17.02.2019
69. Berlinale 2019

Aktua­li­tä­ten­kino aus Frank­reich

Ozons Grâce à Dieu
Die Hostie als Moral-Placebo der Katholiken: Ozons Grâce à Dieu
(Foto: Pandora)

André Téchiné und François Ozon zeigen im Wettbewerb der Berlinale Filme, die als inhaltistisch gelten dürfen. Das Resultat ist jedoch sehr unterschiedlich

Von Dunja Bialas

Inhal­tis­tisch: Was für ein unschönes Wort für ein gras­sie­rendes Phänomen. Inhal­tismus im Film bedeutet so viel wie inhalt­liche Vorherr­schaft gegenüber der ästhe­ti­schen Darbie­tung – diese macht sich so unsichtbar wie möglich, um eine störungs­freie Plattform für den Inhalt zu bieten. Nicht alle Film­kri­tiker haben etwas an inhal­tis­ti­schen Filmen auszu­setzen, oft werden sie sogar begrüßt, man stürzt sich dankbar aufs Thema. Dann kommen gerne auch fach­spe­zi­fi­sche Experten zu Wort, die kennt­nis­reich über die sach­li­chen Hinter­gründe infor­mieren und das Kunstwerk vor der Themen-Folie einzu­ordnen wissen, ohne dass auch nur einmal die Rede von der ästhe­ti­schen Gestal­tung ist. Das nennt sich dann inhal­tis­ti­sche Film­kritik.

Nicht alle Themen­filme sind jedoch zwangs­läufig inhal­tis­tisch. Themen drängen sich oft auf, auch weil man nicht immer nur von »boy meets girl« erzählen möchte. Erneue­rungen des Genre passieren, weil man sich Aktua­lität und Frische wünscht, das Erzählte entstauben möchte und Stereo­type verab­schieden will. Oft sind dann auch aktuelle Themen am Werk, die zum Beispiel einen Gangs­ter­film politisch machen, oder eine Liebes­ge­schichte eman­zi­pa­to­risch oder zumindest »queer«.

Gleich zwei altge­diente, für ihre hohe Filmkunst berühmte Regis­seure des fran­zö­si­schen Kinos zeigten im Berlinale-Wett­be­werb, dass auch sie Aktuelles nicht schlafen lässt. François Ozon, bekannt für seine Intruder-Filme, und André Téchiné, der diesmal außer Konkur­renz lief, adap­tierten Hoch­bri­santes für die Leinwand. Ozon erzählt in Grâce à Dieu (»Gott sei dank«) vom aktuellen Miss­brauchs­skandal um den Priester Bernard Preynat, der derzeit die Justiz beschäf­tigt; sein Film wurde auf der Pres­se­kon­fe­renz auch auf die Möglich­keit hin befragt, ob er den Verlauf des anste­henden Prozesses beein­flussen könnte. André Téchiné zeigt in L’adieu à la nuit (»Abschied von der Nacht«), wie ein junger Mensch unter den Einfluss von IS-Anhängern gerät und bereit ist, in den Dschihad zu ziehen.

Téchiné: Groß­mut­ters Kino

Es hat schon sehr über­rascht, wie ernst und beharr­lich beide Regis­seure ihre Themen behandeln. Téchiné verzichtet auf seine Unter­grün­dig­keit, die immer auch Anthro­po­lo­gi­sches mitver­han­delt, und setzt ganz auf das, was man über die Radi­ka­li­sie­rung und den isla­mi­schen Extre­mismus weiß. Dass hier oft Frauen die größten Influencer sind, dass unter ziviler Camou­flage Radi­ka­lität schlum­mert und auch ein Kopf­tuch­verbot daran nichts ausrichten kann – das zieht man sich eben später über. Gebetet wird auch ohne Moschee, und wenn kein Wasser zum rituellen Waschen da ist, tut es auch ein symbo­li­scher Stein. Radi­ka­lität ist unauf­haltsam, sagt uns Techiné.

