15.02.2019
69. Berlinale 2019

Konse­quent selbst­zer­stö­re­risch

Systemsprenger
Mut zum Risiko und Experimentierfreude
(Foto: kineo Filmproduktion / Weydemann Bros)

Man kann Systemsprenger, dem Spielfilmdebüt von Nora Fingscheidt, nicht gerecht werden, ohne über das deutsche Kino zu sprechen. Alleine der Titel gibt einem dazu – in mehrfacher Hinsicht – Berechtigung.

Von Sedat Aslan

Die neun­jäh­rige Berna­dette, die ihren Namen nicht mag und deswegen von allen nur „Benni“ genannt wird, befindet sich aufgrund ihrer unbe­re­chen­baren Aggres­sionen in einer Dauer­schleife zwischen den Insti­tu­tionen der deutschen Kinder- und Jugend­hilfe – die Mutter ist über­for­dert, der Vater nicht präsent, Betreuer und Ärzte können nicht nach­haltig weiter­helfen. Kann dieser junge Mensch es schaffen, dieser sich selbst nährenden Abwärts­spi­rale zu entkommen?

Erfri­schend, dass der Film nicht einfach unin­spi­riert »Benni« genannt wurde, sondern sich im Titel neben weiteren Bezügen auch der erzäh­le­ri­sche Vibe trans­por­tiert. Der Film macht aber noch viel Wesent­li­cheres richtig, was im deutschen Film oft falsch gemacht wird: Es ist ein Film mit einem klaren sozi­al­po­li­ti­schen Thema, der nicht auto­ma­tisch zum reinen Thesen­film mutiert. Die Figuren und deren Bezie­hungen sind der Regis­seurin viel wichtiger als eine kalku­lierte Gesell­schafts­kritik. Emotional erzählen heißt nicht auto­ma­tisch falsches Pathos.

Begeis­tert wie erstaunt reibt man sich die Augen ange­sichts dessen, wie mühelos hier Erzähl­per­spek­tiven gewech­selt werden, wie viele unbe­re­chen­bare Haken der Plot schlägt (die dyna­mi­sche Kamera von Yunus Roy Imer schlägt diese gleich mit) und wie immer wieder situative Komik durch­bricht.
Wann hat man im deutschen Kino zuletzt eine solch wuchtige Kinder­per­for­mance gesehen? Helena Zengel trägt mit ihrer Urgewalt den gesamten Film. Hervor­zu­heben ist auch Albrecht Schuch als Schul­be­gleiter Michael, der den Film im Mittel­teil mit seiner starken Präsenz erdet.

Es ist ein bemer­kens­werter »System­film« in dem Sinne, dass er an einer Film­hoch­schule mit Betei­li­gung öffent­li­cher Förder- und einer Sende­an­stalt entstanden ist, ohne dass ihm im Prozess seiner Reali­sie­rung sämtliche Kanten abge­schliffen worden wären. Dies ist ein tolles Beispiel dafür, was hier­zu­lande möglich ist, wenn alle Betei­ligten Mut zum Risiko und Expe­ri­men­tier­freude zeigen.

Lange Zeit wird glück­li­cher­weise auch nur in Andeu­tungen psycho­lo­gi­siert. Dann aber begeht der Film den kapitalen Fehler, den für seinen Ausgang entschei­denden Wende­punkt über das Fehl­ver­halten einer äußerst schwach konstru­ierten Figur zu erzählen: Bennis Mutter, die von der Figu­ren­an­lage übers Kostüm bis hin zum Spiel als Einzige in diesem Ensemble geradezu grotesk über­zeichnet ist. Das Psycho­lo­gi­sieren übernimmt kurz, aber heftig das Ruder. Von dieser Plot­ver­ir­rung erholt sich der Film nicht mehr. Der gesamte dritte Akt ist in der Folge redundant, wirkt wie seine eigene Zeit­schleife. Also dann doch ein übrig geblie­benes Problem des deutschen Films: der schwie­rige, oft ungelenke Ausstieg aus der Geschichte.

Dennoch: Der Film ist ein früher Höhepunkt der dies­jäh­rigen Berlinale und zwei Akte lang ein kleines Wunder­werk, welches das System des deutschen Films zumindest für einen kleinen Moment, erschüt­tern sollte. Ist es da nicht konse­quent, dass er am Ende auch sein eigenes narra­tives System sprengt?