. Aber im letzten Ende ist alle Kunst immer nur Blendung. Und das, was man an Emotion inves­tiert hat, verpufft. (Thomas Willmann)
NAPOLI VELATA – IT 2017 – R: Ferzan Ozpetek – 112 Min

JUSQU'À LA GARDE (NACH DEM URTEIL)

Jusqu'à la garde (Nach dem Urteil) hat einen wunder­baren Anfang. Wir lernen die Prot­ago­nisten zunächst über Zeugen­aus­sagen bei einer Sorge­rechts-Anhörung kennen. Und bleiben dann, auch wenn wir sie endlich sehen, selbst sprechen hören, wenn wir sie in ihren Alltag begleiten, lang im Zweifel: Ist der geschie­dene Vater wirklich der gewalt­tä­tige Unhold, als den ihn die Mutter darstellt? Lässt sich der elfjäh­rige Sohn von ihr instru­men­ta­li­sieren? Oder hat der seine eigene, mani­pu­la­tive Agenda? Xavier Legrand erzählt das eine gute Weile mit gekonnten Ausspa­rungen, Viel­schich­tig­keit im Detail. Nötigt einen zum eigenen Urteil, zum Abwägen jedes Indizes. Nur, um dann die zweite Film­hälfte immer mehr in platte, genre­hafte Eindeu­tig­keit kippen zu lassen. Diese Eska­la­tion ist nicht nur über­flüssig, kickt einen eher raus aus der Invol­viert­heit. Sie negiert geradezu aktiv die vorhe­rigen Quali­täten des Films. Aus einem Drama über die Schwie­rig­keit eines Urteils wird eine klare Bestä­ti­gung aller Vorur­teile. (Thomas Willmann)
JUSQU'À LA GARDE (NACH DEM URTEIL) – FR 2017 – R: Xavier Legrand – 90 Min

A CASA TUTTI BENE (ZUHAUSE IST ES AM SCHÖNSTEN)

In der Reihe Spotlight gibt es sicher­lich stärkere Filme als Gabriele Muccinos A casa tutti bene (Zu Hause ist es am schönsten), aber wer an Italien und seinen gegen­wär­tigen popu­lis­ti­schen Isola­ti­ons­be­stre­bungen inter­es­siert ist, wird in diesem sommer­leichten Fami­li­en­drama durchaus fündig. Denn Muccino gelingt es tatsäch­lich, Italien auf das zu redu­zieren, was Italien viel­leicht vor fünfzig Jahren noch war – die Groß­fa­milie und nichts als die Groß­fa­milie, die sich hier durch einen Wetter­um­schwung plötzlich auf Ischia viel länger mitein­ander ausein­an­der­setzen muss als ursprüng­lich geplant. Und auch wenn Muccinos Film wie aus der Zeit gefallen wirkt, entwi­ckelt er im Übergang von flos­kel­haften Nettig­keiten zu gnaden­loser, knaus­gard­scher Ehrlich­keit immer wieder packende, große Momente. (Axel Timo Purr) A Casa Tutti Bene (Zu Hause ist es am Schönsten) – IT 2017 – R: Gabriele Muccino – 105 Min

SHEIKH JACKSON

Wer nur einen Funken Interesse daran hat, einmal alles euro­zen­tri­sche Denken beiseite zu wischen und einen Blick in das Herz isla­mi­schen Denkens und Alltags zu wagen, der sollte sich Amr Salahs SHEIKH JACKSON ansehen, einen der inter­es­san­testen Filme der Reihe Spotlight. Der von ägyp­ti­schen Film­kri­ti­kern hoch­ge­lobte aber von einer massiv drohenden Facebook-Community ange­fein­dete Film erzählt das Coming-of-Age eines isla­mi­schen Geist­li­chen, der seit seiner Kindheit eine leiden­schaft­liche Lieb­ha­berei für Michael Jackson und dessen Musik entwi­ckelt hat und der durch dessen Tod aus seinem beschau­li­chen Alltag mit seiner Familie und seinem geist­li­chen Umfeld geworfen wird. Nicht nur sind die Anspie­lungen auf die ägyp­ti­sche Geschichte seit den 1980er Jahren und die massiven gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­tionen delikat in den Plot inte­griert, sondern überzeugt auch Ahmed El Fishawy in der Haupt­rolle auf allen Ebenen. (Axel Timo Purr)
(AL SHEIKH JACKSON) (AL SHEIKH JACKSON) – Ägypten 2017 – R: Amr Salama – 93 Min