Die Groß­mutter, die ihren Enkel Alex (Kacey Mottet Klein) zurück auf den richtigen Weg bringen möchte, wird von Catherine Deneuve gespielt. Sie ist per se Botschaf­terin eines aufge­klärten, wenn auch proble­ma­ti­sierten Frank­reichs, das war auch in früheren Filmen Téchinés bereits so, wo sie wahlweise eine Profes­sorin, eine Lesbe, eine sich sorgende Intel­lek­tu­elle gespielt hat. L’Adieu à la nuit beginnt mit einer Sonnen­fins­ternis, der »Abschied von der Nacht« wird das Bemühen von Alex sein, sich aus dem laizis­ti­schen Frank­reich loszu­eisen.

Téchiné, der zusammen mit Léa Mysius, Regis­seurin des wunder­baren Ava, das Drehbuch verfasst hat, verfährt wie ein Ingenieur. Seine Figuren hat er auf dem Reißbrett gefunden, auf dem hin- und herge­schoben wird, sie werden unter dem Eingriff des Deneuve'schen Erzähl­mo­tors separiert, die Handlung retar­diert, dann finden sich die Figuren wieder, rüsten sich für den Dschihad, Deneuve inter­ve­niert durch eine poli­zei­liche Anzeige, schließ­lich werden sie im letzten Moment aufge­halten.

Erzählte zuletzt Mit siebzehn noch von der zarten, homo­se­xu­ellen Liebe zwischen zwei Heran­wach­senden in einer Weise, die tief berührte und an die Reinheit des Gefühls glauben ließ, ist L’adieu à la nuit ungleich tech­no­kra­ti­scher und eben themen­las­tiger geworden. Wie mecha­nisch spult sich die Erzählung ab, bei der am Ende die fran­zö­si­schen Werte noch einmal siegen dürfen, auch wenn die Läuterung ausbleibt. Tiefe, wie wir sie von Téchiné kennen, wird hier nicht erlangt. Alles ist solide, wenn nicht gar gekonnt erzählt, Téchiné ist ein Meister des narra­tiven Fachs. Aber das Flirren fehlt, nicht ein Mal ergibt sich Unter­grün­dig­keit, immer weiß man mit der ener­gi­schen Groß­mutter, was der richtige, der rechte Weg sein wird.

Vor allem diese Eindeu­tig­keit macht L’adieu à la nuit zur Enttäu­schung und zu einem Film, dem man vor allem dabei zusieht, wie er seine Geschichte abwickelt. Nie kommt Unsi­cher­heit auf, nie wird die Iden­ti­fi­ka­tion auf Abwege geleitet, nie kommt Dialektik auf, oder Zögern, Fragen.

Ozon: Kino der Aktua­lität

Ozon hingegen setzt das Fragen und Zaudern in seinen vor allem durch Dialoge, mehr noch Diskus­sionen getra­genen Film in sein Zentrum. Grâce à Dieu ist ein Film über den pädo­philen Priester Bernard Preynat, der über Jahr­zehnte die ihm Schutz­be­foh­lenen miss­brauchte. Ein authen­ti­scher Fall, der aktuell in Lyon vor Gericht verhan­delt wird und eine tiefe Wunde in den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt gerissen hat. Und um diese geht es Ozon. Präzise legt er die Wunde frei, wie ein vorsich­tiger Chirurg mit seinem Sezier­messer, hier wirkt die Kraft seines Films, und sie zielt direkt auf den contrat social, geht also über den, fast schon muss man sagen: doku­men­tierten Miss­brauchs­fall hinaus.

