69. Berlinale 2019
Unsere Kossleaks |
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Kino als Widerstand: »Marighella« | ||
(Foto: O2 Filmes) |
Juliette Binoche auf Instagram: Ein Photo der Jurypräsidentin gemeinsam mit Sandra Hüller und mit Rajendra Roy, dem ehrgeizigen Filmkurator des Moma: »The future of cinema is female«. Das gibt schon den Kurs vor, der heute Abend die Vergabe der Goldenen und Silbernen Bären bestimmen wird.
Zur zeit brodeln die Gerüchte: Zurückgerufen oder angerufen wurden, wie wir aus recht sicherer Quelle hören, Teona Strugar Mitysevska, die Regisseurin des mazedonischen Films. Ebenfalls
eingeflogen ist der Israeli Nadav Lapid, Regisseur des Wettbewerbsbeitrags Synonymes. Und irgendetwas wird der Chinese Wang Xiaoshuai gewinnen für sein Drei-Stunden-Epos So long my son.
Wohl eher unsicher sind die Chancen für den Türken Emin Alper, der allerdings sowieso noch vor Ort ist. Die besten Chancen eines deutschen Films hat Angela Schanelecs strenger Kritikerliebling Ich war zuhause, aber...
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»Sind Sie Maoist, Trotzkist oder Leninist?« Auf solche Fragen eines französischen Journalisten möchte Carlos Marighella gar nicht antworten. »Ich bin Brasilianer«, sagt er.
Dem Politiker der radikalen Linken, der in Brasilien nach dem faschistischen Militärputsch von 1964 in den Untergrund ging, der verhaftet und gefoltert wurde, dann mit Maschinenpistolen und Bomben gegen die Diktatur kämpfte und schließlich von dieser ermordet wurde, dieses kurze wilde
anarchistische Leben hat der brasilianische Regisseur Wagner Moura jetzt zu einem ebenso wilden und rasanten Film verarbeitet. Stilistisch muss man ihn irgendwo zwischen den politisch engagierten Polit-Thrillern eines Costa-Gavras und dem eleganten Neo-Noir-Kino eines Michael Mann ansiedeln.
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Die Kombination ist gelungen: Wagner Moura ist ein Star der Streaming-Drogenserie »Narcos«. Und der brasilianische Politiker Carlos Marighella (1911-1969) ist der Che Guevara Brasiliens: Autor der »Kleine Gebrauchanleitung für die Stadtguerilla«, eine legendäre wie umstrittene Gestalt. Im Widerstand gegen die rechte Militärdiktatur ging er in den Untergrund.
Einerseits ist Marighella, so heißt auch der Film, dynamisches Actionkino, dicht und präzise und immer unterhaltsam inszeniert. Getragen auch von mitreißender Filmmusik.
Andererseits ist dies auch der Versuch, aus heutiger Sicht dieser wichtigen historischen Persönlichkeit gerecht zu werden. Denn Carlos Marighella ist im Brasilien von heute weitgehend unbekannt, obwohl er in den 1970er Jahren ein Nationalheld war.
Der Film ist ein Nachdenken
über Politik am offenen Herzen: Ob Gewalt richtig sein kann, wenn andere Mittel nichts bewirken, und wenn die Gegner sich selbst brutalster Methoden wie der Folter bedienen. Ob Gerechtigkeit möglich ist? Ob politisches Engagement bis zum Tod führen darf? Und ob diejenigen, die sich opfern, Helden sind, oder Idioten?
Dies ist »Kino als Widerstand«, wie der Regisseur im Gespräch mit mir zu dem Film erklärte.
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Es ist auch ein Kino, das um Wahrheit kämpft. Denn was dem einen sein Freiheitskämpfer ist dem anderen bekanntlich sein Terrorist. Und Marighellas politische Widersacher wollten ihn als Terroristen und besser noch gemeinen Räuberbandenführer ins nationale Gedächtnis einschreiben, er selbst natürlich nannte sich Revolutionär.
Diese historische, 50 Jahre alte Geschichte ist vor dem Hintergrund der neuesten politischen Ereignisse in Brasilien unvermittelt
brandaktuell geworden.
Denn der neue rechtsextreme brasilianische Präsident Bolsonaro verherrlicht die Diktatur, die Marighella bekämpfte.
Darum fragt man sich, warum ausgerechnet dieser Film in Berlin außer Konkurrenz läuft, und nicht im Wettbewerb um den »Goldenen Bären«?
Ist dies nicht genau diese Art von Kino, wie es die Berlinale liebt?
(to be continued)