69. Berlinale 2019
Die saure Milch des Wohlwollens |
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The Kindness of Strangers: »this über-earnest Berlinale opener«... | ||
(Foto: Alamode Film) |
»Dabei hatte alles ganz gut angefangen. Es hatte Preise gehagelt. Er hatte einen Klassiker aus dem Ärmel geschüttelt. Eine Droge für alle, die die depressiv, über 50 und weiblich waren. Er war als Frauenversteher gehandelt worden.«
Oskar Roehler, »Selbstverfickung«, S.34
Wir sind nur wegen Dir hier singen Max Raabe und Anke Engelke zum Beginn der Eröffnungsfeier der Berlinale. Ist eine solche eitle One-Man-Show eigentlich auch für den Liter von Cannes und Venedig überhaupt denkbar?
Das ZDF, übrigens Medienpartner der Berlinale, und bekannt dafür, so gut wie gar keine Dokumentarfilme mehr zu finanzieren zeigt aber einen »Dokumentarfilm« über Dieter Kosslick. Schon der Titel ist falsch: »Die Ära Kosslick« von Nadia Nasser, Carola Wedel und
Stephan Merseburger, die auch schon mal bessere Tage gesehen haben.
Auch bei 3sat gibt es absurde Behauptungen der Moderatorin: »Dieter Kosslick hat den deutschen Film wieder nach vorn gebracht.« Abgesehen davon, dass der deutsche Film mehr hinten ist, als vor 20 Jahren, hat der Direktor bestenfalls den deutschen Film bei der Berlinale nach vorn gebracht. Aber Fernsehsender im 21. Jahrhundert sind so oberflächlich geworden und haben alle Selbstachtung verloren, dass sie vor
nichts zurückschrecken und jeder Unsinn bei ihnen durchgeht.
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»I have nothing to say« sagt Alain Gomis während der Zeremonie auf die peinlichen Ranwanz-Fragen von Anke Engelke – das sollte sich die Moderatorin mal merken, aber dafür ist ihr Fell schon lange zu dick.
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Die Berlinale hat die strengsten Sperrfristen aller wichtigen Filmfestivals. Dieses sogenannte »Embargo« wurde gleich zum Eröffnungsfilm gebrochen, von »Variety«. Schon vor der Eröffnung war der Verriss des Eröffnungsfilms online. Man kann den Kollegen dankbar sein, denn dieses Magazin ist so mächtig, dass es von der Presseabteilung fürs Embargobrechen nicht mit Akkreditierungsentzug bestraft werden wird – im Gegensatz zu den Kollegen. Und Sperrfristen sind in unseren Zeiten sowieso obsolet, und nur ein Mittel der Geschmackssteuerung und Manipulation. Man sollte es ignorieren und wo es geht aktiv bekämpfen also brechen.
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Ich habe mir den Eröffnungsfilm The Kindness of Strangers geschenkt, weil er mich kein bisschen interessiert. Dabei war Italienisch für Anfänger damals, noch zu Zeiten von Kosslicks Vorgänger Moritz De Hadeln, ein sehr guter Film und eines der Highlights der Dogma-Bewegung. Inzwischen aber dreht Regisseurin Lone Scherfig nicht mehr zuhause in Dänemark,
sondern meist in den USA, was für sie persönlich gut sein mag, für ihre Filme nicht. Daher: kein Interesse meinerseits.
Glücklicherweise gibt es ja die Kollegen, die meinen Verdacht durch die Bank bestätigen: »Fehlstart mit Sozialschmonzette« titelt kurz und bündig der »Spiegel«, und setzt dann drauf: »statt Lust auf zehn Tage Filmfest sorgt der Eröffnungsfilm für Entsetzen. Schlimmer hätte es kaum kommen können.«
Und weiter: »Dieter Kosslick musste in der Vergangenheit
vonseiten der Presse oft Kritik einstecken. Bemängelt wurde immer wieder die Qualität vor allem der Filme, die Kosslick für den Wettbewerb der Berlinale auswählt. Diese Kritik muss man nun schon am Tag der Eröffnung erneuern, und lauter denn je. In Anbetracht des Eröffnungsfilms kann einem für den Rest des Wettbewerbs nur himmelangst werden.«
Julia Haungs im SWR: »Es ist ein Eröffnungsfilm, der einen in seiner Harmlosigkeit ratlos zurücklässt. Ein Plädoyer für mehr Freundlichkeit ist natürlich nie verkehrt. Aber weder untermauert The Kindness of Strangers den Anspruch der Berlinale, ein dezidiert politisches Festival zu sein, noch bringt er Glamour auf den Roten Teppich. Und große Filmkunst ist er auch nicht.«
»Capra-corn – call it Scherfig-schmaltz«, »strange, sticky mélange of social realism, Dickensian sentiment and straight-up romantic fairy tale ... underlining the film‘s essential message in thick Magic Marker strokes« nennt es Guy Lodge in Variety, und dann im besten Englisch »this über-earnest Berlinale opener«.
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Auf welche Filme freue ich mich im Wettbewerb? Mal ganz bestimmt auf Systemsprenger von Nora Fingscheidt. Und Emin Alpers neuer Film A Tale of Three Sisters. Gespannt bin ich auf Fatih Akins Der Goldene Handschuh, angeblich ein »Horrorfilm«. Ozon kann immer interessant sein. Und auf die Chinesen. Insgesamt ziemlich wenig, meint auch Matthias aus Hamburg.
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Warum stellen wir hier den Blogs eigentlich Zitate aus Heinz Strunks Buch »Der Goldene Handschuh« und »Selbstverfickung« von Oskar Roehler voran? Weil beides gute Bücher sind, die genau den Ton treffen, mit dem man die diesjährige Berlinale betrachten sollte. Weil die Zitate immer gut zu dem passen, um das es geht. Weil »Der Goldene Handschuh« die Vorlage für Fatih Akins neuen Film ist. Weil Oskar Roehlers Buch vom deutschen Film und gelegentlich sogar von der Berlinale handelt. Und weil Roehler, kaum zu glauben, vor zwei Wochen 60 geworden ist. Wir gratulieren von Herzen!
(to be continued)