69. Berlinale 2019
Aktualitätenkino aus Frankreich |
||
Die Hostie als Moral-Placebo der Katholiken: Ozons Grâce à Dieu | ||
(Foto: Pandora) |
Von Dunja Bialas
Inhaltistisch: Was für ein unschönes Wort für ein grassierendes Phänomen. Inhaltismus im Film bedeutet so viel wie inhaltliche Vorherrschaft gegenüber der ästhetischen Darbietung – diese macht sich so unsichtbar wie möglich, um eine störungsfreie Plattform für den Inhalt zu bieten. Nicht alle Filmkritiker haben etwas an inhaltistischen Filmen auszusetzen, oft werden sie sogar begrüßt, man stürzt sich dankbar aufs Thema. Dann kommen gerne auch fachspezifische Experten zu Wort, die kenntnisreich über die sachlichen Hintergründe informieren und das Kunstwerk vor der Themen-Folie einzuordnen wissen, ohne dass auch nur einmal die Rede von der ästhetischen Gestaltung ist. Das nennt sich dann inhaltistische Filmkritik.
Nicht alle Themenfilme sind jedoch zwangsläufig inhaltistisch. Themen drängen sich oft auf, auch weil man nicht immer nur von »boy meets girl« erzählen möchte. Erneuerungen des Genre passieren, weil man sich Aktualität und Frische wünscht, das Erzählte entstauben möchte und Stereotype verabschieden will. Oft sind dann auch aktuelle Themen am Werk, die zum Beispiel einen Gangsterfilm politisch machen, oder eine Liebesgeschichte emanzipatorisch oder zumindest »queer«.
Gleich zwei altgediente, für ihre hohe Filmkunst berühmte Regisseure des französischen Kinos zeigten im Berlinale-Wettbewerb, dass auch sie Aktuelles nicht schlafen lässt. François Ozon, bekannt für seine Intruder-Filme, und André Téchiné, der diesmal außer Konkurrenz lief, adaptierten Hochbrisantes für die Leinwand. Ozon erzählt in Grâce à Dieu (»Gott sei dank«) vom aktuellen Missbrauchsskandal um den Priester Bernard Preynat, der derzeit die Justiz beschäftigt; sein Film wurde auf der Pressekonferenz auch auf die Möglichkeit hin befragt, ob er den Verlauf des anstehenden Prozesses beeinflussen könnte. André Téchiné zeigt in L’adieu à la nuit (»Abschied von der Nacht«), wie ein junger Mensch unter den Einfluss von IS-Anhängern gerät und bereit ist, in den Dschihad zu ziehen.
Es hat schon sehr überrascht, wie ernst und beharrlich beide Regisseure ihre Themen behandeln. Téchiné verzichtet auf seine Untergründigkeit, die immer auch Anthropologisches mitverhandelt, und setzt ganz auf das, was man über die Radikalisierung und den islamischen Extremismus weiß. Dass hier oft Frauen die größten Influencer sind, dass unter ziviler Camouflage Radikalität schlummert und auch ein Kopftuchverbot daran nichts ausrichten kann – das zieht man sich eben später über. Gebetet wird auch ohne Moschee, und wenn kein Wasser zum rituellen Waschen da ist, tut es auch ein symbolischer Stein. Radikalität ist unaufhaltsam, sagt uns Techiné.
Die Großmutter, die ihren Enkel Alex (Kacey Mottet Klein) zurück auf den richtigen Weg bringen möchte, wird von Catherine Deneuve gespielt. Sie ist per se Botschafterin eines aufgeklärten, wenn auch problematisierten Frankreichs, das war auch in früheren Filmen Téchinés bereits so, wo sie wahlweise eine Professorin, eine Lesbe, eine sich sorgende Intellektuelle gespielt hat. L’Adieu à la nuit beginnt mit einer Sonnenfinsternis, der »Abschied von der Nacht« wird das Bemühen von Alex sein, sich aus dem laizistischen Frankreich loszueisen.
Téchiné, der zusammen mit Léa Mysius, Regisseurin des wunderbaren Ava, das Drehbuch verfasst hat, verfährt wie ein Ingenieur. Seine Figuren hat er auf dem Reißbrett gefunden, auf dem hin- und hergeschoben wird, sie werden unter dem Eingriff des Deneuve'schen Erzählmotors separiert, die Handlung retardiert, dann finden sich die Figuren wieder, rüsten sich für den Dschihad, Deneuve interveniert durch eine polizeiliche Anzeige, schließlich werden sie im letzten Moment aufgehalten.
Erzählte zuletzt Mit siebzehn noch von der zarten, homosexuellen Liebe zwischen zwei Heranwachsenden in einer Weise, die tief berührte und an die Reinheit des Gefühls glauben ließ, ist L’adieu à la nuit ungleich technokratischer und eben themenlastiger geworden. Wie mechanisch spult sich die Erzählung ab, bei der am Ende die französischen Werte noch einmal siegen dürfen, auch wenn die Läuterung ausbleibt. Tiefe, wie wir sie von Téchiné kennen, wird hier nicht erlangt. Alles ist solide, wenn nicht gar gekonnt erzählt, Téchiné ist ein Meister des narrativen Fachs. Aber das Flirren fehlt, nicht ein Mal ergibt sich Untergründigkeit, immer weiß man mit der energischen Großmutter, was der richtige, der rechte Weg sein wird.