Inter­na­tional Inde­pend­ents

RAIVA (RAGE)

Wer die Schwarz-Weiß-Bilder aus Pedro Costas erstem Film O Sangue (Das Blut) schon bewundert hat, darf auf keinen Fall Raiva von Sérgio Tréfaut versäumen: der Kame­ra­mann Acácio de Almeida ist auch in diesem groß­ar­tigen Film aus Portugal für die Bild­ge­stal­tung verant­wort­lich.
In spröd-kargen Schwarz-Weiß-Tableaus wird mit neorea­lis­ti­scher Strenge das Leben einer verarmten Land­ar­bei­ter­fa­milie im Alentejo geschil­dert.
Die erschüt­ternde Schönheit der Aufnahmen legt den Finger in die Wunde uner­träg­li­cher Armut. Palmo, in ausweg­lose Verzweif­lung getrieben, steht zwischen Rebellion und Ohnmacht, zwischen blind­wü­tiger Aufleh­nung und soli­da­ri­scher Orga­ni­sa­tion. Die Bilder treiben den Konflikt mit archaisch-elemen­tarer Uner­bitt­lich­keit voran: »Die Armen werden arm geboren, die Reichen werden reich geboren; die Armen sterben arm, die Reichen sterben reich.« Kein Lehrstück, ein poeti­sches Dokument. (Wolfgang Lasinger)
RAIVA (RAGE), Brasilien, Frank­reich, Portugal 2018 – R: Sérgio Tréfaut – 84 Min

36. Kinder­film­fest

DORFBAND

Kinder­kino einmal ganz anders, und zwar ganz in der Tradtion des ethno­lo­gi­schen Films der 1970er Jahre. Der mit zahl­rei­chen Preisen ausge­zeich­nete Film DORBBAND wurde von der Auto­di­daktin Rima Das reali­siert, die damit auch eine Erin­ne­rung an das Leben in Assam, einer Randzone des indischen Viel­völ­ker­staates setzen will. In ruhigen, lyrischen Bildern erzählt Das vom Alltag der 10-jährigen Dhunu, die sich nichts sehn­li­cher wünscht, als eine wirkliche Gitarre in den Händen zu halten und Musikerin zu werden. Damit lehnt sie sich nicht nur gegen die mora­li­schen Tradi­tionen ihrer Ethnie auf, sondern auch gegen die bittere Armut ihrer Familie, die als Wert eigent­lich nur eine Sache besitzt: die harte Arbeit. Der Film funk­tio­niert bisweilen wie ein Gedicht, stellt die Story immer wieder in den Hinter­grund, nimmt sich Zeit, um den Arbeits­alltag der Bauern in Assam detail­liert zu foto­gra­fieren, dann sich aber auch Zeit für badende Kinder in den Reis­fel­dern zu nehmen. Allein die Einstel­lung, wie nur noch die Gesichter, der im Wasser liegenden Kinder in den Himmel blicken und die Kraft der Gegenwart allein schon erlöst, ist es wert, diesen Film anzusehen. (Axel Timo Purr)
(VILLAGE ROCKSTARS) (DORFBAND) – Indien 2017 – R: Rima Das – 87 Min

MARY UND DIE BLUME DER HEXEN

Ghibli ist tot? Nein, Ghibli lebt. Denn jetzt sind die Enkel an der Reihe, das Erbe dieses großen, japa­ni­schen Anima­ti­ons­stu­dios fort­zu­setzen. Einer, der bereits zu Ghibli-Zeiten für eines der letzten großen Meis­ter­werke – Erin­ne­rungen an Marnie – Regie geführt hatte, ist Hiromasa Yone­ba­yashi. Und er zeigt in Mary und die Blume der Hexen, das im Rahmen des Kinder­film­fests des Münchner Filmfests gezeigt wird, dass das Erbe lebt. Und das Schöne an Ghibli war ja immer auch, dass man gar nichts über den Inhalt sagen musste, sondern egal ob Groß oder Klein, einfach nur in den Film gehen musste, um dann sowohl von der Geschichte als auch von der über­ra­genden Animation über­rascht zu werden. Und hier ist es nicht anders, also kein weiteres Wort mehr. (Axel Timo Purr)
(MARY TO MAJO NO HANA) (MARY UND DIE BLUME DER HEXEN) –JP 2018 – R: Hiromasa Yone­ba­yashi – 103 Min