Wer den Film sieht, muss wissen, dass Frank­reich die Tradition der colonies des vacances und der Pfad­finder hat. Zwei Monate dauern die Sommer­fe­rien, jedes Kind wird für ein paar Wochen von den Eltern in ein Feri­en­lager verschifft. Es sind Frei­zeit­in­sti­tu­tionen, ohne die Frank­reich nicht funk­tio­nieren könnte, ohne die es den Eltern nicht möglich wäre zu arbeiten. Frank­reich ist außerdem in der gehobenen Schicht immer noch sehr konser­vativ, dazu gehört auch die famille nombreuse, mit vielen Kindern, und der unbe­dingte Glaube an Gott sowie prak­ti­zierter Katho­li­zismus. Damit verbindet sich auch ein Werte­kon­ser­va­tismus, eine gewisse Bürger­lich­keit und das Fest­halten an Tradi­tionen. Die Pfad­finder gehören auf jeden Fall dazu.

Mit der Skiz­zie­rung einer solchen, für unsere Augen fast uner­träg­li­chen, katho­li­schen Bürger­lich­keit beginnt Ozon seinen Film. Züchtige Hemd- und Blusen­kragen blitzen unter farblosen Cardigans und Anzug­ja­cken hervor, Akten­ta­schen und das gepflegte Äußere domi­nieren. Aus der konser­va­tiven Werte­rich­tig­keit entsteigt der initia­to­ri­sche Moment. Melvil Poupaud spielt den gläubigen Vater, der sich nach jahre­langem Schweigen dazu entschließt, den Miss­brauch durch Bernard Preynat, den er als Kind erlebt hat, öffent­lich zu machen.

Damit tritt er eine Welle los, die sich eigen­s­tändig durch die ländliche Region von Lyon und in die niederen Schichten der Gesell­schaft fortsetzt. Und hier beginnt die Kraft von Ozon zu wirken. Mühelos wandert der Film von einer Figur zur nächsten, setzt den Fokus zunächst auf einen erzürnten, schlag­zeug­spie­lenden Agnos­tiker, dann auf einen, der in der untersten sozialen Schicht ange­sie­delt ist und durch den Miss­brauch seelisch und physisch versehrt wurde. Es wird viel geredet, verzichtet wird auf jegliche Erzählö­ko­nomie oder klas­si­sche Drama­turgie: die Debatte, das Fragen, Suchen, Zweifeln und Zögern bestimmen die Handlung.

Gerade in der Länge, der Film ist über zwei Stunden lang, kann sich das in Wucht entfalten. Die Vers­törung bleibt nicht aus, das Ausmaß des Falls, das sich nach und nach zeigt, ist unge­heu­er­lich. Im Wechsel der Figuren verhin­dert Ozon die Iden­ti­fi­ka­tion mit einem Parti­ku­lar­fall, ihm geht es um die sich auftuende Obszö­nität des sexuell Fehl­ge­lei­teten, und um den Wider­stand gegen die Obrig­keiten, den eigenen Werte­sys­temen zum Trotz. Man hadert mit der eigenen Reli­giö­sität und den Grund­festen der Gesell­schaft. Die beglei­tende emotio­nale Erschüt­te­rung, und dies gliedert Grâce à Dieu in das Werk von Ozon ein, ist die Unge­heu­er­lich­keit des knaben­lie­benden Paters, ein Angriff auf die homo­se­xu­elle Liebe.

So schürft der Film in viel­schich­tiger Tiefe und ist zugleich Politikum, es wurde schnell gedreht, nicht retro­spektiv, der Prozess gegen den durchaus gestän­digen Bernard Peynart beginnt erst. Am kommenden Mittwoch soll Grâce à Dieu in Frank­reich starten, am Montag wird ein Gericht entscheiden, ob es dazu auch kommen wird, der Anwalt des Priesters hat wegen einer möglichen gesell­schaft­li­chen Vorver­ur­tei­lung eine Verschie­bung des Start­ter­mins beantragt. So ist es natürlich auch als Akt der Soli­da­rität und als poli­ti­sche Geste einzu­ordnen, wenn die Berlinale-Jury um Juliette Binoche jetzt François Ozon mit dem Silbernen Bären ausge­zeichnet hat. Unab­hängig davon kann Grâce à Dieu als ein außer­ge­wöhn­li­ches Exempel für ein Kino, das den Diskurs mit filmi­schen Mitteln wagt, allemal hoch­ge­halten werden.