Vor allem diese Eindeutigkeit macht L’adieu à la nuit zur Enttäuschung und zu einem Film, dem man vor allem dabei zusieht, wie er seine Geschichte abwickelt. Nie kommt Unsicherheit auf, nie wird die Identifikation auf Abwege geleitet, nie kommt Dialektik auf, oder Zögern, Fragen.
Ozon hingegen setzt das Fragen und Zaudern in seinen vor allem durch Dialoge, mehr noch Diskussionen getragenen Film in sein Zentrum. Grâce à Dieu ist ein Film über den pädophilen Priester Bernard Preynat, der über Jahrzehnte die ihm Schutzbefohlenen missbrauchte. Ein authentischer Fall, der aktuell in Lyon vor Gericht verhandelt wird und eine tiefe Wunde in den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerissen hat. Und um diese geht es Ozon. Präzise legt er die Wunde frei, wie ein vorsichtiger Chirurg mit seinem Seziermesser, hier wirkt die Kraft seines Films, und sie zielt direkt auf den contrat social, geht also über den, fast schon muss man sagen: dokumentierten Missbrauchsfall hinaus.
Wer den Film sieht, muss wissen, dass Frankreich die Tradition der colonies des vacances und der Pfadfinder hat. Zwei Monate dauern die Sommerferien, jedes Kind wird für ein paar Wochen von den Eltern in ein Ferienlager verschifft. Es sind Freizeitinstitutionen, ohne die Frankreich nicht funktionieren könnte, ohne die es den Eltern nicht möglich wäre zu arbeiten. Frankreich ist außerdem in der gehobenen Schicht immer noch sehr konservativ, dazu gehört auch die famille nombreuse, mit vielen Kindern, und der unbedingte Glaube an Gott sowie praktizierter Katholizismus. Damit verbindet sich auch ein Wertekonservatismus, eine gewisse Bürgerlichkeit und das Festhalten an Traditionen. Die Pfadfinder gehören auf jeden Fall dazu.
Mit der Skizzierung einer solchen, für unsere Augen fast unerträglichen, katholischen Bürgerlichkeit beginnt Ozon seinen Film. Züchtige Hemd- und Blusenkragen blitzen unter farblosen Cardigans und Anzugjacken hervor, Aktentaschen und das gepflegte Äußere dominieren. Aus der konservativen Werterichtigkeit entsteigt der initiatorische Moment. Melvil Poupaud spielt den gläubigen Vater, der sich nach jahrelangem Schweigen dazu entschließt, den Missbrauch durch Bernard Preynat, den er als Kind erlebt hat, öffentlich zu machen.
Damit tritt er eine Welle los, die sich eigenständig durch die ländliche Region von Lyon und in die niederen Schichten der Gesellschaft fortsetzt. Und hier beginnt die Kraft von Ozon zu wirken. Mühelos wandert der Film von einer Figur zur nächsten, setzt den Fokus zunächst auf einen erzürnten, schlagzeugspielenden Agnostiker, dann auf einen, der in der untersten sozialen Schicht angesiedelt ist und durch den Missbrauch seelisch und physisch versehrt wurde. Es wird viel geredet, verzichtet wird auf jegliche Erzählökonomie oder klassische Dramaturgie: die Debatte, das Fragen, Suchen, Zweifeln und Zögern bestimmen die Handlung.
Gerade in der Länge, der Film ist über zwei Stunden lang, kann sich das in Wucht entfalten. Die Verstörung bleibt nicht aus, das Ausmaß des Falls, das sich nach und nach zeigt, ist ungeheuerlich. Im Wechsel der Figuren verhindert Ozon die Identifikation mit einem Partikularfall, ihm geht es um die sich auftuende Obszönität des sexuell Fehlgeleiteten, und um den Widerstand gegen die Obrigkeiten, den eigenen Wertesystemen zum Trotz. Man hadert mit der eigenen Religiösität und den Grundfesten der Gesellschaft. Die begleitende emotionale Erschütterung, und dies gliedert Grâce à Dieu in das Werk von Ozon ein, ist die Ungeheuerlichkeit des knabenliebenden Paters, ein Angriff auf die homosexuelle Liebe.
So schürft der Film in vielschichtiger Tiefe und ist zugleich Politikum, es wurde schnell gedreht, nicht retrospektiv, der Prozess gegen den durchaus geständigen Bernard Peynart beginnt erst. Am kommenden Mittwoch soll Grâce à Dieu in Frankreich starten, am Montag wird ein Gericht entscheiden, ob es dazu auch kommen wird, der Anwalt des Priesters hat wegen einer möglichen gesellschaftlichen Vorverurteilung eine Verschiebung des Starttermins beantragt. So ist es natürlich auch als Akt der Solidarität und als politische Geste einzuordnen, wenn die Berlinale-Jury um Juliette Binoche jetzt François Ozon mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet hat. Unabhängig davon kann Grâce à Dieu als ein außergewöhnliches Exempel für ein Kino, das den Diskurs mit filmischen Mitteln wagt, allemal hochgehalten werden.